Das Foyer ist weitläufig wie der Innenraum einer Kathedrale. Gedämpftes Licht fällt durch das Milchglas der Seitenfenster auf sandfarbene Fliesen. Die gläserne Frontfassade gibt den Blick frei auf den Vorplatz, wo in kunterbuntem Spalier die Staatsflaggen der Großkunden flattern: Iran, Weißrussland, Vietnam, China, Indien, Bulgarien und andere mehr: Es ist der neue Konzernsitz von "Atomstroyexport". Gerade erst hat das Tochterunternehmen von Russlands staatlicher "Nuklearholding Rosatom" das moderne Bürogebäude im Norden Moskaus bezogen. Sein Exportprodukt: Atomkraftwerke. Offizieller Staatsauftrag: Expansion. Die Zielmärkte: Osteuropa, Südostasien, Naher Osten, Lateinamerika und überall dort, wo Schwellenländer nach Energie hungern.
Von einem Ende der sogenannten Nuklearen Renaissance ist hier, in der Dmitrij-Chaussee 2, nichts zu spüren: Der GAU von Fukushima, die neue Angst vor Radioaktivität, der Atom-Ausstieg Deutschlands – zwar hat sich auch Aleksandr Gluchov, der Präsident von "Atomstroyexport", darüber schon den Kopf zerbrochen, eine Gefahr für die Geschäfte seines Konzerns, sagt er, sieht er jedoch nicht.
"Alle Klienten, mit denen wir früher gearbeitet haben, haben bestätigt, dass sie die Atomenergie in ihrem Land weiterentwickeln werden. Ausschließlich auf die Dynamik der Entwicklung hat Fukushima Einfluss gehabt, und auch das nur aus einem einzigen Grund: Alle unsere Klienten haben die Sicherheitsanforderungen an Atomanlagen überprüft, und sie werden sie weiter überprüfen. Aber das ist kein Ausstieg."
Kein Ausstieg: Aleksandr Gluchov nickt bekräftigend. Der 42-Jährige ist ein sportlicher Typ, er gibt sich locker und weltoffen: der ideale Repräsentant eines Unternehmens, das ansetzt zum Sprung auf die Weltmärkte. Tatsächlich findet der Ausstieg woanders statt: Gerade im September hat der Siemens-Konzern die endgültige Schließung seiner Nuklearsparte bekannt gegeben; in vielen Industriestaaten sind Menschen zu Atomgegnern geworden.
Gerade in den Schwellenländern jedoch scheint der Glaube an die Kernenergie weitgehend ungebrochen. 60 Staaten haben bekannt gegeben, neu in die Atomenergie einsteigen zu wollen, teilt die Internationale Atomenergie Organisation in Wien mit. Mindestens elf davon sind aktiv dabei, die nötige technische und juristische Infrastruktur aufzubauen.
"Atomkraftwerke, schlüsselfertig", lockt die Unternehmensbroschüre von Atomstroyexport. Verträge gibt es nach der Selbstdarstellung des Unternehmens mit mindestens zehn Ländern Europas und Asiens: In Indien steht der zweite von insgesamt vier Reaktoren kurz vor der Inbetriebnahme. Zwei Reaktorblöcke in China haben bereits über 66 Milliarden Kilowattstunden produziert. In Bulgarien schreiten die Bauarbeiten voran. In Vietnam, Weißrussland, Armenien, in der Türkei und der Ukraine stehen Bauprojekte vor dem Start. In Tschechien und Jordanien nimmt "Atomstroyexport" an einer internationalen Ausschreibung teil. Das alles ist kein Grund zur Beunruhigung, lautet Gluchovs Botschaft: Die Reaktoren, die Russland exportiert, seien sicher.
"Wir bieten ein sehr gutes Produkt. Wir haben absolut konkurrenzfähige Sicherheitssysteme. Ich denke, dass unser Sicherheitsdesign, das wir heute im Ausland anbieten, das Beste Sicherheitsdesign überhaupt ist. Ich sage dieses bewusst, denn ich kenne die Produkte von Areva, Westinghouse und anderen Unternehmen, aber insgesamt ist unser Produkt das Beste."
Die Atomgroßmacht mit dem Tschernobyl-Image bringt die sichersten Reaktoren der Welt auf den Markt? Tatsächlich: Auch die internationale Fachwelt bescheinigt Russland, aus dem GAU von 1986 gelernt zu haben. Die modernen russischen Export-Reaktoren gelten heute als vergleichbar mit Reaktoren aus westlicher Produktion – sicher oder unsicher, je nach Betrachtungsweise.
