Inken Prohl ist an der Universität Heidelberg Professorin für Religionswissenschaft. Außerdem ist sie Japanologin.
Auswirkungen auf die japanische Religionsgeschichte
Christian Röther: Frau Prohl, hatten die Atombomben Auswirkungen auf die globale Religionsgeschichte?
Inken Prohl: Das ist eine große Frage, die ich nur mit großem Zögern beantworte. Und fast sieht es so aus, als wenn sie kaum Auswirkungen gehabt hätten. Wir haben zwar ein sehr starkes Aufkommen von Friedensbewegung, aber die sind eher politisch als religiös bedingt gewesen. Insofern würde ich sagen: Eher keine Auswirkungen.
Röther: Dann machen wir diese sehr große Frage doch mal ein bisschen kleiner und schauen nur auf Japan. Hatten die Atombombenabwürfe Auswirkungen auf die Religionen in Japan?
Prohl: Die Frage kann man vielleicht zweigeteilt beantworten. Also zunächst einmal: Die ersten Jahre nach den Atombombenabwürfen sind ja nur sehr schwer zugänglich, weil das Meiste unter Zensur steht und die Institutionen in Japan, die buddhistischen Institutionen, die verantwortlich sind und die sich kümmern um Tote und um deren Nachkommen, die waren ja selbst auch alle gestorben. Insofern ist es schwierig, da was zu sagen.
Im Nachgang der Atombombenabwürfe haben diese sicherlich Auswirkungen auf die japanische Religionsgeschichte, weil viele religiöse Organisationen begonnen haben, besonders stark ihre pazifistischen Haltungen zu verbreiten.
Suche nach den Totentafeln in den Trümmern
Röther: Sie haben gerade den Buddhismus schon angesprochen. Wenn wir die Religionslandschaft in Japan so ein bisschen sortieren, dann gibt es den Buddhismus und den Shintoismus als die beiden großen religiösen Strömungen, dazu inzwischen auch viele neue religiöse Bewegungen. Auf die will ich später noch mal kommen. Vielleicht bleiben wir noch mal kurz beim Buddhismus, der ist traditionell zuständig für Tod, Begräbnis, Ahnen und so weiter. Durch die beiden Atombomben starben im Jahr 1945 über 200.000 Menschen und dann in den Folgejahren noch mehr. Da müsste man vermuten - sie haben es gerade schon gesagt -, dass der Buddhismus dann vor allem für die Bewältigung dieser Katastrophe zuständig gewesen ist. Aber wir werden es wahrscheinlich nie genau erfahren, was dann in 1945 und in den Folgejahren buddhistischerseits unternommen und geleistet wurde.
Prohl: Genau, dem würde ich zustimmen. Das werden wir nie so genau erfahren. Und dann sind die buddhistischen Institutionen in Japan - also die zehntausende von Tempeln, die kann man sich vorstellen wie Kleinstunternehmen. Insofern haben wir da kaum gesicherte Daten, und die buddhistischen Schulen insgesamt sind eher so organisiert, dass sie schwerfällig reagieren.
Und das ist auch der Grund, warum wir, wenn wir überhaupt Auswirkungen haben, dann wird das vor allen Dingen aufgegriffen von den neuen religiösen Bewegungen, die sie bereits angesprochen haben. Was wir sicher vermuten können, ist, dass die buddhistischen Tempel - wenn jemand stirbt, dann wendet man sich an den Familientempel, und diese sind dann ja auch durch die Atombombenkatastrophe zerstört worden.
Was wir aber aus späteren großen Unglücken aus Japan kennen, ist: Die Bewältigung durch die buddhistischen Zeremonien ist unheimlich wichtig. Was vor allen Dingen wichtig ist: In Japan hängt religiöse Praxis sehr stark an Materialien, also an Objekten. Und was im Zusammenhang mit dem Tod wichtig ist, sind die Totentafeln und die buddhistischen Hausaltäre. Und was wir finden, wenn es gebrannt hat oder auch im Nachgang zu dem Tsunami oder zu den Erdbeben, dass Menschen verzweifelt die Totentäfelchen ihrer Familie und Überbleibsel von diesen Hausaltären suchen.
Und was eben noch zu dem ganzen unerträglichen und furchtbaren Schrecken der Atombombenabwürfe hinzukommt, dass diese Materialien auch alle zerstört worden sind, weshalb es für Überlebende umso schwieriger ist, das zu bewältigen, weil durch den Verlust dieser Objekte praktisch die Verbindungslinie zur Vergangenheit, zur Familie, zur Identität abgeschnitten worden ist.
"Religion und Staat wurden getrennt"
Röther: Dann schauen wir mal auf die zweite große religiöse Tradition Japans, den Shintoismus, oft eng mit dem Buddhismus verwoben. Hier haben die Atombomben zu gravierenden Veränderungen beigetragen, denn sie markierten in gewisser Weise das Ende des sogenannten Staats-Shintos. Kann man das so sagen, und was hat es mit diesem Staats-Shinto auf sich?
Prohl: Also erstmal haben die Atombombenabwürfe und die Kapitulation Japans sowohl für Buddhismus als auch für Shinto für gravierende Veränderungen gesorgt, weil jegliche Verbindung zwischen Religion und Staat auf Druck der Alliierten getrennt worden ist, sodass – ja, mal ganz platt gesagt - die buddhistischen und die shintoistischen Institutionen waren fortan darauf angewiesen, sich selbst zu unterhalten, also selbst für ihre Kosten zu sorgen und Geld einzunehmen.
