Das Atomkraftwerk Saporischschja, mit sechs Reaktoren das größte Kernkraftwerk Europas, wird seit Anfang März von russischen Truppen kontrolliert. In den vergangenen Wochen wurde die Gegend um das AKW wiederholt beschossen, wofür sich die Ukraine und Russland gegenseitig verantwortlich machten. Laut Angaben der russischen Besatzer soll es auch Angriffe auf Gebäude auf dem Kraftwerksgelände gegeben haben. Das nährt die Furcht, dass es in Saporischschja zu einer ähnlichen Atomkatastrophe kommen könnte wie 1986 im ukrainischen, damals zur Sowjetunion gehörenden Tschernobyl.
Klar ist, dass verschiedene Gebäude getroffen wurden, unter anderem eines, in dem frische Brennstäbe aufbewahrt werden oder eine Messstation zur Strahlenüberwachung. Auch beispielsweise Übergangsgalerien, über die das Personal von einem Kraftwerksblock zum nächsten gelangt, sind getroffen worden, ebenso Labor- und Chemieanlagen. In Block 4 wurde durch Beschuss das Notfallschutzsystem ausgelöst, so dass die Dieselgeneratoren angelaufen sind. Alle Sicherheitssysteme der Anlage funktionieren dennoch derzeit normal und sind einsatzbereit.
Schäden werden zwar behoben, aber längst nicht alles ist repariert. Manche Reparaturen benötigen längere Zeit. So wurde eine Schaltanlage für die Stromversorgung durch Beschuss beschädigt, aber die Ersatzteile müssen zuerst maßgeschneidert werden.
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, warnte nach der Inspektion der Anlage vor der Gefahr einer nuklearen Katastrophe. UN-Generalsekretär Guterres forderte die Einrichtung einer Sicherheitszone um das AKW Saporischschja.
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Was wäre das schlimmste denkbare Szenario?
Saporischschja kann nicht zu einem zweiten Tschernobyl werden, denn dort sind komplett andere Reaktortypen in Betrieb. Der Reaktor in Tschernobyl hatte in seinem Inneren Graphit, also reinen Kohlenstoff, der nach der Explosion in Brand geraten war. Durch den Brand wurde sehr viel Radioaktivität freigesetzt. Die heiße Luft trug radioaktive Partikel in die Atmosphäre, wo sie sich mit dem Wind weit nach Westen hin ausbreiteten.
In Saporischschja stehen hingegen sechs Druckwasserreaktoren. Die Gefahr eines brennenden Reaktorkerns besteht bei diesem Reaktortyp nicht. Auch bei einem Atomunfall würde die Radioaktivität nicht so hoch aufsteigen, sondern eher das Umland und nicht so sehr weit entfernte Gebiete treffen.
Das Szenario würde also eher dem des Reaktorunfalls von Fukushima in Japan im Jahr 2011 ähneln. Das Land im Umkreis von einigen hundert Kilometern um Saporischschja könnte unbewohnbar werden, sagte der Kernphysiker Heinz Smital im Deutschlandfunk (04.03.2022).
Wie sich die Radioaktivität im Falle eines Unfalls genau verteilen würde, hängt allerdings stark vom Wetter ab, insbesondere von der Windrichtung. Der Wind weht am Standort Saporischschja ganz überwiegend in Richtung Osten, also nach Russland oder Kasachstan.
Wie wahrscheinlich ist ein Super-GAU?
Seit Anfang August 2022 schlagen Artilleriegeschosse auf dem Gelände des Kraftwerks ein. Diese könnten von der äußeren Schutzhülle aus Beton jedoch abgefangen werden, sagte Jan Klebert von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) im Deutschlandfunk. Dass durch Kampfhandlungen aus Versehen ein Super-GAU ausgelöst werden könnte, sei unwahrscheinlich. Kernkraftwerke seien robust, Reaktoren beispielsweise auch gegen Abstürze von Flugzeugen gewappnet. Wolfgang Raskob vom Karlsruher Institut für Technologie äußerte allerdings die Einschätzung, eine "gezielte größere Rakete" könne die Schutzhülle des Kraftwerks "mit Sicherheit nicht" abfangen.