Was genau das konkret bedeutet, das erklärt Vitalij Jermalaev, der Leiter der technischen Sicherheitsabteilung von "Atomstroyexport". Mit der geübten Hand des Ingenieurs skizziert er einen Reaktor – und verlegt das, was in Fukushima den GAU auslöste, in ein Kernkraftwerk aus dem Hause "Atomstroyexport".
Im Falle eines schweren Unfalls, selbst bei Totalausfall der vier Dieselgeneratoren – das Herzstück des strombetriebenen, also "aktiven" Sicherheitssystems - verhinderten sogenannte passive Systeme den Austritt von Radioaktivität an die Umwelt, erklärt Jermalaev. Bor in der Reaktorzone ersticke die Kernreaktion, radioaktives Wasser verbliebe in einer sogenannten "hermetischen Zone", und geschmolzene Kernbrennstäbe sammelten sich im Kernfänger.
Der Kernfänger: Das ist ein spezielles Auffangbecken, das verhindern soll, dass sich im Falle einer Kernschmelze das glühend heiße Gebräu durch den Reaktorboden hindurch frisst und ins Erdreich gelangt. Eine solche Vorrichtung sollte eigentlich längst zum Sicherheitsstandard moderner Kernkraftwerke gehören. Tatsächlich aber sind die beiden Reaktoren des chinesischen Kernkraftwerks Tianwan aus dem Hause "Atomstroyexport" bislang die beiden einzigen Reaktoren in Betrieb, die durch Kernfänger gesichert sind. Und so kommt auch Jermalaev zu dem Schluss:
"Unsere Export-Reaktoren sind tatsächlich sicher. Die Bezeichnung "die sichersten der Welt" klingt natürlich gut. Als Ingenieur würde ich dennoch vorziehen zu sagen: "Sie gehören zu den sichersten der Welt."
Wohl auch deshalb, weil zumindest im Bereich Reaktorsicherheit keine wesentlichen Verletzungen internationaler Sicherheitsstandards zu finden sind, ist Russlands nuklearer Expansionskurs international bislang kaum auf Widerstand gestoßen. Und selbst die hitzige Debatte um sein umstrittenstes Projekt hat dem Nuklearexporteur bislang kaum geschadet: Das iranische Atomkraftwerk "Bushehr", das am 12. September mit einer feierlichen Zeremonie ans Netz gegangen ist.
Zwar kritisieren Sicherheitsexperten, "Bushehr" würde Präsident Mahmud Achmadinedschad den Vorwand für den Betrieb einer eigenen Urananreicherungsanlage liefern – eine Technologie, die besonders leicht zu einer hocheffektiven Produktionsmaschine für Waffenuran umgerüstet werden kann. Und eine Atombombe in den Händen eines israelfeindlichen Diktators: Das ist ein Szenario, das besonders den US-amerikanischen Militärstrategen die Haare zu Berge stehen lässt.
Doch so vehement sich viele westliche Staaten auch für Sanktionen gegen den Iran einsetzen: Das internationale Regelwerk grundsätzlich neu zu überdenken, das den Export von Nukleartechnologie in politisch unstabile Regionen reguliert, diese Forderung ist in den medienwirksamen Iran-Debatten nur selten zu hören. Und das geltende Recht macht es dem Präsidenten von "Atomstroyexport" leicht, jede Kritik an der Exportpolitik seines Konzerns zu kontern.
"Wir arbeiten auf der Grundlage des internationalen Rechts. Der Iran hat den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben."
Der Atomwaffensperrvertrag: Er garantiert jedem Unterzeichnerstaat das Recht, seine eigene Infrastruktur für die zivile Atomkraftnutzung aufzubauen – dem Iran ebenso wie jedem anderen Staat auch. Und so ringen Sicherheitsexperten und Nuklearlobbyisten in internationalen Fachforen bislang ergebnislos um die Quadratur des Kreises: Wie kann Reaktorsicherheit garantiert und militärischer Missbrauch von zivilen Nuklearanlagen ausgeschlossen werden, ohne den lukrativen Handel mit Spaltmaterial zu gefährden? Solche Endlos-Debatten könnten bald von neuen Realitäten auf dem Weltmarkt überholt werden, befürchtet Professor Stephen Thomas, Experte für Energiewirtschaft an der britischen Universität Greenwich.
"Russland ist der bei weitem erfolgreichste Exporteur von Atomkraftwerken in der ganzen Welt. Es könnte geschehen, dass der Weltmarkt für Atomreaktoren künftig nicht mehr von hochentwickelten westlichen Unternehmen gesteuert wird. Sondern von neuen Lieferländern wie Russland oder China – vielleicht noch Indien, auf lange Sicht. Diese verkaufen Paketlösungen für Atomenergie an Entwicklungsländer. Russland beispielweise stellt nicht nur die Finanzierung zur Verfügung, sondern auch sämtliche Materialien und einen Großteil der Fachkräfte. Der Verkauf von Atomkraftwerken wird zum One-Stop-Shop: Russland liefert das gesamte Paket. Ob dieser Trend anhalten wird – ist schwer zu sagen. Aber das ist, was seit zwei oder drei Jahren passiert."
