In den Kasinos blinken die Glücksspielautomaten. LED-Monitore, groß wie Gebäudefassaden, überstrahlen die Morgensonne. Vor den Wassergärten der Nobelhotels mit ihrem bombastisch choreografierten Springbrunnenballett drängeln sich Touristen. Der "Strip", die legendäre Luxuspromenade von Las Vegas, ist ein Erlebnispark in Form einer Straße. Hier wird mit Wohlstand und Abenteuerlust geprotzt, hier wird gezockt und geheiratet. Las Vegas, das ist die Stadt, die ihre Gäste vergessen lässt, wo sie sind: mitten in der Wüste von Nevada. In einer Metropole, die ihren Komfort einer vulkanischen Landschaft abtrotzt - durch den Import von ungeheuren Mengen an Wasser und Strom. In die Flamingo Road, eine Ausfahrtsstraße, die direkt in die Wüste führt, verschlägt es jedoch nur Wenige. Hier bewirbt ein riesiger Museumskomplex mit bunten Plakaten sein Thema: "Atomic Las Vegas". Es ist der einzige Ort im gesamten Touristenzentrum, der daran erinnert, dass die Vergnügungsmetropole keineswegs nur mit Elvis Presley und der Cosa-Nostra-Geschichte geschrieben hat. Die morbide Attraktion der 50er-Jahre waren 119 überirdische Atombombentests, die über den Hoteldachgärten ihre Atompilze aufsteigen ließen. Später ließen an die 1000 weitere unterirdische Atomtests die Erde unter den Hochzeitskapellen erbeben. Und in jüngerer Vergangenheit hat das geplante Atommüllendlager Yucca Mountain Schlagzeilen geschrieben, das ebenfalls auf dem Atomtestgelände hätte gebaut werden sollen. US-Präsident Barack Obama aber hat das umstrittene Vorhaben vor zwei Jahren gestoppt.
Vor dem Hauptportal des Atomtestmuseums fährt ein Reisebus vor: Wer die wochenlangen Sicherheitschecks nicht scheut, kann an Tagestouren teilnehmen, die mitten in das verstrahlte Sperrgebiet des Atomtestgeländes führen. Eine Gruppe Friedensaktivisten empfängt die Ausflügler mit Flugblättern.
"Sie nehmen doch an dieser Tour teil, nicht? Wir gehören selbst nicht dazu, aber wir haben sie selbst einige Male mitgemacht. Wir möchten Ihnen hier ein Informationsblatt geben und Sie um Ihren Kommentar dazu bitten. Es geht um Ihre Meinung zu den Umweltfolgen, und da gibt es ja ein paar Diskussionspunkte."
Jim Haber leitet eine Friedensgruppe, die den Namen "Nevada Desert Experience" trägt. Sie ist Teil eines USA-weiten Netzwerks von Bürgerinitiativen, das die Aktivitäten in staatlichen Nuklearkomplexen wie dem Nevada Testgelände, Los Alamos oder Hanford kritisch begleitet.
"In einigen dieser Dokumente können Sie sehen, dass das Budget, das bei uns für Nuklearwaffen ausgegeben wird, eben nicht kleiner wird. Stattdessen gibt es ein neues Wettrüsten - mit Drohnen und Atombomben. Außerdem sollten Sie erfahren, dass unser Präsident der Atomkraftnutzung nicht negativ gegenübersteht."
Seit einigen Jahren bekommt Habers kleiner Friedensverein außergewöhnlich viel Zulauf: Yucca Mountain liegt keine drei Autostunden nördlich von Las Vegas. Die Nähe zum geplanten Endlager hat nicht nur den Protest der Tourismusindustrie entfacht, sondern auch viele Bürger von Las Vegas aus ihrer Gleichgültigkeit geweckt. Darüber hinaus bekommen die Aktivisten um Haber seit Kurzem viel Unterstützung von der Oppositionsbewegung "Occupy Las Vegas", die in den Hinterhöfen von Kasinos und Stripklubs ihre Zeltstädte errichtet hat. In Las Vegas, das hofft jetzt die Friedensgruppe vor dem Atomtestmuseum, könnte wahr werden, was in anderen US-Städten bislang undenkbar ist. Eine Anti-Atom-Bewegung könnte sich formieren - mit dem Ziel Atomausstieg und dem Vorbild Deutschland.