Direkte Treffer auf das Kraftwerk seien aber auch nicht die einzige Gefahr, ein Super-GAU könne auch indirekt ausgelöst werden, erklärte Raskob. Nämlich dann, wenn etwa durch Kampfhandlungen die Stromversorgung zerstört wird. Auch wenn man die Kraftwerke dann abschalte, seien sie weiter auf Kühlung angewiesen – und zwar monatelang. Die Dieselaggregate für Notfälle können den Strom für die Kühlung nach Schätzungen allerdings nur zehn Tage liefern.
Ohne Kühlung würden die Brennelemente schmelzen und in den Reaktoren entstehe dann ein Überdruck, so Raskob. Dieser könne möglicherweise über Ventile abgelassen werden, dann würde der Reaktordruckbehälter vermutlich zumindest nicht vollständig zerstört. Bei einer vollständigen Zerstörung stehe man vor einem Fukushima-Szenario.
Wie ist die Personallage im AKW?
Ein Risikofaktor ist der Personalmangel vor Ort. Im Bereich des physischen Anlagenschutzes sind 40 Prozent der Stellen nicht besetzt. Im Bereich Notfallvorsorge und Reaktion fehlt rund ein Viertel der Mitarbeiter, in der Werksfeuerwehr fast ein Drittel. Dieser Personalmangel erhöht noch einmal den Stress und den psychischen Druck durch die Militärbesatzung. Die IAEA warnt davor, dass das nicht tragbar sei und zu einer Zunahme menschlicher Fehler führen könne, die sich auf die nukleare Sicherheit auswirken.
In den Turbinenhallen und an anderen Stellen im Kraftwerk steht russische Militärausrüstung. Außerdem sind Mitarbeiter der russischen Atomenergiebehörde Rosatom vor Ort. Sie fordern von der Betriebsleitung tägliche Berichte. Die Anwesenheit der Rosatom-Leute könnte die „normalen betrieblichen Befehls- und Weisungsbefugnisse“ stören und zu Reibungen führen, so das Urteil der IAEA.
Zwar ist das ukrainische Personal weiterhin für den Betrieb zuständig. Aber die Ukrainer haben keinen Zugang zum Notfallzentrum der Anlage. Dort ist nun die Militäraufsicht der russischen Besatzer untergebracht. Es gibt zwar ein provisorisch eingerichtetes Notfallzentrum, das erfüllt aber nicht die notwendigen Bedingungen. So verfügt es nicht über eine unabhängige Stromversorgung oder ein unabhängiges und gesichertes Belüftungssystem. Es gibt keine Internetverbindung, die im Ernstfall für die Kommunikation mit allen an der Katastrophenhilfe beteiligten Parteien unerlässlich ist.
Wie schätzt die IAEA-Behörde die Lage ein?
Die derzeitige Situation sei "unhaltbar", zu dieser Einschätzung kommt die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) nach ihrem Besuch. "Wir spielen mit dem Feuer, und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte geschehen", warnte IAEA-Leiter Rafael Grossi vor dem UN-Sicherheitsrat. Zwei Mitglieder seiner Delegation sind weiterhin vor Ort auf dem Kernkraftwerksgelände in Saporischschja. Die Dächer von Lagerstätten, in denen radioaktives Material lagere, so der IAEA-Bericht, seien schwer beschädigt, die Notfallzentrale sei nicht voll funktionsfähig, die Betriebsfeuerwehr sei nicht mehr vor Ort.
Es besteht auch ein Problem mit der externen Stromversorgung. Seit Montag (05.09.22) ist das Kraftwerk nicht mehr über vier Hochspannungsleitungen an das Energiesystem der Ukraine angeschlossen, das heißt, es bekommt keinen Strom mehr von außen und versorgt sich selbst. Einer der Reaktoren liefert den Strom für die Kühlung. Reaktoren müssen auch dann gekühlt werden, wenn sie abgeschaltet werden. Wenn das Kraftwerk den Strom nicht selber produzieren kann, muss dieser von außen kommen. Ist das nicht möglich, bleibt nur die begrenzte Option der Notstromversorgung durch die Diesel-Generatoren. Ein in der Nähe gelegenes Kohlekraftwerk ist seit Mai außer Betrieb, weil die Kohle ausgegangen ist. Könnte man dieses wieder ans Netz nehmen, wäre die externe Stromversorgung gesichert. Die IAEA empfiehlt, die zerstörten Hochspannungsleitungen zu reparieren, damit die sichere Versorgung wieder gewährleistet ist.