Wohin steuert die Weltwirtschaft? Auf einen Energiemix mit oder ohne Atomkraft? Was bedeutet "Fukushima" für die Reaktorsicherheit? Was "Bushehr" für die Frage der Atomwaffennichtverbreitung? Und wer sind die Akteure, die auf dem Weltmarkt für Nukleartechnologie den Ton angeben?
Solche Fragen stellt auch der renommierte "World Nuclear Status Report", dessen Mitautor Stephen Thomas ist. Die Studie, die jedes Jahr neu aufgelegt wird, und dessen neueste Ausgabe im September erschienen ist, versteht sich als atomkritischer Gegenentwurf zu den Prognosen, die die Internationale Atomenergie Organisation, kurz IAEO, in Wien herausgibt.
"In den vergangenen drei oder vier Jahren sind 35 neue Atomkraftwerke in Bau gegangen: 25 oder 26 in China, sechs in Russland, drei in Korea. Diesen Ländern ist gemeinsam, dass die Energieunternehmen sich in Staatshand befinden. Die Elektrizitätsindustrie ist ein staatliches Zuschussgeschäft, das seine Kosten an die Stromkonsumenten und Steuerzahler weitergibt. Das macht Nuklearinvestitionen risikolos – schließlich müssen die Konsumenten sowieso zahlen. Und die Banken geben diesen Unternehmen leichten Herzens Kredit, weil sie ihr Geld ja auf jeden Fall zurückbekommen. Im Westen gibt es da sehr viel weniger Toleranz, was die Kostenweitergabe betrifft. Und darum sind nukleare Projekte für Banken sehr riskant. Schließlich können Unternehmen, die Atomkraftwerke bauen, grundsätzlich pleitegehen."
Ein Staatskonzern ist auch die russische "Nuklearholding Rosatom", die hinter dem Exportkonzern "Atomstroyexport" mit seinen gerade mal 1600 Mitarbeitern steht. Das ehemalige Atomministerium mit seinen hermetisch abgeriegelten atomaren Gewerbegebieten von Stalinscher Gigantomanie ist ein nukleares Imperium mit rund 270 Produktions- und Forschungsstätten – und von vielem befreit, was westlichen Mitbewerbern wie "Areva" oder "Toshiba-Westinghouse" das Leben schwer macht: protestierende Anwohner, launische Finanzmärkte und wählerische Stromkunden. Und so lockt "Atomstroyexport" mit einem Komplett-Service inklusive Kraftwerksbau und -instandhaltung, Standortauswahl und Rückbau, Fachkräfterekrutierung und Personalschulung und Brennstofflieferung.
Exquisite Finanzierungskonditionen in Form von günstigen Krediten aus der russischen Staatskasse sind im Service-Paket enthalten: Dem fast bankrotten Weißrussland will Russland sein erstes Atomkraftwerk mit einem Kredit aus der russischen Staatskasse zu 90 Prozent vorfinanzieren. Rentabel ist das nicht, soviel steht fest. Aber das behauptet ja auch niemand – am wenigsten der Nuklearexporteur selbst. Schließlich ist das erste Unternehmensinteresse von Aleksandr Gluchov nicht die Gewinnmaximierung, sondern die Erfüllung eines Staatsauftrags.
"Was unser Geschäft betrifft, so ist das, einen Markt zu schaffen für die Nuklearindustrie der Russischen Föderation im Ausland. Das ist eine potenzielle Ertragsbasis für andere russische Unternehmen, die zukünftig damit Geld verdienen werden: Die Bereitstellung von Kernbrennstoff, Modernisierungsarbeiten, Servicedienstleistungen und zusätzliche Ausstattung mit Anlagen zur Behandlung von Atommüll und abgebranntem Kernbrennstoff. Wir sind die Agenten der russischen Nuklearindustrie, die die Produktion der staatlichen Nuklearindustrie auf den Weltmarkt bringt."
Hinter dem Verlustgeschäft mit dem Reaktorverkauf stehen die weitaus lukrativeren Langzeit-Lieferverträge für Kernbrennstoff. Uranverkauf, Urananreicherung und Kernbrennstoff-Produktion könnten für die Energiegroßmacht Russland bald zum dritten Standbein neben dem Öl- und Gas-Geschäft werden, glaubt der unabhängige Energieberater, Mycle Schneider, aus Paris. Dieser berät europäische Organisationen und Ministerien in Nuklearfragen, und ist ebenfalls Mitautor des "World Nuclear Status Report".
