Beatrix Novy: Seit gestern um diese Zeit hat sich die Welt wieder einmal verändert. Die Tragweite der Anschläge in Paris können wir nur langsam erfassen. Wir versuchen es hier heute erst einmal im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie, mit dem ich jetzt verbunden bin. Guten Abend, Herr Leggewie.
Claus Leggewie: Guten Abend, Frau Novy.
Novy: Sie waren gestern noch in Paris. Stimmt das?
Leggewie: Ich war bei einem Vorbereitungstreffen für die große Klimakonferenz, die Ende des Monats beginnen soll, COP 21, und die ein Klimaabkommen ja schaffen soll, mit dem wir künftig leben sollen. Dann bin ich auch bei dieser Gelegenheit ein bisschen durch Paris, wie man das so macht in November-frühlingshaften Temperaturen, an all die Plätze, die man schätzt. Bin dann rechtzeitig nach Hause und einem Inferno entkommen, das ich dann abends im Fernsehen verfolgen durfte.
Novy: Sie haben Paris also noch als Ihr Paris erlebt, oder unser aller Paris. Diesem Paris ist nun gerade die Besonderheit, urban, also ein Ort der Vielfalt und einer auch für viele zu sein, offenbar zum Verhängnis geworden, denn gerade das hassen offenbar die, die diese Anschläge verübt haben. Sie haben ja danach auch die Orte ausgesucht, oder?
Leggewie: Genau. Sie haben im Bekennerschreiben sich als eine treue Gruppe der Armee des Kalifats verstanden, die die Hauptstadt der Unzucht und Laster angegriffen hat. Das heißt, sie haben sich das Stade de France, wo das Fußballspiel war, die Cafés, die Konzerthalle Bataclan ganz bewusst ausgesucht, und sie schlagen dort zu, wo wir uns erfreuen. Sie haben uns also genauestens ausgeforscht und kennen ja auch selber Unzucht und Laster sehr gut, denn sie sind ja aufgewachsen in dieser populären Kultur, viele von ihnen jedenfalls, und haben sich von ihr in einer radikalen Konversion abgewandt - nicht, weil sie sich irgendwie noch integrieren wollen für ihre Väter und älteren Brüder, sondern weil sie diese Gesellschaft abgrundtief verachten und nicht mehr mögen. Sie möchten eine islamische Republik, einen Gottesstaat auch hier in Europa.
Novy: Das heißt, um es noch mal zu verdeutlichen: Es geht jetzt wirklich speziell gegen, ich sage jetzt einfach mal, uns? Es geht also nicht nur um Abschreckung, wie der alte Terror das getan hat, um Abschreckung durch Beliebigkeit gegen irgendwen, Hauptsache man trifft Zivilisten und verbreitet Angst, sondern es geht tatsächlich gegen Cafés, gegen Restaurants, gegen Bataclan?
Leggewie: Ja. Ich habe das in Algerien erlebt, wo das ja ähnlich begonnen hat. Algier war eine sehr lebensfreudige Stadt und irgendwann gab es keine Cafés mehr. Ich glaube, dass es tatsächlich um diese Lebensart geht. Wo sie zuschlagen ist völlig beliebig, gegen wen sie zuschlagen ist völlig beliebig, aber nicht wo. Das heißt, sie möchten genau diese Plätze, die Urbanität ausmachen, vernichten und sie begründen das mit einem religiösen Weltbild, das der vorgefundenen säkularen Ordnung ganz diametral entgegensteht. Dahinter steht ein strategisches Ziel: Sie möchten die westliche Ordnung destabilisieren. Das wollten andere Terroristen auch schon. Aber sie möchten, dass Europa wieder in Nationalstaaten zerfällt und dass Europa vor allen Dingen keine Flüchtlinge, häufig ja Muslime, mehr hineinlässt, so dass sie sich der Tyrannei von Al Kaida und IS nicht länger entziehen können. Denn immer noch die, die Muslime, sind die Hauptbetroffenen des Terrors.
"Eine Kriegführung, die ganz kalten Herzens und mit nüchternem Verstand durchgeführt wird"
Novy: Sie haben eben gesagt, viele der Attentäter sind in unserer Kultur aufgewachsen, haben sich davon abgewendet. Warum, das wollen wir eigentlich immer noch im Blick behalten. Dahinter steht ja auch das, was Jugendliche oder junge Menschen gerne haben wollen, nämlich anerkannt werden. Und ist nicht gerade in Frankreich dieser Teil der Jugend mit Ausgrenzung und nicht anerkannt sein aufgewachsen?
Leggewie: Das sind sie. Aber das, was jetzt im Moment geschieht, lässt sich nicht mehr mit Erfahrungen aus Exklusion oder mit dem Riss durch die Familien oder mit Bildern aus Gaza, wo Bomben auf Kinder gefallen sind, zur Rechtfertigung heranziehen. Dieser Vernichtungswahn hat eine eigene Gestalt angenommen. Er kann nicht mehr mit sozialer Entrechtung und dergleichen begründet werden. Hier ist eine Strategie im Gange. Das, was dort passiert, ist wirklich eine Kriegführung, die ganz kalten Herzens und mit nüchternem Verstand durchgeführt wird.
Novy: Und wohin kann oder wohin soll das nach dem Willen der IS-Ideologen führen?
Leggewie: Zur Zerstörung Europas und der Werte, die Europa begründet haben, auch der Institutionen, die Europa begründet haben. Nehmen Sie doch einfach das Beispiel. Ich bin nach Paris gefahren, um einen kleinen Minibeitrag zu leisten für ein solches Klimaabkommen. Im Moment redet die Welt nicht mehr vom Klima. Es kann durchaus sein, dass die COP 21, diese große Versammlung vor den Toren von Paris, abgesagt wird. Wir reden jetzt vom Krieg und nicht mehr vom Klima.
Novy: Es sprechen ja jetzt viele oder alle vom Selbstbewusstsein, das nun die freien Gesellschaften aufbringen müssen, um sich dieser Bedrohung zu stellen. Wie könnten Sie sich das vorstellen?
Leggewie: Ich kann mir vorstellen, wenn ich Paris jetzt vor dem Anschlag gesehen habe: Da war ja bereits immer und seit längerem, seit Charlie Hebdo, die Alarmstufe eins nie aufgehoben worden. Es ist eine hohe Militär- und Polizeipräsenz überall zu sehen gewesen und die Pariser sind damit recht lax und unaufgeregt umgegangen. Ich kann mir vorstellen, dass insbesondere im Blick auf die Gefahr, die ja von ganz rechts, von Le Pen, ausgeht, hier auch politische Kalküle eine Rolle spielen. Das sind nun alles Dinge, die man auf Dauer in Rechnung stellen muss. Ich hoffe, dass wir eine ähnliche Reaktion haben wie damals in London 2005, wo es viele Plakate gab, auf denen stand: We are not afraid - wir haben keine Angst. Denn Angst zu bekommen, wäre jetzt das Schlimmste, in Panik zu verfallen, wäre das Schlimmste, und aus diesen Vorfällen dann auch in ganz Europa, auch zum Beispiel in Deutschland den Schluss zu ziehen, dass wir jetzt keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, das wäre verhängnisvoll.
Novy: Vielen Dank für diese Einschätzung und für das Gespräch. Claus Leggewie war das.
Leggewie: Danke.
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