"Wir bewundern Sie dafür. Ich wünschte, wir würden dasselbe tun. Mit unseren Atombomben haben wir doch die Welt in Angst und Schrecken versetzt."
Auch im Atomtestmuseum selbst hat die kleine Protestaktion Aufmerksamkeit erregt. Museumsdirektor Alan Palmer eilt durch die Flure des Verwaltungstrakts, und benachrichtigt seine Mitarbeiter.
"Wir hatten ein Protestmeeting hier, Jim Haber und ein paar Leute von der Occupy-Bewegung. Das ging gegen Atomwaffen. Sie haben ein paar Flugblätter verteilt. Die Information über die Aktion hatten sie gestern schon ins Internet gestellt. Naja, für unsere Security ist es eine gute Übung. Und es waren nur so um die 30 Leute, keine Tausende, Gott sei Dank."
Aus dem Fenster seines Bürozimmers blickt der Museumsdirektor auf den Parkplatz - dorthin, wo das Aktivisten-Grüppchen sich gerade zerstreut. Was von hier betrachtet aussieht wie der Protest von Weltverbesserern, ist in Wirklichkeit seit Präsident Obamas Amtsantritt die neue Linie der amerikanischen Verteidigungs- und Außenpolitik: "Global Zero" - die Welt ohne Atomwaffen. Palmer aber hat sein ganzes Berufsleben lang im Dienste der nuklearen Abschreckung gestanden. In jungen Jahren war er Kampfpilot bei der US Air Force. Trainiert hat er auf dem legendären Luftwaffenübungsgelände Area 51, das ebenfalls unweit vom Atomtestgelände gelegen ist. Heute gibt Palmer den Ton vor, wie im Atomtestmuseum Rückschau gehalten wird auf dieses heikle Kapitel amerikanischer Wissenschaftsgeschichte. Und tatsächlich kann man von ihm viel Nachdenkliches hören über das globale Sicherheitsrisiko Atombombe. Dass jedoch ein Land wie die USA jemals auf ein erprobtes Kernwaffenarsenal verzichten kann, das glaubt er bis heute nicht.
"Ich bin ein Kalter Krieger, ich war an der nuklearen Frontlinie aktiv. Ich habe auf nuklearer Munition gesessen. Ich habe mit den Waffen gearbeitet, die sie hier in der Wüste getestet haben, um damit die Sowjetunion anzugreifen, wenn das einmal notwendig geworden wäre. Trotzdem hoffe ich, dass wir nie gezwungen sein werden, diese Atombombentests wieder aufzunehmen müssen. Aber sag niemals nie. Wenn plötzlich ein Land wie der Iran mit einem hoch entwickelten System von Waffen oder Raketenträgern auftrumpfen würde, dann würden wir dazu gezwungen sein."
Unten, im Museum, leitet ein schmaler Gang den Besucher wie mit einem Zeitstrahl durch ein halbes Jahrhundert Atombombentests. In abgedunkelten Nebenräumen laufen Propagandafilme aus den 60er-Jahren - das Gleichgewicht des Schreckens, kindgerecht aufbereitet mit Zeichentrickfiguren und Animation.
"Ein radioaktives Atom ist wie eine Mausefalle, die Energie enthält. Um die Kettenreaktion zu beginnen, brauchen wir ein Neutron.
Schaut her:
... So funktioniert eine atomare Kettenreaktion.
Ein einziges Neutron genügt, um sie zu starten.
BUMMMMM!"
Touristen in Bermudashorts, Eltern mit Kindern an der Hand, Studenten mit Notizblöcken schlendern vorbei an einer denkwürdigen Fotogalerie: Atompilze in Schwarz-Weiß und in Farbe - tellerförmig, kuppelartig oder hochgeschossen. Darunter, auf Täfelchen, ihre Namen: Teapot, Musketeer, Nougat. Wer besonders interessiert ist, der kann sich von ehemaligen Mitarbeitern des Atomtestgeländes durch die Ausstellung führen lassen. Es sind Ehrenamtliche wie der Rentner Laten O'Neill, der in den 50er-Jahren einer der ersten Strahlenbeauftragten für das Nevada Testgelände war.