"Ich gehöre überhaupt nicht zu den Leuten, die meinen, wir würden auf eine Uranknappheit hinarbeiten. Aber die Herstellung von Brennstoff …! Brennstoff wird eingesetzt, solange Reaktoren laufen, und es laufen 437 Reaktoren in der Welt, das ist eine Menge Brennstoff pro Jahr, und das ist ein richtiges Geschäft. Der Reaktorverkauf ist mit Sicherheit nicht profitabel."
Alzenau, eine bayerische Kleinstadt nahe Hanau, ist der Sitz des deutschen Urangroßhändlers "Nukem GmbH". In dem modernen Bürokomplex wird seit einigen Monaten auch Russisch gesprochen.
Zwei Jahre ist es her, dass die "Rosatom"-Tochter "Atomstroyexport" eine Sparte aus dem Großunternehmen herausgekauft hat: Die "Nukem Technologies GmbH" ist ein Spezialist für Atommüll-Behandlung und Atomkraftwerk-Rückbau. Geschäftsführer Ulf Kutscher in Alzenau anzutreffen, ist ein seltenes Glück. Wenn er nicht gerade in Moskau Strategiegespräche mit seinen russischen Kollegen führt, dann begutachtet er den Fortgang von Bauprojekten in St. Petersburg, Bulgarien oder Litauen. Wenn Kutscher aber über den deutschen Atomausstieg redet, dann klingt das dennoch bitter.
"Als Industrie sind wir Outlaws, eine Randgruppe der deutschen Gesellschaft geworden. Auf der anderen Seite wollen wir als kerntechnische Unternehmen weiter in der Branche arbeiten, uns noch verstärkter im Ausland orientieren, da haben wir einen guten Ruf: Die hohe deutsche Sicherheitskultur, die hohe deutsche Ingenieurskunst wird hoch geschätzt im Ausland."
Auf dem Ostmarkt ist "Nukem Technologies" seit langem aktiv: Nach dem Zerfall der Sowjetunion, als die Medien sorgenvoll über die Uralt-Meiler und die überquellenden Atommülllager berichteten, erkannte die Spezialfirma einen neuen Markt mit einem schier unüberschaubaren Auftragsvolumen. Ein Abfallbehandlungszentrum für die strahlenden Altlasten der vier stillgelegten Tschernobyl-Reaktoren wurde zum bekanntesten Referenzprojekt. Es folgten ein Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente am Kernkraftwerk "Ignalina" in Litauen, eine Trockenlagerstätte für abgebrannte Kernbrennstäbe am bulgarischen Kernkraftwerk "Kozloduy" und ein Abfallbehandlungszentrum für das Kernkraftwerk Leningrad. Danach war die Übernahme durch "Atomstroyexport" nur noch der nächste logische Schritt.
Heute gehört "Nukem Technologies" eigentlich in mehrfacher Hinsicht zu den Krisengewinnern. Schließlich wird das Management der strahlenden Altlasten selbst im Falle eines globalen Atomausstiegs noch über Generationen ein krisenfester Markt bleiben. Und jetzt hat der deutsche Atommüll-Spezialist auch noch einen steuergeldfinanzierten, und somit krisensicheren russischen Mutterkonzern im Rücken. "Nukem Technologies" heute, sagt Kutscher, das ist "Rosatoms" Brückenkopf im Westmarkt.
"Ich schätze die Russen sehr als Erfinder. Die haben immer gute Ideen, sind weit gegangen, wenn sie die Ideen gut umsetzen wollen, aber was sie selten geschafft haben, wenn es darum ging, aus diesen Ideen wirtschaftliche Produkte zu machen. Und dann kommen wir mit unseren Erfahrungen ganz gut, und ich habe die eine oder andere Idee, auch für den deutschen Rückbaumarkt, die man gut einbringen kann, die es jetzt gilt zu entwickeln. Und ich glaube schon, dass wir damit eine Symbiose in die andere Richtung bekommen: Russische Technologien mit einem deutschen Unternehmen auf den deutschen Markt gebracht."
Und so ist es gut möglich, dass der russische Staatskonzern bald schon in Deutschland mit der Hilfe von deutschen Ingenieuren deutsche Atomkraftwerke zurückbauen wird. Und das könnte "Rosatoms" Einstieg in den west-europäischen Markt sein. Kutscher selbst sieht an dieser neuen Entwicklung nichts Bedrohliches. Schließlich halten jetzt umgekehrt auch deutsche Sicherheitstechnik und deutsche Sicherheitsstandards in russischen Atomanlagen Einzug. Doch sind die Atomkraftwerke aus dem Hause "Atomstroyexport" nicht auch eine neue Strategie Russlands, immer mehr Staaten in die energiepolitische Abhängigkeit zu bringen?
