
Die Europäer können sich nicht mehr auf die atomare Verteidigung durch die USA verlassen. Präsident Donald Trump hatte schon als Kandidat im US-Wahlkampf damit gedroht, die NATO-Verbündeten im Falle eines russischen Angriffs nicht zu verteidigen. Das Abrücken der zweiten Trump-Administration von der Ukraine und die gleichzeitige Annäherung an Putins Russland führen dazu, dass die militärische Abhängigkeit Europas gegenüber den USA ernsthaft auf den Prüfstand kommt. Debattiert wird nun über eine massive Ausrüstung – und über europäische Atomwaffen.
Mehrere Varianten werden debattiert: EU-eigene Atomwaffen oder eine Europäisierung des französischen Nuklearschirms. Neben Frankreich hat in Europa zudem Ex-EU-Mitglied und NATO-Mitglied Großbritannien Atomwaffen. Über eine nukleare Bewaffnung Deutschlands wird ebenfalls diskutiert.
Welche Rolle spielen die USA bei der nuklearen Abschreckung?
Derzeit basiert die nukleare Abschreckung der NATO für Europa fast ausschließlich auf den Atomwaffen der USA (das Stichwort lautet hier: nukleare Teilhabe). Die US-amerikanischen Atomwaffen dafür lagern in Belgien, Italien, den Niederlanden, der Türkei und auch in Deutschland, etwa im Ruhrgebiet.
Die USA waren für die Europäer über Jahrzehnte hinweg in Fragen der nuklearen Abschreckung ein verlässlicher Partner. Doch das Vertrauen in die Amerikaner hat tiefe Risse bekommen.
Der Grund dafür ist Donald Trump: Dieser hatte schon 2024 bei einem Wahlkampfauftritt den Schutz von NATO-Staaten, die ihre finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllen, infrage gestellt. Seit dem Beginn von Trumps erneuter Amtszeit im Weißen Haus im Januar 2025 nehmen die Zweifel zu. US-Vizepräsident J.D. Vance hatte Europa in seiner Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar aufgefordert, selbst für die eigene Verteidigung zu sorgen ("to step up in a big way to provide for its own defense").
Trumps Aussagen hatten schon 2024 eine Debatte über europäische Atomwaffen ausgelöst. „Die Europäer müssen sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Amerikas Schutzschirm verschwinden könnte und sie allein für ihre Sicherheit sorgen müssen“, so Jan Techau von der Politikberatungsfirma Eurasia Group. „In einer nuklearen Welt heißt das, dass sie selbst nuklear abschrecken können müssen.“
Welche anderen NATO-Länder besitzen Atomwaffen?
Großbritannien und Frankreich sind die einzigen beiden anderen NATO-Mitglieder, die Atomwaffen besitzen. Die beiden Länder gehören neben den USA, Russland und China zu den fünf offiziellen Atomwaffenstaaten. Laut Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (Sipri) verfügte Frankreich 2024 über 280 einsetzbare Sprengköpfe, Großbritannien über 120. Im Vergleich: Russland hatte 2024 nach Sipri-Angaben 1710 einsetzbare Sprengköpfe und die USA 1770.

Die Briten nutzen zur atomaren Abschreckung vier U-Boote mit Atom-Antrieb, von denen immer mindestens eines in den Weltmeeren unterwegs ist. Anders als Frankreich hat London seine Abschreckung auch in den Dienst der NATO gestellt.
Die französische Nukleardoktrin ist laut dem Politologen Herfried Münkler "nur für das Territorium Frankreichs zuständig". Das Land verfügt über vier Atom-U-Boote, von denen Raketen mit Atomsprengköpfen mit einer Reichweite von etwa 10.000 Kilometern abgefeuert werden können. Auch aus der Luft kann Frankreich Atomwaffen einsetzen. Seine Rafale-Kampfjets können die gut 50 Marschflugkörper des Landes mit Nuklearsprengköpfen abschießen. Diese haben offiziell eine Reichweite von etwa 500 Kilometern.
Wie könnte eine europäische nukleare Aufrüstung aussehen?
"Eine Abschreckungsfähigkeit ohne die USA ist eine große Herausforderung", sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Er plädiert für "europäische Atomwaffen". Dieses Projekt einer gemeinsamen atomaren Bewaffnung Europas müsse umfassender sein als die "Addition" der britischen und französischen Fähigkeiten.
Eine "Verstärkung der nuklearen Abschreckung" sei "notwendig", sagt Liviu Horovitz, Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Denn angesichts des schwindenden Vertrauens in Präsident Trump sei die bisherige Abschreckung "weniger glaubwürdig".