"Ich habe fünf oberirdische Atombombentests miterlebt. Meine persönliche Meinung ist: Sie waren wunderschön. Diese Farbenspiele in Rot- und Gelbtönen. Das Feuer und dieser Lärm, wenn die Druckwelle dich erreicht. Das sind Kräfte, stark genug, um Häuser umzuwerfen. Ich selbst war so nah, dass ich gegen meinen Wagen geschleudert wurde. Ich wusste ja, dass die Schockwelle kommt - aber nicht, wann. Man sieht sie nicht kommen, so schnell ist sie da."
Stehpults mit kleinen Monitoren zeigen historische Filmaufnahmen aus dem Inneren der Detonationen: Lichtblitz, Druckwelle, pulverisierte Häuserfassaden und -Schaufensterpuppen. Die Ablaufgeschwindigkeit der Filme kann von Hand eingestellt werden, sodass sich jedes Detail in beliebiger Genauigkeit studieren lässt.
"Das hier mögen die Kinder am liebsten: Hier sehen Sie die Schockwelle durch die Wüste rasen. Diese Brücke hier wird kaum erschüttert. Aber achten Sie auf die Nadelbäume. Hier ist erst der Lichtblitz, und hier sehen Sie die Nadeln auflodern in der Hitzewelle. Der Wind weht in diese Richtung. Die Schockwelle kommt aus der anderen Richtung und bahnt sich ihren Weg. So, hier ist sie."
Das Highlight der Ausstellung aber ist eine achtminütige Filmdokumentation, ohne deren Besuch O'Neill niemanden aus dem Museum entlässt. Sie beginnt mit einem Spezialeffekt, der im Dunkel des Vorführraums seine Wirkung nicht verfehlt. Wie von einer Schockwelle geschüttelt, vibrieren plötzlich die Sitzbänke. Sie versetzen den Zuschauer in die Rolle der Atomtesttouristen aus den 50er-Jahren, die damals aus allen Teilen der USA nach Nevada anreisten, um - platziert auf speziellen Tribünen und ausgestattet mit Spezial-Sonnenbrillen - das Spektakel am eigenen Leib zu erleben. Dann steigt vorne, auf der Leinwand, ein Atompilz empor.
In den Wohngebieten am Rande von Las Vegas lässt das Wüstenklima in den gepflegten Vorgärten Distelgewächse und Kakteen sprießen. Hier leben Judy Tricher und Steve Frishman. Drinnen im Haus ziert eine kleine Fotogalerie die Wohnzimmerwand, die vor einigen Jahren während eines Deutschlandaufenthalts entstanden ist: Sie zeigt die beiden langjährigen Atomgegner im Wendland, während der Castor-Demonstrationen neben dem geplanten Endlager in Gorleben.
"Ich war begeistert von der Kreativität des Protests und von der Menge der Leute. Überall, wo wir vorbeikamen, gab es kleine Straßentheater-Gruppen. Und dann gab diese Kreuze, Symbole des Anti-Atom-Protests - so viele, dass ich dachte, ich bin auf einem Friedhof. Die vielen Bauern, die mit ihren Traktoren Blockaden bauten. Es hat uns sehr viel Spaß gemacht, so etwas an diesem Ort zu finden, der so anders ist als Nevada."
Gorleben und Yucca Mountain - die beiden Endlager-Geschichten weisen erstaunliche Parallelen auf. Beide Standorte liegen in abgelegenen Regionen, in denen niemand mit dem politischen Widerstand der Anwohner rechnete - und in beiden Fällen hat sich das als folgenschwere Fehleinschätzung erwiesen. Judy und Steve engagieren sich seit den 80er-Jahren in den verschiedensten Initiativen und Kommissionen, die das Ziel hatten, ein Atommüllendlager nahe Las Vegas zu verhindern. Dass die US-Regierung Mitte der 80er-Jahre ausgerechnet das poröse Vulkangestein von Yucca Mountain als Standort auswählte, hatte eindeutig politische Gründe, glaubt Steve.
