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Attraktiver Asketismus

1968 überstieg die Auflage eines kleinen roten Büchleins die Eine-Milliarde-Schwelle. Damit avancierte die "Mao-Bibel" zum Top-Bestseller des 20. Jahrhunderts. Die Mao-Bibel war Kult auch bei Deutschlands Maoisten. Wehe dem, der es wagte, Maos Worte zu kritisieren!

Von Johano Strasser |
    Es gab Zeiten, da konnte man junge Leute mit Sätzen elektrisieren wie: Keinen richtigen politischen Standpunkt haben bedeutet keine Seele haben, oder: In der Welt von heute ist jede Kultur, jede Literatur und Kunst einer bestimmten Klasse zugehörig, einer bestimmten politischen Linie verpflichtet. Die Sätze entstammen einem kleinen roten Büchlein, das vor vierzig Jahren eine gewisse Sorte junger Revoluzzer in den tiefen Taschen ihres Parka mit sich führte, um jederzeit zum Zwecke der Belehrung Andersgläubiger daraus zitieren zu können.

    Wenn man heute, vierzig Jahre danach, in der Mao-Bibel liest, fällt es einem schwer zu begreifen, was daran seinerzeit für intelligente junge Leute aus dem Westen interessant sein konnte. Über Hunderte von Seiten werden im marxistisch-leninistischen Jargon verpackte schlichte Handlungsanweisungen an die Mitglieder einer Partei gegeben, deren Hauptaufgabe darin bestand, ein Bauernvolk von damals mehr als 600 Millionen zu kleiden, zu ernähren und ihnen die rudimentärste Bildung zu vermitteln. Mit der Lebenswelt der aufbegehrenden Studenten der westlichen Länder hatte das alles nichts zu tun.

    Aber es eignete sich für die rhetorische Untermalung der revolutionären Maskerade, die die maoistischen K-Gruppen an deutschen Universitäten aufführten. Sich mit dem revolutionären Kampf am anderen Ende der Welt zu identifizieren, verlieh jeder Schulung, jedem Flugblatt, jedem Sit-in oder Go-in eine gleichsam welthistorische Dimension.

    Weil die maoistischen Sektierer keinerlei Sinn für Komik hatten, fiel ihnen gar nicht auf, welch blühender Blödsinn da zum Teil als wegweisende Einsicht des "größten Marxisten-Leninisten aller Zeiten" angeboten wurde. So, wenn es von der kommunistischen Partei einmal heißt: Führt sie keine richtige Politik durch, dann betreibt sie eben eine falsche. Oder im Kapitel 'Denkweise und Arbeitsmethoden': Die Dinge in der Welt sind kompliziert, sie werden von allen möglichen Faktoren bestimmt. Scharf beobachtet, möchte man da mit Loriot sagen.

    Ich erinnere mich, dass ich einmal auf einer studentischen Vollversammlung an der Pädagogischen Hochschule in Berlin einem Vertreter der KPD-AO, der soeben mit Bezug auf die gesammelten Worte seines Großen Vorsitzenden die "allgemeine Volksbewaffnung" gefordert hatte, entgegenhielt, dass seine Forderung bisher nur in einem Land erfüllt worden sei: in den USA. Während die große Mehrheit der Studenten mir amüsiert Beifall klatschte, trat der selbsternannte Revolutionär ans Mikrofon und sagte mit grimmigem Ernst: So etwas kann nur jemand sagen, der die historisch-materialistische Denkweise des Vorsitzenden Mao Tse-Tung nicht begriffen hat.

    Letzten Endes, denke ich, war es der die Mao-Bibel durchwehende Geist eines revolutionären Asketismus, der damals manchen Sinnsuchern unter den Wirtschaftswunderkindern attraktiv erschien. Disziplin, Konsequenz, die Unterwerfung unter eine nicht zu hinterfragende Parteilinie, so etwas kann, wie wir auch heute wieder am wachsenden Einfluss religiös-fundamentalistischer Strömungen erkennen, Menschen, zumindest zeitweise, Stabilität verleihen, wenn sie in einer Welt verwirrender Möglichkeiten und dissonanter Meinungen die Orientierung zu verlieren drohen.

    Dass die Mao-Bibel noch einmal wieder zu Ehren kommt, ist höchst unwahrscheinlich. Aber das heißt keineswegs, dass unsere globalisierte Welt gegen dogmatischen Unfug gefeit ist. Wer die mit Anglizismen gespickten Banalitäten zur Kenntnis nimmt, die heute nicht selten als Inbegriff ökonomischer und politischer Vernunft dargeboten werden, wer hört und liest, was Unternehmensberater, Trendforscher und Erfolgstrainer zuweilen als letzte Weisheit des Westens verkünden, dem können leicht Zweifel kommen, ob unser Zeitalter tatsächlich so aufgeklärt ist, wie es tut.

    Johano Strasser erinnerte an die "Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung" - die "Mao-Bibel", ISBN: 978-3880212374.