"Das ist sicherlich eine gewisse wirtschaftliche Abhängigkeit und dient damit auch, Einflusssphären zu erhalten, zu vergrößern und wiederzugewinnen. Ich glaube, das ist international inzwischen gang und gäbe, dass man über Energieanlagen, in diesem Falle Kernkraftwerke, Politik macht."
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Brücke oder Sackgasse - eine Renaissance der Atomkraft?
Von einem Ende der sogenannten Nuklearen Renaissance ist hier, in der Dmitrij-Chaussee 2, nichts zu spüren: Der GAU von Fukushima, die neue Angst vor Radioaktivität, der Atom-Ausstieg Deutschlands – zwar hat sich auch Aleksandr Gluchov, der Präsident von "Atomstroyexport", darüber schon den Kopf zerbrochen, eine Gefahr für die Geschäfte seines Konzerns, sagt er, sieht er jedoch nicht.
"Alle Klienten, mit denen wir früher gearbeitet haben, haben bestätigt, dass sie die Atomenergie in ihrem Land weiterentwickeln werden. Ausschließlich auf die Dynamik der Entwicklung hat Fukushima Einfluss gehabt, und auch das nur aus einem einzigen Grund: Alle unsere Klienten haben die Sicherheitsanforderungen an Atomanlagen überprüft, und sie werden sie weiter überprüfen. Aber das ist kein Ausstieg."
Kein Ausstieg: Aleksandr Gluchov nickt bekräftigend. Der 42-Jährige ist ein sportlicher Typ, er gibt sich locker und weltoffen: der ideale Repräsentant eines Unternehmens, das ansetzt zum Sprung auf die Weltmärkte. Tatsächlich findet der Ausstieg woanders statt: Gerade im September hat der Siemens-Konzern die endgültige Schließung seiner Nuklearsparte bekannt gegeben; in vielen Industriestaaten sind Menschen zu Atomgegnern geworden.
Gerade in den Schwellenländern jedoch scheint der Glaube an die Kernenergie weitgehend ungebrochen. 60 Staaten haben bekannt gegeben, neu in die Atomenergie einsteigen zu wollen, teilt die Internationale Atomenergie Organisation in Wien mit. Mindestens elf davon sind aktiv dabei, die nötige technische und juristische Infrastruktur aufzubauen.
"Atomkraftwerke, schlüsselfertig", lockt die Unternehmensbroschüre von Atomstroyexport. Verträge gibt es nach der Selbstdarstellung des Unternehmens mit mindestens zehn Ländern Europas und Asiens: In Indien steht der zweite von insgesamt vier Reaktoren kurz vor der Inbetriebnahme. Zwei Reaktorblöcke in China haben bereits über 66 Milliarden Kilowattstunden produziert. In Bulgarien schreiten die Bauarbeiten voran. In Vietnam, Weißrussland, Armenien, in der Türkei und der Ukraine stehen Bauprojekte vor dem Start. In Tschechien und Jordanien nimmt "Atomstroyexport" an einer internationalen Ausschreibung teil. Das alles ist kein Grund zur Beunruhigung, lautet Gluchovs Botschaft: Die Reaktoren, die Russland exportiert, seien sicher.
"Wir bieten ein sehr gutes Produkt. Wir haben absolut konkurrenzfähige Sicherheitssysteme. Ich denke, dass unser Sicherheitsdesign, das wir heute im Ausland anbieten, das Beste Sicherheitsdesign überhaupt ist. Ich sage dieses bewusst, denn ich kenne die Produkte von Areva, Westinghouse und anderen Unternehmen, aber insgesamt ist unser Produkt das Beste."
Die Atomgroßmacht mit dem Tschernobyl-Image bringt die sichersten Reaktoren der Welt auf den Markt? Tatsächlich: Auch die internationale Fachwelt bescheinigt Russland, aus dem GAU von 1986 gelernt zu haben. Die modernen russischen Export-Reaktoren gelten heute als vergleichbar mit Reaktoren aus westlicher Produktion – sicher oder unsicher, je nach Betrachtungsweise.
Was genau das konkret bedeutet, das erklärt Vitalij Jermalaev, der Leiter der technischen Sicherheitsabteilung von "Atomstroyexport". Mit der geübten Hand des Ingenieurs skizziert er einen Reaktor – und verlegt das, was in Fukushima den GAU auslöste, in ein Kernkraftwerk aus dem Hause "Atomstroyexport".