"Sie haben geglaubt, weil Yucca Mountain doch so nahe an dem Nevada Testgelände gelegen ist, dass der Bundesstaat Nevada das Endlager begrüßen würde. Denn in der Hochzeit der unterirdischen Atomtests waren dort an die 12.000 Mitarbeiter beschäftigt. Damals hatten wir in Las Vegas noch nicht so viele große Hotelanlagen wie heute. Das Testgelände war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und einer der größten Arbeitgeber."
Doch ein Atommüllendlager schafft keine langfristigen Arbeitsplätze. Steve Frishman, der als Berater des Bundesstaates Nevada die geologische Endlager-Tauglichkeit des Gebirgszugs Yucca Mountain untersuchen sollte, kam zu einer niederschmetternden Risikoeinschätzung. Dieser Bericht löste in Nevada mehr Beunruhigung aus als die Atombombentests: Regionalpolitiker, Vertreter aus Wirtschaft und Tourismusindustrie und ein Großteil der Bevölkerung gingen gegen die Atompolitik der US-Regierung auf die Barrikaden.
"So lange hatten wir gegen die Atomtests gekämpft. Und plötzlich kommt dieselbe Behörde daher, das Energieministerium, und sagt: 'Wir haben hier ein neues, wunderbares Projekt: Ganz in der Nähe des Testgeländes soll der hochradioaktive Atommüll des ganzen Landes gelagert werden - aber das wird absolut sicher sein'. Dabei liefen in Utah noch die Gerichtsprozesse, weil die Menschen dort starben. Da gibt es erschütternde Todesraten wegen Krebs. Und die Farmer haben riesige Mengen ihres Viehs verloren. Diese Leute haben wir unterstützt. Und dann sagen uns die Leute vom Ministerium: Ja, damals sind schreckliche Fehler gemacht worden, heute würden wir so etwas niemals wiederholen - das können Sie uns glauben. Nun, wir haben es nicht geglaubt."
Die Wüste von Nevada beginnt direkt hinter den Toren der Stadt. Schnurgerade verläuft die Landstraße durch eine sandige Ebene voll dornigen Gestrüpps. In den öffentlich zugänglichen Wüstengebieten organisiert Jim Haber mit seiner Lebensgefährtin Mary-Lou Anderson Friedensmärsche. In ihren Peacecamps, erzählen sie, versammeln sich nicht selten über 1000 Gleichgesinnte. Am Horizont erheben sich die bizarren Hügelkuppen einer vulkanischen Landschaft. Irgendwo dahinter, den Blicken der Autofahrer verschlossen, liegt Yucca Mountain - jenes Endlager, das vermutlich nie in Betrieb gehen wird. Es gibt Dutzende Krater von Atombombendetonationen, die Wüste ist untertunnelt mit den radioaktiv verstrahlten Schächten aus der Zeit der unterirdischen Tests.
"Dort gibt es Regionen, von denen ist offiziell bekannt, dass die radioaktive Belastung sehr hoch ist. Aber die Einzigen, die darüber etwas erzählen, sind die Mitarbeiter des Testgeländes. Aber von denen wollen viele selbst nur zu gern glauben, dass alles ganz sicher und sauber ist, dass niemand krank werden wird. Es ist schwierig, an verlässliche Informationen heranzukommen."
Anderthalb Autostunden von Las Vegas entfernt steht eine Tafel am Straßenrand: Hier beginnt das Nevada Atomtestgelände. Ohne Zugangsfahrterlaubnis geht es nicht weiter. Bis heute, heißt es, wird auf dem Atomtestgelände mit Nuklearmunition experimentiert - doch das weiß niemand so genau. Die Aktivsten entrollen ihre Protestplakate. "No Nukes - no Drones", steht dort: "Keine Atombomben, keine Drohnen". Und: "Honk for Peace" - "Hupe, wenn du für den Frieden bist." Mit dem Finger deutet Jim auf ein abgesperrtes Gelände, das von Ferne zu sehen ist. Es wird von Soldaten bewacht: ein Übungsplatz für Drohnen - für jene unbemannten Flugobjekte, von denen es heißt, dass sie einmal das wichtigste Militärgerät in den Kriegen der Zukunft sein werden.