Die Internationale Atomenergiebehörde fordert in ihrem Bericht die Einrichtung einer Sicherheitszone rund um das Atomkraftwerk. Die Kriegsparteien müssten sich aus dem AKW und der Umgebung zurückziehen und den Beschuss einstellen. Eine Sicherheitszone ohne Militär könne dazu beitragen, einen nuklearen Unfall zu verhindern. Eine weitere Empfehlung: Da der ukrainische Betreiber die Hauptverantwortung für die nukleare Sicherheit und Sicherung trage, „sollte er außerdem in der Lage sein, seinen Auftrag mit klaren Zuständigkeiten und Befugnissen zu erfüllen“. Mit Blick auf das Personal fordert die IAEA, jegliche Gewalt gegen die Menschen zu unterlassen, die Familien zu unterstützen, damit sich das Betriebspersonal auf seine Aufgaben konzentrieren könne.
Worum geht es bei der Forderung nach einer Schutzzone?
Auch UN-Generalsekretär Guterres forderte die Kriegsparteien in der Ukraine auf, alle militärischen Aktivitäten im Gebiet um das Atomkraftwerk Saporischschja einzustellen. Es gehe darum, eine nukleare Katastrophe zu verhindern, sagte Guterres am Dienstag (06.09.22) im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York. Voraussetzung dafür sei eine Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine über die Einrichtung einer Sicherheitszone rund um das AKW. Die russische Seite müsse ihr militärisches Personal und Gerät aus dem Kraftwerksgelände abziehen. Die ukrainische Seite müsse sich verpflichten, auf Vorstöße ihrer Truppen dorthin zu verzichten.
Kiew will sich sich dem Appell des IAEA-Berichts nach einer Schutzzone anschließen, wenn diese eine Demilitarisierung der Anlage vorsehe. Russlands Präsident Putin bekräftigte die Vorwürfe Moskaus, dass die Ukraine das Atomkraftwerk Saporischschja beschieße und damit Europas nukleare Sicherheit gefährde. Er kritisierte den Bericht der IAEA dafür, dass sie dies nicht festgehalten habe.
Beide Seiten weisen sich weiterhin gegenseitig die Schuld für den Beschuss der Anlage zu. Russland behauptet, die Einschläge auf dem Kraftwerksgelände, die auch die Delegation Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) festgestellt hat, seien von der Ukraine verursacht. Diese beschieße das Kraftwerk, um die russischen Truppen auf dem Gelände zu treffen. Nach ukrainischen Angaben sind die Einschläge auf dem Gelände nicht durch echte Kämpfe verursacht, sondern stellten Provokationen der Russen dar, um die Welt in Atem zu halten.
Nach Aussage der Ukraine beschießen russische Truppen vom Kraftwerksgelände aus ukrainische Städte auf der anderen Seite des Flusses Dnjepr. Zweimal gab es zudem Meldungen, dass die ukrainische Armee russische Einheiten in einer nur drei Kilomenter vom Kraftwerk entfernten Stadt angegriffen habe.
Wie nutzt Russland das Kraftwerk strategisch?
Russland hat weiterhin die Kontrolle über das Kraftwerk. Die ukrainischen Mitarbeiter arbeiten für die Besatzungsmacht - Kiew wertet das ausdrücklich nicht als Kollaboration. Das Kraftwerk ist für die Stromversorgung der Ukraine essentiell. Und es versorgt auch weite Teile der von Russland besetzten Ostukraine mit Strom. Deshalb hat auch Russland ein Interesse am Betrieb. Die staatliche ukrainische Betreibergesellschaft Energoatom befürchtet jedoch, dass Russland Saporischschja an das Stromnetz der 2014 annektierten Krim anschließen will.
Quellen: Dagmar Röhrlich, Silvia Engels, Georg Ehring, Arndt Reuning, Tobias Armbrüster, dpa, Reuters, AFP, pto, Tina Hammesfahr