Christine Heuer: "Bröckelreaktor" - so nennen viele Deutsche das belgische Atomkraftwerk Tihange, 70 Kilometer entfernt von Aachen. Seit Jahren ist bekannt, dass ein Reaktor-Druckbehälter dort Tausende feine Risse aufweist. Nicht nur in der Region Aachen ist die Angst vor einem Atomunfall deshalb groß. Die nordrhein-westfälische Landesregierung bittet die belgische Regierung seit langem darum, Tihange und auch Doel, das zweite Risiko-AKW auf belgischem Boden, abzuschalten. Aber Brüssel lehnt ab und in Berlin sieht man sich bislang ebenfalls nicht in der Lage, daran etwas zu ändern. Deutschland liefert sogar nach wie vor frische Brennstäbe, mit denen die belgischen Problemreaktoren am Laufen gehalten werden.
Am Wochenende haben sich internationale Atomenergie-Experten in Aachen getroffen und nach ausführlicher Debatte aus Sicherheitsgründen erneut den Daumen über Tihange gesenkt. Einer von ihnen Wolfgang Renneberg, ehemaliger Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium. Mittlerweile spricht er für das von ihm gegründete Büro für Atomsicherheit. Guten Morgen, Herr Renneberg.
Wolfgang Renneberg: Ja, guten Morgen.
"Das schlimmst mögliche, was passieren kann"
Heuer: Sagen Sie uns doch noch einmal eingangs, wie gefährlich Tihange aus Ihrer Sicht ist und warum.
Renneberg: In Deutschland und auch weltweit gibt es ein Sicherheitskonzept für Kernkraftwerke, ein internationales Sicherheitskonzept, und danach müssen bestimmte Störfälle, die man sich vorher überlegt, bestimmte Störfallszenarien von einem Kernkraftwerk beherrscht werden können. Das ist in Tihange nicht der Fall, denn da kann es passieren, dass beispielsweise bei einem kleinen Abriss einer Leitung, die normalerweise kein Problem für das Kernkraftwerk sein sollte, die Sicherheitseinrichtungen dazu führen, dass der Reaktor-Druckbehälter kaputt geht, und das ist das Schlimmstmögliche, was passieren kann.
"Keine Sicherheitssysteme, die das noch auffangen können"
Heuer: Also ein massives Risiko in der Region Aachen und darüber hinaus?
Renneberg: Ja. Das Risiko ist besonders deshalb so groß, weil normalerweise ein Reaktor-Druckbehälter gar nicht kaputt geht, beziehungsweise auch gar nicht kaputt gehen darf. Das ist das oberste Postulat der Sicherheitsphilosophie bei Kernkraftwerken. Denn wenn ein Reaktor-Druckbehälter kaputt geht, gibt es dagegen keine Sicherheitssysteme, die das noch auffangen können.
"Es können sehr große Freisetzungen von Radioaktivität stattfinden"
Heuer: Welches Szenario haben Sie da im Kopf?
Renneberg: Das ist ein Szenario, in dem relativ schnell, innerhalb von wenigen Stunden, sehr große Freisetzungen von Radioaktivität stattfinden können und insofern dann auch die Katastrophenschutzmaßnahmen der Behörden wahrscheinlich zu spät kommen, weil es einfach zu schnell geht.
"Die Diskussion über Risiken wird verweigert"
Heuer: Nun sagen die Betreiber von Tihange, Dutzende unabhängige Experten hätten die Sicherheit des Reaktors bestätigt. Haben die die falschen Experten gefragt?
Renneberg: Die falschen Experten oder die richtigen Experten - das ist natürlich immer die Frage. Es gibt auf der einen Seite diejenigen Experten, die beim Betreiber sind und bei der Aufsicht, und es ist bislang immer so gewesen, dass es unterschiedliche Auffassungen von Experten gibt. Nur das Entscheidende in diesem Prozess ist, dass man über die Risiken sprechen muss, und über die Risiken sprechen die Experten der belgischen Aufsichtsbehörde und auch des Betreibers nicht. Das ist das große Problem. Dabei sind diese Risiken auf dem Tisch, aber die Diskussion darüber wird verweigert.
Brennelemente-Lieferung: "Wir könnten damit aufhören"
Heuer: Und trotzdem liefern wir, liefert Deutschland frische Brennstäbe in die belgischen Atomkraftwerke, also ja auch nach Doel. Warum hören wir damit nicht auf?
Renneberg: Wir könnten aufhören. Wir könnten damit aufhören, weil die Rechtsgrundlagen im Atomgesetz gegeben sind. Auch hier geht es dann um eine verschiedene Auffassung von dem, was innere Sicherheit ist, denn wenn die innere Sicherheit gefährdet wäre, dann kann man natürlich auch diese Brennelemente-Lieferung stoppen. Das Bundesumweltministerium geht im Augenblick davon aus, dass eine große Katastrophe die innere Sicherheit nicht gefährdet. Das ist nach meiner Auffassung grob falsch.