"Wir sehen die Drohnen hier manchmal Stürzflüge trainieren. Sie ziehen ihre Kreise, stoßen herunter, steigen wieder auf. Von hier aus werden auch die Drohnen gesteuert, die gerade am anderen Ende der Welt im Einsatz sind. In dieser Technologie gibt es jetzt ein internationales Wettrüsten. Unser Land steckt da eine Menge Geld hinein. Die US-Regierung hat sich gerade mit Waffenfabrikanten getroffen, dabei ging es um Drohnen, die mit Nuklearmunition bewaffnet werden können."
Global Zero? Seine Vision von der atomwaffenfreien Welt mag Präsident Barack Obama im Ausland viel Sympathie eingebracht haben. Eine Autofahrt durch die Wüste von Nevada dagegen zeigt ein Land, das mit der Doktrin der nuklearen Abschreckung noch lange nicht abgeschlossen hat. Und so werden Jim Haber und die Friedensaktivisten weiter mit ihren Protestschildern an den Straßen der Wüste von Nevada stehen. Und viele der Autos, die vorüberfahren, hupen für den Frieden.
Vor dem Hauptportal des Atomtestmuseums fährt ein Reisebus vor: Wer die wochenlangen Sicherheitschecks nicht scheut, kann an Tagestouren teilnehmen, die mitten in das verstrahlte Sperrgebiet des Atomtestgeländes führen. Eine Gruppe Friedensaktivisten empfängt die Ausflügler mit Flugblättern.
"Sie nehmen doch an dieser Tour teil, nicht? Wir gehören selbst nicht dazu, aber wir haben sie selbst einige Male mitgemacht. Wir möchten Ihnen hier ein Informationsblatt geben und Sie um Ihren Kommentar dazu bitten. Es geht um Ihre Meinung zu den Umweltfolgen, und da gibt es ja ein paar Diskussionspunkte."
Jim Haber leitet eine Friedensgruppe, die den Namen "Nevada Desert Experience" trägt. Sie ist Teil eines USA-weiten Netzwerks von Bürgerinitiativen, das die Aktivitäten in staatlichen Nuklearkomplexen wie dem Nevada Testgelände, Los Alamos oder Hanford kritisch begleitet.
"In einigen dieser Dokumente können Sie sehen, dass das Budget, das bei uns für Nuklearwaffen ausgegeben wird, eben nicht kleiner wird. Stattdessen gibt es ein neues Wettrüsten - mit Drohnen und Atombomben. Außerdem sollten Sie erfahren, dass unser Präsident der Atomkraftnutzung nicht negativ gegenübersteht."
Seit einigen Jahren bekommt Habers kleiner Friedensverein außergewöhnlich viel Zulauf: Yucca Mountain liegt keine drei Autostunden nördlich von Las Vegas. Die Nähe zum geplanten Endlager hat nicht nur den Protest der Tourismusindustrie entfacht, sondern auch viele Bürger von Las Vegas aus ihrer Gleichgültigkeit geweckt. Darüber hinaus bekommen die Aktivisten um Haber seit Kurzem viel Unterstützung von der Oppositionsbewegung "Occupy Las Vegas", die in den Hinterhöfen von Kasinos und Stripklubs ihre Zeltstädte errichtet hat. In Las Vegas, das hofft jetzt die Friedensgruppe vor dem Atomtestmuseum, könnte wahr werden, was in anderen US-Städten bislang undenkbar ist. Eine Anti-Atom-Bewegung könnte sich formieren - mit dem Ziel Atomausstieg und dem Vorbild Deutschland.
"Wir bewundern Sie dafür. Ich wünschte, wir würden dasselbe tun. Mit unseren Atombomben haben wir doch die Welt in Angst und Schrecken versetzt."
Auch im Atomtestmuseum selbst hat die kleine Protestaktion Aufmerksamkeit erregt. Museumsdirektor Alan Palmer eilt durch die Flure des Verwaltungstrakts, und benachrichtigt seine Mitarbeiter.
"Wir hatten ein Protestmeeting hier, Jim Haber und ein paar Leute von der Occupy-Bewegung. Das ging gegen Atomwaffen. Sie haben ein paar Flugblätter verteilt. Die Information über die Aktion hatten sie gestern schon ins Internet gestellt. Naja, für unsere Security ist es eine gute Übung. Und es waren nur so um die 30 Leute, keine Tausende, Gott sei Dank."