Im Falle eines schweren Unfalls, selbst bei Totalausfall der vier Dieselgeneratoren – das Herzstück des strombetriebenen, also "aktiven" Sicherheitssystems - verhinderten sogenannte passive Systeme den Austritt von Radioaktivität an die Umwelt, erklärt Jermalaev. Bor in der Reaktorzone ersticke die Kernreaktion, radioaktives Wasser verbliebe in einer sogenannten "hermetischen Zone", und geschmolzene Kernbrennstäbe sammelten sich im Kernfänger.
Der Kernfänger: Das ist ein spezielles Auffangbecken, das verhindern soll, dass sich im Falle einer Kernschmelze das glühend heiße Gebräu durch den Reaktorboden hindurch frisst und ins Erdreich gelangt. Eine solche Vorrichtung sollte eigentlich längst zum Sicherheitsstandard moderner Kernkraftwerke gehören. Tatsächlich aber sind die beiden Reaktoren des chinesischen Kernkraftwerks Tianwan aus dem Hause "Atomstroyexport" bislang die beiden einzigen Reaktoren in Betrieb, die durch Kernfänger gesichert sind. Und so kommt auch Jermalaev zu dem Schluss:
"Unsere Export-Reaktoren sind tatsächlich sicher. Die Bezeichnung "die sichersten der Welt" klingt natürlich gut. Als Ingenieur würde ich dennoch vorziehen zu sagen: "Sie gehören zu den sichersten der Welt."
Wohl auch deshalb, weil zumindest im Bereich Reaktorsicherheit keine wesentlichen Verletzungen internationaler Sicherheitsstandards zu finden sind, ist Russlands nuklearer Expansionskurs international bislang kaum auf Widerstand gestoßen. Und selbst die hitzige Debatte um sein umstrittenstes Projekt hat dem Nuklearexporteur bislang kaum geschadet: Das iranische Atomkraftwerk "Bushehr", das am 12. September mit einer feierlichen Zeremonie ans Netz gegangen ist.
Zwar kritisieren Sicherheitsexperten, "Bushehr" würde Präsident Mahmud Achmadinedschad den Vorwand für den Betrieb einer eigenen Urananreicherungsanlage liefern – eine Technologie, die besonders leicht zu einer hocheffektiven Produktionsmaschine für Waffenuran umgerüstet werden kann. Und eine Atombombe in den Händen eines israelfeindlichen Diktators: Das ist ein Szenario, das besonders den US-amerikanischen Militärstrategen die Haare zu Berge stehen lässt.
Doch so vehement sich viele westliche Staaten auch für Sanktionen gegen den Iran einsetzen: Das internationale Regelwerk grundsätzlich neu zu überdenken, das den Export von Nukleartechnologie in politisch unstabile Regionen reguliert, diese Forderung ist in den medienwirksamen Iran-Debatten nur selten zu hören. Und das geltende Recht macht es dem Präsidenten von "Atomstroyexport" leicht, jede Kritik an der Exportpolitik seines Konzerns zu kontern.
"Wir arbeiten auf der Grundlage des internationalen Rechts. Der Iran hat den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben."
Der Atomwaffensperrvertrag: Er garantiert jedem Unterzeichnerstaat das Recht, seine eigene Infrastruktur für die zivile Atomkraftnutzung aufzubauen – dem Iran ebenso wie jedem anderen Staat auch. Und so ringen Sicherheitsexperten und Nuklearlobbyisten in internationalen Fachforen bislang ergebnislos um die Quadratur des Kreises: Wie kann Reaktorsicherheit garantiert und militärischer Missbrauch von zivilen Nuklearanlagen ausgeschlossen werden, ohne den lukrativen Handel mit Spaltmaterial zu gefährden? Solche Endlos-Debatten könnten bald von neuen Realitäten auf dem Weltmarkt überholt werden, befürchtet Professor Stephen Thomas, Experte für Energiewirtschaft an der britischen Universität Greenwich.
"Russland ist der bei weitem erfolgreichste Exporteur von Atomkraftwerken in der ganzen Welt. Es könnte geschehen, dass der Weltmarkt für Atomreaktoren künftig nicht mehr von hochentwickelten westlichen Unternehmen gesteuert wird. Sondern von neuen Lieferländern wie Russland oder China – vielleicht noch Indien, auf lange Sicht. Diese verkaufen Paketlösungen für Atomenergie an Entwicklungsländer. Russland beispielweise stellt nicht nur die Finanzierung zur Verfügung, sondern auch sämtliche Materialien und einen Großteil der Fachkräfte. Der Verkauf von Atomkraftwerken wird zum One-Stop-Shop: Russland liefert das gesamte Paket. Ob dieser Trend anhalten wird – ist schwer zu sagen. Aber das ist, was seit zwei oder drei Jahren passiert."