Dann haben Sie den Staats-Shinto angesprochen, welches keine Religion ist, sondern eine Ideologie, die allerdings auch Götter kennt. Allerdings war es den Japanern ganz wichtig, dass es keine Religion ist, um weiterhin die Religionsfreiheit vor dem Zweiten Weltkrieg in Japan gewährleisten zu können. Der Staats-Shinto, der verpflichtet alle Untertanen, also alle Japaner und Japanerinnen, an den Kaiser als einen Gott zu glauben und diesem zu gehorchen und für diesen auch ihr Leben zu lassen.
Und diese Ideologie wurde dann mit der Kapitulation und mit der Entsagung der Göttlichkeit durch den japanischen Tenno - diese Ideologie hat damit ein Ende gefunden, ganz richtig. Und das hat für gewaltige Veränderungen in der japanischen religiösen Landschaft gesorgt, weil selbst wenn an den Schreinen und Tempeln eigentlich der Tenno und der japanische Staat verehrt werden sollten, sind Schreine und Tempel - wie überhaupt religiöse Institutionen - immer noch zu allen möglichen anderen Dingen da. Nämlich um sich zu treffen und um kollektive Rituale für diesseitigen und jenseitigen Nutzen abzuhalten.
Und durch diesen Eingriff, durch die Verordnung für eine strikte Trennung von Religion und Staat, wurden diese Traditionen unterbunden, zerstört, stark verändert, transformiert. Und das wiederum hat dann auch dafür gesorgt, dass wir so viele neue religiöse Bewegung in Japan haben.
"Bekenntnis zum Pazifismus"
Röther: Dann lassen Sie uns jetzt endlich mal über die schon öfters angesprochenen neuen religiösen Bewegungen sprechen. Die kommen schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf in Japan, verstärkt dann aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Also haben die Atombomben und hat das Ende des Krieges, die Kapitulation dafür gesorgt, dass die Religionslandschaft in Japan komplexer wurde? So habe ich Sie gerade verstanden.
Prohl: Genau, die wurde komplexer und diverser und pluralistischer. Die neuen religiösen Bewegungen bieten eine Mischung aus buddhistischen und shintoistischen Ritualen, Praktiken, Lehren an. Aber dadurch, dass sie kleiner sind und nicht so große Institutionen haben, sind sie auch in der Lage, schneller auf die Anliegen und Fragen der Akteure, der Japanerinnen und Japaner zu antworten. Sie bieten jede Menge Rituale für diesseitigen Nutzen. Das heißt, um sich göttlicher Wohltaten und göttlicher Unterstützung für die Belange des alltäglichen Lebens zu sichern.
Aber womit die Japaner und Japanerinnen auch klarkommen mussten, war mit der Kapitulation, war mit der rasanten, fortschreitenden Modernisierung. Und sie mussten klarkommen damit nicht nur mit der Kapitulation, sondern auch mit diesem Umstand, dass die Japaner nicht alleine auf der Welt sind. Also mit diesem schwierigen Thema der Internationalisierung, mit der wir uns alle überall auf der Welt im Zuge der Globalisierung so schwertun, dass es da andere gibt, die vermeintlich anders sind in anderen Ländern und Kulturen, von denen wir aber immer abhängiger werden.
Und die neuen religiösen Bewegungen bieten Lehren und Praktiken, um mit dieser Internationalisierung fertig zu werden. Und um zurück zu den Atombombenabwürfen zu kommen und zu dieser Reaktion eines Bekenntnisses zum Pazifismus: Viele der neuen religiösen Bewegungen schreiben sich also einen ausdrücklichen Pazifismus auf die Fahnen. Das hat aber manchmal merkwürdige Ausmaße, weil der Eindruck erweckt wird, als wenn es vielmehr mit den Japanern und Japanerinnen und ihrer Opferrolle durch die Atombombenabwürfe im Zweiten Weltkrieg zu tun hat, als tatsächlich mit den anderen Menschen.
So wird bis heute kritisiert, dass bei der Aufarbeitung des Ultranationalismus der Japaner, der zum Zweiten Weltkrieg geführt hat, wie auch der Opfer der Atombombenabwürfe, dass fast immer nur der Japaner und Japanerinnen und nicht der nicht-japanischen Einwohner Japans und der nicht-japanischen Opfer gedacht wird.
"Zwiespältiger Nachgeschmack"
Prohl: Das ist das eine Problem. Das andere ist: Ich habe an vielen dieser Friedensaktivitäten durch neue religiöse Bewegungen in Japan teilgenommen. Und da kommen dann Leute auf einen zu - da gibt es alle möglichen divisions, young division, old division und Hausfrauen-division - und die sagen dann:
'Ach, wie schön, dass Sie da sind. Sie sind keine Japanerin und kein Japaner. Und was halten Sie denn von unseren pazifistischen Bewegungen? Und ist es nicht toll, dass Japan als erstes und wichtigstes Land dieser Welt so sehr für den Pazifismus einsteht?'
Und da fühlen sich die ausländischen Angesprochenen natürlich vor den Kopf geschlagen. Warum sollen die Japaner jetzt plötzlich pazifistischer sein als der Rest der Welt? Aber das ist ein typisches Kennzeichen des japanischen Kulturalismus oder kulturalistischen Nationalismus, dass immer noch sehr stark im Diskurs vertreten wird eine Einzigartigkeit Japans. Und die Atombombenabwürfe haben zu der Wahrnehmung dieser Einzigartigkeit beigetragen. Insofern hinterlässt das Ganze so ein bisschen einen zwiespältigen Nachgeschmack.
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