Aus dem Fenster seines Bürozimmers blickt der Museumsdirektor auf den Parkplatz - dorthin, wo das Aktivisten-Grüppchen sich gerade zerstreut. Was von hier betrachtet aussieht wie der Protest von Weltverbesserern, ist in Wirklichkeit seit Präsident Obamas Amtsantritt die neue Linie der amerikanischen Verteidigungs- und Außenpolitik: "Global Zero" - die Welt ohne Atomwaffen. Palmer aber hat sein ganzes Berufsleben lang im Dienste der nuklearen Abschreckung gestanden. In jungen Jahren war er Kampfpilot bei der US Air Force. Trainiert hat er auf dem legendären Luftwaffenübungsgelände Area 51, das ebenfalls unweit vom Atomtestgelände gelegen ist. Heute gibt Palmer den Ton vor, wie im Atomtestmuseum Rückschau gehalten wird auf dieses heikle Kapitel amerikanischer Wissenschaftsgeschichte. Und tatsächlich kann man von ihm viel Nachdenkliches hören über das globale Sicherheitsrisiko Atombombe. Dass jedoch ein Land wie die USA jemals auf ein erprobtes Kernwaffenarsenal verzichten kann, das glaubt er bis heute nicht.
"Ich bin ein Kalter Krieger, ich war an der nuklearen Frontlinie aktiv. Ich habe auf nuklearer Munition gesessen. Ich habe mit den Waffen gearbeitet, die sie hier in der Wüste getestet haben, um damit die Sowjetunion anzugreifen, wenn das einmal notwendig geworden wäre. Trotzdem hoffe ich, dass wir nie gezwungen sein werden, diese Atombombentests wieder aufzunehmen müssen. Aber sag niemals nie. Wenn plötzlich ein Land wie der Iran mit einem hoch entwickelten System von Waffen oder Raketenträgern auftrumpfen würde, dann würden wir dazu gezwungen sein."
Unten, im Museum, leitet ein schmaler Gang den Besucher wie mit einem Zeitstrahl durch ein halbes Jahrhundert Atombombentests. In abgedunkelten Nebenräumen laufen Propagandafilme aus den 60er-Jahren - das Gleichgewicht des Schreckens, kindgerecht aufbereitet mit Zeichentrickfiguren und Animation.
"Ein radioaktives Atom ist wie eine Mausefalle, die Energie enthält. Um die Kettenreaktion zu beginnen, brauchen wir ein Neutron.
Schaut her:
... So funktioniert eine atomare Kettenreaktion.
Ein einziges Neutron genügt, um sie zu starten.
BUMMMMM!"
Touristen in Bermudashorts, Eltern mit Kindern an der Hand, Studenten mit Notizblöcken schlendern vorbei an einer denkwürdigen Fotogalerie: Atompilze in Schwarz-Weiß und in Farbe - tellerförmig, kuppelartig oder hochgeschossen. Darunter, auf Täfelchen, ihre Namen: Teapot, Musketeer, Nougat. Wer besonders interessiert ist, der kann sich von ehemaligen Mitarbeitern des Atomtestgeländes durch die Ausstellung führen lassen. Es sind Ehrenamtliche wie der Rentner Laten O'Neill, der in den 50er-Jahren einer der ersten Strahlenbeauftragten für das Nevada Testgelände war.
"Ich habe fünf oberirdische Atombombentests miterlebt. Meine persönliche Meinung ist: Sie waren wunderschön. Diese Farbenspiele in Rot- und Gelbtönen. Das Feuer und dieser Lärm, wenn die Druckwelle dich erreicht. Das sind Kräfte, stark genug, um Häuser umzuwerfen. Ich selbst war so nah, dass ich gegen meinen Wagen geschleudert wurde. Ich wusste ja, dass die Schockwelle kommt - aber nicht, wann. Man sieht sie nicht kommen, so schnell ist sie da."
Stehpults mit kleinen Monitoren zeigen historische Filmaufnahmen aus dem Inneren der Detonationen: Lichtblitz, Druckwelle, pulverisierte Häuserfassaden und -Schaufensterpuppen. Die Ablaufgeschwindigkeit der Filme kann von Hand eingestellt werden, sodass sich jedes Detail in beliebiger Genauigkeit studieren lässt.