Wohin steuert die Weltwirtschaft? Auf einen Energiemix mit oder ohne Atomkraft? Was bedeutet "Fukushima" für die Reaktorsicherheit? Was "Bushehr" für die Frage der Atomwaffennichtverbreitung? Und wer sind die Akteure, die auf dem Weltmarkt für Nukleartechnologie den Ton angeben?
Solche Fragen stellt auch der renommierte "World Nuclear Status Report", dessen Mitautor Stephen Thomas ist. Die Studie, die jedes Jahr neu aufgelegt wird, und dessen neueste Ausgabe im September erschienen ist, versteht sich als atomkritischer Gegenentwurf zu den Prognosen, die die Internationale Atomenergie Organisation, kurz IAEO, in Wien herausgibt.
"In den vergangenen drei oder vier Jahren sind 35 neue Atomkraftwerke in Bau gegangen: 25 oder 26 in China, sechs in Russland, drei in Korea. Diesen Ländern ist gemeinsam, dass die Energieunternehmen sich in Staatshand befinden. Die Elektrizitätsindustrie ist ein staatliches Zuschussgeschäft, das seine Kosten an die Stromkonsumenten und Steuerzahler weitergibt. Das macht Nuklearinvestitionen risikolos – schließlich müssen die Konsumenten sowieso zahlen. Und die Banken geben diesen Unternehmen leichten Herzens Kredit, weil sie ihr Geld ja auf jeden Fall zurückbekommen. Im Westen gibt es da sehr viel weniger Toleranz, was die Kostenweitergabe betrifft. Und darum sind nukleare Projekte für Banken sehr riskant. Schließlich können Unternehmen, die Atomkraftwerke bauen, grundsätzlich pleitegehen."
Ein Staatskonzern ist auch die russische "Nuklearholding Rosatom", die hinter dem Exportkonzern "Atomstroyexport" mit seinen gerade mal 1600 Mitarbeitern steht. Das ehemalige Atomministerium mit seinen hermetisch abgeriegelten atomaren Gewerbegebieten von Stalinscher Gigantomanie ist ein nukleares Imperium mit rund 270 Produktions- und Forschungsstätten – und von vielem befreit, was westlichen Mitbewerbern wie "Areva" oder "Toshiba-Westinghouse" das Leben schwer macht: protestierende Anwohner, launische Finanzmärkte und wählerische Stromkunden. Und so lockt "Atomstroyexport" mit einem Komplett-Service inklusive Kraftwerksbau und -instandhaltung, Standortauswahl und Rückbau, Fachkräfterekrutierung und Personalschulung und Brennstofflieferung.
Exquisite Finanzierungskonditionen in Form von günstigen Krediten aus der russischen Staatskasse sind im Service-Paket enthalten: Dem fast bankrotten Weißrussland will Russland sein erstes Atomkraftwerk mit einem Kredit aus der russischen Staatskasse zu 90 Prozent vorfinanzieren. Rentabel ist das nicht, soviel steht fest. Aber das behauptet ja auch niemand – am wenigsten der Nuklearexporteur selbst. Schließlich ist das erste Unternehmensinteresse von Aleksandr Gluchov nicht die Gewinnmaximierung, sondern die Erfüllung eines Staatsauftrags.
"Was unser Geschäft betrifft, so ist das, einen Markt zu schaffen für die Nuklearindustrie der Russischen Föderation im Ausland. Das ist eine potenzielle Ertragsbasis für andere russische Unternehmen, die zukünftig damit Geld verdienen werden: Die Bereitstellung von Kernbrennstoff, Modernisierungsarbeiten, Servicedienstleistungen und zusätzliche Ausstattung mit Anlagen zur Behandlung von Atommüll und abgebranntem Kernbrennstoff. Wir sind die Agenten der russischen Nuklearindustrie, die die Produktion der staatlichen Nuklearindustrie auf den Weltmarkt bringt."
Hinter dem Verlustgeschäft mit dem Reaktorverkauf stehen die weitaus lukrativeren Langzeit-Lieferverträge für Kernbrennstoff. Uranverkauf, Urananreicherung und Kernbrennstoff-Produktion könnten für die Energiegroßmacht Russland bald zum dritten Standbein neben dem Öl- und Gas-Geschäft werden, glaubt der unabhängige Energieberater, Mycle Schneider, aus Paris. Dieser berät europäische Organisationen und Ministerien in Nuklearfragen, und ist ebenfalls Mitautor des "World Nuclear Status Report".
"Ich gehöre überhaupt nicht zu den Leuten, die meinen, wir würden auf eine Uranknappheit hinarbeiten. Aber die Herstellung von Brennstoff …! Brennstoff wird eingesetzt, solange Reaktoren laufen, und es laufen 437 Reaktoren in der Welt, das ist eine Menge Brennstoff pro Jahr, und das ist ein richtiges Geschäft. Der Reaktorverkauf ist mit Sicherheit nicht profitabel."