Bundesregierung sollte Argumente für Lieferstopp betrachten
Heuer: Was erwarten Sie denn von der neuen Bundesumweltministerin, von Svenja Schulze?
Renneberg: Ich fände es angemessen, in dieser Situation, die ja mittlerweile nun für alle bekannt ist und die auch das Bundesumweltministerium kennt, zumindest wieder in ein gemeinsames Gespräch einzusteigen und auch damit möglich zu machen, dass die Bundesregierung die Argumente zur Kenntnis nimmt, die meiner Ansicht nach zwingend dazu führen, dass diese Brennelemente-Lieferung eingestellt werden kann und auch sollte.
Hoffnung auf den starken Einfluss Nordrhein-Westfalens
Heuer: Nun macht sich ja in der deutschen Politik unter anderem der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet stark für die Abschaltung von Tihange. Er ist ja auch CDU-Mitglied. Er hat Angela Merkel in der Sache einen Brief geschrieben. Wir wissen nicht, ob sie bisher geantwortet hat. Hoffen Sie da oder glauben Sie an ein Umdenken in der Bundesregierung? Gehen Sie davon aus, dass da härter durchgegriffen wird in Zukunft?
Renneberg: Ich bin da natürlich auch kein Politastrologe. Das kann ich schwer einschätzen.
Heuer: Aber Sie haben ja gute Kontakte.
Renneberg: Ja. Ich glaube, dass die neue Zusammensetzung der Bundesregierung und auch der starke Einfluss NRWs natürlich etwas bewirken können. Da hoffe ich auch im Interesse der Bevölkerung der Region darauf.
Potentiell gefährliche Brennelemente aus Deutschland
Heuer: Wir haben über die Transporte gesprochen. Das wäre der eine Weg, das Futter für Tihange und Doel zu sperren. Ein anderer Vorschlag geht dahin, dass man die deutschen Atomfabriken in Gronau und Lingen stilllegt, also die Fabriken, in denen diese Brennstäbe hergestellt werden. Das wäre sicher noch schwieriger, oder?
Renneberg: Das ist eine Frage der dahinter stehenden wirtschaftlichen Interessen, und da gibt es immer ganz große Probleme. Selbstverständlich ist das noch ein Relikt aus der Zeit, in der auch in Deutschland noch auf die Kernenergie gesetzt wurde, und letztlich wäre es eine sehr konsequente Maßnahme, auch dieses Werk zu schließen. Nur sollte man jetzt nicht glauben, dass dadurch dann das Problem in Tihange gelöst wäre. Sicherlich wäre es für Tihange und Doel auch möglich, woanders her Brennelemente zu bekommen. Es ist aber trotzdem meiner Ansicht nach sehr schwer vorstellbar, dass Brennelemente, die dann letztlich die Radioaktivität erzeugen, die später mal gefährlich werden könnte, dann gerade aus Deutschland kommt.
Jodtabletten-Verteilung "sehr nützlich"
Heuer: Nun laufen die beiden AKW Tihange und Doel weiter. Belgien verteilt Jodtabletten an Bürger für den Fall des Falles. Was bringen solche Medikamente?
Renneberg: Im Fall des Falles sind solche Medikamente sehr nützlich, weil sie die Aufnahme des radioaktiven Jods begrenzen können, und zwar sehr deutlich begrenzen können und damit die Gefahr des Schilddrüsenkrebs als eine der Hauptfolgen von solchen Unfällen stark reduzieren können.
Heuer: Aber das ist ja so ein bisschen mit Spatzen auf Kanonen schießen?
Renneberg: Ja, das ist sicherlich keine Maßnahme, um das Übel an der Wurzel zu packen. Das ist sicherlich richtig. Aber es ist trotzdem eine sinnvolle Maßnahme.
10-20 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass Region "unbewohnbar wird"
Heuer: Wenn etwas passiert in Tihange, heißt das dann, dass Aachen und die Umgebung unbewohnbar werden?
Renneberg: Das kann der Fall sein und nach den Berechnungen, die gemacht worden sind, und man dabei dann die Wetterlagen berücksichtigt, gibt es eine Wahrscheinlichkeit von etwa 10 bis 20 Prozent für solch einen Fall, dass Aachen und die Region so viel Radioaktivität abbekommen, dass es unbewohnbar wird.
Heuer: Was für Aussichten – Wolfgang Renneberg, Leiter des von ihm gegründeten Büros für Atomsicherheit. Er war früher im Bundesumweltministerium zuständig für Reaktorsicherheit. Herr Renneberg, haben Sie Dank für das Gespräch heute früh.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.