"Das hier mögen die Kinder am liebsten: Hier sehen Sie die Schockwelle durch die Wüste rasen. Diese Brücke hier wird kaum erschüttert. Aber achten Sie auf die Nadelbäume. Hier ist erst der Lichtblitz, und hier sehen Sie die Nadeln auflodern in der Hitzewelle. Der Wind weht in diese Richtung. Die Schockwelle kommt aus der anderen Richtung und bahnt sich ihren Weg. So, hier ist sie."
Das Highlight der Ausstellung aber ist eine achtminütige Filmdokumentation, ohne deren Besuch O'Neill niemanden aus dem Museum entlässt. Sie beginnt mit einem Spezialeffekt, der im Dunkel des Vorführraums seine Wirkung nicht verfehlt. Wie von einer Schockwelle geschüttelt, vibrieren plötzlich die Sitzbänke. Sie versetzen den Zuschauer in die Rolle der Atomtesttouristen aus den 50er-Jahren, die damals aus allen Teilen der USA nach Nevada anreisten, um - platziert auf speziellen Tribünen und ausgestattet mit Spezial-Sonnenbrillen - das Spektakel am eigenen Leib zu erleben. Dann steigt vorne, auf der Leinwand, ein Atompilz empor.
In den Wohngebieten am Rande von Las Vegas lässt das Wüstenklima in den gepflegten Vorgärten Distelgewächse und Kakteen sprießen. Hier leben Judy Tricher und Steve Frishman. Drinnen im Haus ziert eine kleine Fotogalerie die Wohnzimmerwand, die vor einigen Jahren während eines Deutschlandaufenthalts entstanden ist: Sie zeigt die beiden langjährigen Atomgegner im Wendland, während der Castor-Demonstrationen neben dem geplanten Endlager in Gorleben.
"Ich war begeistert von der Kreativität des Protests und von der Menge der Leute. Überall, wo wir vorbeikamen, gab es kleine Straßentheater-Gruppen. Und dann gab diese Kreuze, Symbole des Anti-Atom-Protests - so viele, dass ich dachte, ich bin auf einem Friedhof. Die vielen Bauern, die mit ihren Traktoren Blockaden bauten. Es hat uns sehr viel Spaß gemacht, so etwas an diesem Ort zu finden, der so anders ist als Nevada."
Gorleben und Yucca Mountain - die beiden Endlager-Geschichten weisen erstaunliche Parallelen auf. Beide Standorte liegen in abgelegenen Regionen, in denen niemand mit dem politischen Widerstand der Anwohner rechnete - und in beiden Fällen hat sich das als folgenschwere Fehleinschätzung erwiesen. Judy und Steve engagieren sich seit den 80er-Jahren in den verschiedensten Initiativen und Kommissionen, die das Ziel hatten, ein Atommüllendlager nahe Las Vegas zu verhindern. Dass die US-Regierung Mitte der 80er-Jahre ausgerechnet das poröse Vulkangestein von Yucca Mountain als Standort auswählte, hatte eindeutig politische Gründe, glaubt Steve.
"Sie haben geglaubt, weil Yucca Mountain doch so nahe an dem Nevada Testgelände gelegen ist, dass der Bundesstaat Nevada das Endlager begrüßen würde. Denn in der Hochzeit der unterirdischen Atomtests waren dort an die 12.000 Mitarbeiter beschäftigt. Damals hatten wir in Las Vegas noch nicht so viele große Hotelanlagen wie heute. Das Testgelände war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und einer der größten Arbeitgeber."
Doch ein Atommüllendlager schafft keine langfristigen Arbeitsplätze. Steve Frishman, der als Berater des Bundesstaates Nevada die geologische Endlager-Tauglichkeit des Gebirgszugs Yucca Mountain untersuchen sollte, kam zu einer niederschmetternden Risikoeinschätzung. Dieser Bericht löste in Nevada mehr Beunruhigung aus als die Atombombentests: Regionalpolitiker, Vertreter aus Wirtschaft und Tourismusindustrie und ein Großteil der Bevölkerung gingen gegen die Atompolitik der US-Regierung auf die Barrikaden.
