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"Atomos"
Die Choreografie ist im Fluss

Wayne McGregor leitet eine eigene Tanzcompagnie mit Namen Random Dance. Zugleich ist er aber mit dem Londoner Royal Ballett assoziiert. Er gilt als "Rockstar des Balletts". Sein jüngstes Werk "Atomos" wurde jetzt in Deutschland aufgeführt, beim Festival "Movimentos" in Wolfsburg.

Von Elisabeth Nehring |
    Käfer kriechen und krabbeln - natürlich nicht über die Bühne, sondern über Bildschirme, die von der Decke gelassen werden. Verschiedene 3D-Projektionen zeigen - neben geometrischen Mustern, zerstäubenden Wolkenformationen und apokalyptischen Fabriksilhouetten - allerlei fluoreszierende Insekten, die sich nach und nach zu einer Kugelform zusammenfinden - ein Erdball vielleicht, auf dem es von nervöser Bewegungsenergie nur so wimmelt.
    Auf der Bühne geht es dagegen etwas gefasster zu: neun Tänzer beherrschen hier die Szenerie. Mit ihren ins Endlose gehobenen, ge- oder besser zerdehnten Gliedmaßen und extremen Rückbeugen, den Verdrehungen, ja Verwringungen der klassischen Linien von Armen und Beinen, verqueren Rotationen von Hüfte und Kopf beweisen sie, dass ihnen an Bewegung nichts unmöglich erscheint.
    Undenkbar erscheinende Bewegungsvariationen
    Merce Cunnigham, jener große amerikanische Choreograf des 20. Jahrhunderts, der seine Tänzer durch Computerprogramme trieb und noch im hohen Alter immer neue, bis dato undenkbar erscheinende Bewegungsvariationen erfand, könnte hier als Ahnherr genannt werden. Und genauso abstrakt wie einst bei Cunningham geht es auch bei dem Briten McGregor und seiner fabelhaften Companie Random Dance zu: vielleicht nicht als kleinste, aber immerhin kleine untrennbare Einheiten, als Atome oder Molekühlverbindungen treffen die Tänzer mit den tausend Möglichkeiten in "Atomos" aufeinander. Berührung, Begegnung, Zerstäubung, Auseinanderdriften - die Choreografie ist im Fluss, fern von Bedeutung jenseits ihrer selbst.
    Doch im Gegensatz zu dem Vorgängerstück "Entity" von 2008, in dem Wayne McGregor die Geschwindigkeit mitunter so überdrehte, dass das Auge kaum die Bewegung erfassen konnte, wird die Dynamik hier etwas heruntergefahren. Auf diese Weise kann der Betrachter zwar die Qualität dieser besonderen Bewegungssprache genauer verfolgen, aber so radikal, ja spektakulär wie in "Entity" geht es in "Atomos" nicht zu - sicher auch, weil der Choreograf, der seit 2006 als "resident choreographer" dem berühmten Royal Ballett verbunden ist – sich in der Bewegungsfindung stärker an der klassischen Technik orientiert.
    Kontraproduktive Musik
    Eher kontraproduktiv wirkt die Musik - mitunter bleiern legt sich ein Sound aus Geigen, Klavier und Computer über die Choreografie, wabert recht arg und vermag so gar keine Dynamik oder akustische Dramaturgie zu erzeugen. Ein so schlichtes musikalisches Gespür verwundert bei einem Choreografen, dem Eigenschaften wie Intelligenz, Forschergeist und Experimentierlust als Ruf weit vorauseilen und der tatsächlich gerne und ausgiebig mit komplexen "choreograhic agents" aus dem technisch-wissenschaftlichen Bereich arbeitet: besonderen Softwareentwicklungen für Tänzer z. B., mit denen ihre biometrischen Daten wie Herzfrequenz oder Adrenalinstatus in Choreografie übertragen werden.
    Aber vielleicht hat der Hype um das "Mastermind" der britischen Tanzszene die Erwartungen auch einfach nur extrem hochgeschraubt. Und vielleicht ist Wayne McGregor auch nur ein Choreograf mit Stärken und Schwächen, dessen Tänzer trotz aller frappierenden Tanztechnik und Technologieverbundenheit auch immer nur Menschen bleiben - wenngleich ganz besondere mit unendlich viel mehr Bewegungsmöglichkeiten als wir Normalsterblichen.