Der frühere Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, findet, Europa müsse sich selbst verteidigen können. Er fordert ein „Kerneuropa der Sicherheit“ sowie eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Großbritannien und der Türkei. Zugleich müsse alles getan werden, um die NATO am Leben zu erhalten.
CDU-Chef Friedrich Merz, der in der geplanten Koalition mit der SPD Kanzler werden will, hatte kurz vor der Bundestagswahl gesagt, man müsse mit den europäischen Atommächten Frankreich und Großbritannien über nukleare Teilhabe oder zumindest nukleare Sicherheit reden.
Was bringen Frankreichs Atomwaffen als Schutzschirm für Europa?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Gespräche zur europäischen Dimension der französischen Atom-Abschreckung angeboten. Macron betont aber auch immer wieder, dass die Entscheidung über die französischen Atomwaffen in den Händen Frankreichs und seines Staatschefs bleibt. Bereits jetzt gibt es darüber hinaus eine Beistandsklausel innerhalb der EU.
Der Politikwissenschaftler Ulrich Kühn hatte der alten Ampel-Bundesregierung bereits im vergangenen Jahr geraten, das Angebot Macrons über Gespräche zur atomaren Abschreckung bald anzunehmen. Nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2027 und einem möglichen Wahlsieg der rechtsnationalen Partei Rassemblement National könnte es dafür zu spät sein – Marine Le Pen habe eine nukleare Teilhabe anderer EU-Partner, insbesondere Deutschlands, wiederholt abgelehnt.
Europäische Partner könnten laut Macron an Übungen der französischen Atomtruppen beteiligt werden. Paris könnte seinen Verbündeten vorschlagen, mit Eurofighter-Jets teilzunehmen, sagte der Spezialist für ballistische Waffensysteme Étienne Marcuz der Zeitung "Le Figaro". Auch könnte Frankreich europäische Bomber mit französischen Atomwaffen bestücken, was technisch allerdings nicht so einfach wäre, da die Raketen bislang nur an Rafale-Jets montiert werden können, sagte der ehemalige Atom-U-Boot-Kommandant Jean-Louis Lozier der Zeitung.
Französische Jagdbomber könnten zudem entlang der EU-Grenzen patrouillieren, wie es auch die amerikanischen B52 regelmäßig tun. Außerdem könnten Frankreichs strategische Luftstreitkräfte trainieren, auf Flughäfen in anderen Ländern zu starten und zu landen.
Nach US-Vorbild könnte Frankreich laut Rüstungsexperte Marcuz auch Atomwaffen in Partnerländern stationieren. Aus französischer Sicht müssten die Waffen aber unter strikter französischer Kontrolle bleiben und ihre Lagerorte von französischen Streitkräften geschützt werden.
Es gibt auch skeptische Stimmen: "Das Abschreckungskonzept funktioniert einfacher fürs eigene Land, weil es da um die eigene Existenz geht. Aber würde man auch für ein anderes Land, das 300 Kilometer entfernt ist, bis zum Äußeren gehen?", fragt der Politologe Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr.
Sollte Deutschland über eigene Atomwaffen nachdenken?
Deutschland hat bisher keine eigenen Atombomben und verlässt sich auf die Abschreckung durch die USA, die über die ganze Palette von kleineren ("taktischen") bis hin zu den auch von ballistischen Raketen getragenen ("strategischen") Atomwaffen verfügen.
Der Politikwissenschaftler Frank Sauer spricht sich dafür aus, dass Deutschland selbst über solche Waffen verfügt. Denn um wirklich glaubwürdig zu sein, müsse Deutschland vergleichbar stark auftreten beziehungsweise dem Gegner, also Russland, drohen können. "Es reicht eigentlich, wenn Russland ein Prozent Restunsicherheit hat, ob diese Waffen nicht doch zum Einsatz kommen."
Ganz generell kritisiert Juliane Hauschulz von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen die aktuelle Debatte. Atomwaffen "könnten niemals Sicherheit bringen". Die laufende Diskussion sei auch insofern "gefährlich", da damit geltendes Völkerrecht "angekratzt" werde.
Sie kritisierte außerdem die "Theorie" der nuklearen Abschreckung: "Es gibt ausreichend Studien mit Simulationen, was wäre, wenn jetzt so ein sogenannter taktischer Nuklearschlag passieren würde. Auch der hätte zivile Opfer. Und das würde eben sehr schnell direkt immer in so einen großen Atomkrieg ausarten", so Hauschulz. Es könne aus ihrer Sicht "keine nachhaltige Strategie" sein, sich "auf so was zu verlassen".
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