Alzenau, eine bayerische Kleinstadt nahe Hanau, ist der Sitz des deutschen Urangroßhändlers "Nukem GmbH". In dem modernen Bürokomplex wird seit einigen Monaten auch Russisch gesprochen.
Zwei Jahre ist es her, dass die "Rosatom"-Tochter "Atomstroyexport" eine Sparte aus dem Großunternehmen herausgekauft hat: Die "Nukem Technologies GmbH" ist ein Spezialist für Atommüll-Behandlung und Atomkraftwerk-Rückbau. Geschäftsführer Ulf Kutscher in Alzenau anzutreffen, ist ein seltenes Glück. Wenn er nicht gerade in Moskau Strategiegespräche mit seinen russischen Kollegen führt, dann begutachtet er den Fortgang von Bauprojekten in St. Petersburg, Bulgarien oder Litauen. Wenn Kutscher aber über den deutschen Atomausstieg redet, dann klingt das dennoch bitter.
"Als Industrie sind wir Outlaws, eine Randgruppe der deutschen Gesellschaft geworden. Auf der anderen Seite wollen wir als kerntechnische Unternehmen weiter in der Branche arbeiten, uns noch verstärkter im Ausland orientieren, da haben wir einen guten Ruf: Die hohe deutsche Sicherheitskultur, die hohe deutsche Ingenieurskunst wird hoch geschätzt im Ausland."
Auf dem Ostmarkt ist "Nukem Technologies" seit langem aktiv: Nach dem Zerfall der Sowjetunion, als die Medien sorgenvoll über die Uralt-Meiler und die überquellenden Atommülllager berichteten, erkannte die Spezialfirma einen neuen Markt mit einem schier unüberschaubaren Auftragsvolumen. Ein Abfallbehandlungszentrum für die strahlenden Altlasten der vier stillgelegten Tschernobyl-Reaktoren wurde zum bekanntesten Referenzprojekt. Es folgten ein Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente am Kernkraftwerk "Ignalina" in Litauen, eine Trockenlagerstätte für abgebrannte Kernbrennstäbe am bulgarischen Kernkraftwerk "Kozloduy" und ein Abfallbehandlungszentrum für das Kernkraftwerk Leningrad. Danach war die Übernahme durch "Atomstroyexport" nur noch der nächste logische Schritt.
Heute gehört "Nukem Technologies" eigentlich in mehrfacher Hinsicht zu den Krisengewinnern. Schließlich wird das Management der strahlenden Altlasten selbst im Falle eines globalen Atomausstiegs noch über Generationen ein krisenfester Markt bleiben. Und jetzt hat der deutsche Atommüll-Spezialist auch noch einen steuergeldfinanzierten, und somit krisensicheren russischen Mutterkonzern im Rücken. "Nukem Technologies" heute, sagt Kutscher, das ist "Rosatoms" Brückenkopf im Westmarkt.
"Ich schätze die Russen sehr als Erfinder. Die haben immer gute Ideen, sind weit gegangen, wenn sie die Ideen gut umsetzen wollen, aber was sie selten geschafft haben, wenn es darum ging, aus diesen Ideen wirtschaftliche Produkte zu machen. Und dann kommen wir mit unseren Erfahrungen ganz gut, und ich habe die eine oder andere Idee, auch für den deutschen Rückbaumarkt, die man gut einbringen kann, die es jetzt gilt zu entwickeln. Und ich glaube schon, dass wir damit eine Symbiose in die andere Richtung bekommen: Russische Technologien mit einem deutschen Unternehmen auf den deutschen Markt gebracht."
Und so ist es gut möglich, dass der russische Staatskonzern bald schon in Deutschland mit der Hilfe von deutschen Ingenieuren deutsche Atomkraftwerke zurückbauen wird. Und das könnte "Rosatoms" Einstieg in den west-europäischen Markt sein. Kutscher selbst sieht an dieser neuen Entwicklung nichts Bedrohliches. Schließlich halten jetzt umgekehrt auch deutsche Sicherheitstechnik und deutsche Sicherheitsstandards in russischen Atomanlagen Einzug. Doch sind die Atomkraftwerke aus dem Hause "Atomstroyexport" nicht auch eine neue Strategie Russlands, immer mehr Staaten in die energiepolitische Abhängigkeit zu bringen?
"Das ist sicherlich eine gewisse wirtschaftliche Abhängigkeit und dient damit auch, Einflusssphären zu erhalten, zu vergrößern und wiederzugewinnen. Ich glaube, das ist international inzwischen gang und gäbe, dass man über Energieanlagen, in diesem Falle Kernkraftwerke, Politik macht."
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Brücke oder Sackgasse - eine Renaissance der Atomkraft?