"So lange hatten wir gegen die Atomtests gekämpft. Und plötzlich kommt dieselbe Behörde daher, das Energieministerium, und sagt: 'Wir haben hier ein neues, wunderbares Projekt: Ganz in der Nähe des Testgeländes soll der hochradioaktive Atommüll des ganzen Landes gelagert werden - aber das wird absolut sicher sein'. Dabei liefen in Utah noch die Gerichtsprozesse, weil die Menschen dort starben. Da gibt es erschütternde Todesraten wegen Krebs. Und die Farmer haben riesige Mengen ihres Viehs verloren. Diese Leute haben wir unterstützt. Und dann sagen uns die Leute vom Ministerium: Ja, damals sind schreckliche Fehler gemacht worden, heute würden wir so etwas niemals wiederholen - das können Sie uns glauben. Nun, wir haben es nicht geglaubt."
Die Wüste von Nevada beginnt direkt hinter den Toren der Stadt. Schnurgerade verläuft die Landstraße durch eine sandige Ebene voll dornigen Gestrüpps. In den öffentlich zugänglichen Wüstengebieten organisiert Jim Haber mit seiner Lebensgefährtin Mary-Lou Anderson Friedensmärsche. In ihren Peacecamps, erzählen sie, versammeln sich nicht selten über 1000 Gleichgesinnte. Am Horizont erheben sich die bizarren Hügelkuppen einer vulkanischen Landschaft. Irgendwo dahinter, den Blicken der Autofahrer verschlossen, liegt Yucca Mountain - jenes Endlager, das vermutlich nie in Betrieb gehen wird. Es gibt Dutzende Krater von Atombombendetonationen, die Wüste ist untertunnelt mit den radioaktiv verstrahlten Schächten aus der Zeit der unterirdischen Tests.
"Dort gibt es Regionen, von denen ist offiziell bekannt, dass die radioaktive Belastung sehr hoch ist. Aber die Einzigen, die darüber etwas erzählen, sind die Mitarbeiter des Testgeländes. Aber von denen wollen viele selbst nur zu gern glauben, dass alles ganz sicher und sauber ist, dass niemand krank werden wird. Es ist schwierig, an verlässliche Informationen heranzukommen."
Anderthalb Autostunden von Las Vegas entfernt steht eine Tafel am Straßenrand: Hier beginnt das Nevada Atomtestgelände. Ohne Zugangsfahrterlaubnis geht es nicht weiter. Bis heute, heißt es, wird auf dem Atomtestgelände mit Nuklearmunition experimentiert - doch das weiß niemand so genau. Die Aktivsten entrollen ihre Protestplakate. "No Nukes - no Drones", steht dort: "Keine Atombomben, keine Drohnen". Und: "Honk for Peace" - "Hupe, wenn du für den Frieden bist." Mit dem Finger deutet Jim auf ein abgesperrtes Gelände, das von Ferne zu sehen ist. Es wird von Soldaten bewacht: ein Übungsplatz für Drohnen - für jene unbemannten Flugobjekte, von denen es heißt, dass sie einmal das wichtigste Militärgerät in den Kriegen der Zukunft sein werden.
"Wir sehen die Drohnen hier manchmal Stürzflüge trainieren. Sie ziehen ihre Kreise, stoßen herunter, steigen wieder auf. Von hier aus werden auch die Drohnen gesteuert, die gerade am anderen Ende der Welt im Einsatz sind. In dieser Technologie gibt es jetzt ein internationales Wettrüsten. Unser Land steckt da eine Menge Geld hinein. Die US-Regierung hat sich gerade mit Waffenfabrikanten getroffen, dabei ging es um Drohnen, die mit Nuklearmunition bewaffnet werden können."
Global Zero? Seine Vision von der atomwaffenfreien Welt mag Präsident Barack Obama im Ausland viel Sympathie eingebracht haben. Eine Autofahrt durch die Wüste von Nevada dagegen zeigt ein Land, das mit der Doktrin der nuklearen Abschreckung noch lange nicht abgeschlossen hat. Und so werden Jim Haber und die Friedensaktivisten weiter mit ihren Protestschildern an den Straßen der Wüste von Nevada stehen. Und viele der Autos, die vorüberfahren, hupen für den Frieden.