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Auch Gastgeberland Russland leidet unter Wachstumsschwäche

Die Wachstumsdynamik in der Welt hat sich verschoben – zu diesem Schluss kommt nun auch der Internationale Währungsfonds in einem vertraulichen Papier für den anstehenden G20-Gipfel. Und zwar zulasten der Schwellenländer, die in den vergangenen Monaten unter einer massiven Kapitalflucht gelitten haben. Auch das Gastgeberland Russland leidet unter einer hohen Inflationsrate und schwachem Wachstum.

Von Thomas Franke |
    Ein Luxussupermarkt in Moskau gegen Abend. Eine Frau kauft ein dunkles Brot, umgerechnet sieben Euro, Tomaten, das Kilo für zwölf Euro. Sie hat auch noch eine Flasche gewöhnlichen französischen Rotwein auf dem Band für 40 Euro. Draußen steigt sie in einen Mercedes 500. Im Zentrum Moskaus wird konsumiert, als wäre nichts gewesen. Dabei hat die Regierung bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr die Wachstumsprognose nach unten korrigiert. Von zunächst 3,6 Prozent auf jetzt 1,8. Auch die Wachstumsprognose für das nächste Jahr wird niedriger ausfallen, als erwartet. Sergei Guriew ist Wirtschaftsprofessor und war bis zum Frühjahr einer der Berater von Ministerpräsident Dmitri Medwedew. Ein Problem, warum die Entwicklung stockt, sei die Inflation, sagt er.

    "Es ist offensichtlich, dass das heutige Wachstumsmodell in einer Sackgasse steckt. Man muss aber das Rad nicht neu erfinden. Man muss einfach eine sehr einfach Formel lernen: Die Zentralbank wacht über die Inflation, das ist auf der ganzen Welt so. Und für Wachstum sind die Politiker zuständig. In Russland wird aber die Zentralbank mit in die Verantwortung für das Wachstum genommen. Deshalb ist bei uns die Inflation so hoch. Russland hat die höchste Inflation aller G20 Staaten. Das darf nicht sein."

    Viele liberale Ökonomen fordern derzeit Reformen. Guriew hat das als einer der Ersten getan, eckte an, sagt, er wäre bedroht worden und hat das Land verlassen. Zurzeit lebt er in Paris.

    Russlands fragile Stabilität beruht auf Rohstoffen, Öl und Gas. Die Gewinne werden benutzt, um unter anderem Sozialausgaben zu leisten. Guriew fordert, die Staatsbetriebe zu entmachten und faire Bedingungen für private Betriebe zu schaffen.

    "Als Putin 1999 an die Macht kam, hatte Russland unglaubliche Wachstumsquellen. Die Rubelabwertung hat damals große Möglichkeiten für Wirtschaftswachstum eröffnet. Die Ölpreise begannen zu steigen, diese unglaubliche Preissteigerung hat das Wirtschaftswachstum in Russland befördert. Heute sind alle diese Wachstumsquellen erschöpft. Es gibt in Russland keine billige Arbeitskraft mehr, wie vor 15 Jahren. Und der Ölpreis wird wohl kaum weiter steigen."

    Alexej Muchin, Analyst und eher dem Regierungslager zuzurechnen, widerspricht dieser Einschätzung:

    "2008/2009 sind der Öl und Gaspreis sehr stark gefallen. Das hat sich aber überhaupt nicht auf Russlands Realwirtschaft ausgewirkt. Okay, die Fondsmärkte sind zusammengebrochen, aber der Fondsmarkt in Russland ist verschwindend klein."

    Russland hat kein Schuldenproblem. Denn seit der Regierung von Vladimir Putin wurde ein Teil der Gewinne aus den Rohstoffgeschäften in einen Reservefonds gesteckt. Der ist quasi das Tafelsilber, um bei sinkendem Ölpreis die Staatsausgaben zu sichern. In diesem Sommer hat Putin angekündigt, mit einem Teil dieser Reserve große Infrastrukturprojekte zu finanzieren, zum Beispiel einen neuen Autobahnring um Moskau. Das eigentliche Problem ist aber, dass in Russland zu wenig produziert wird. Der Grad der Beschäftigung ist extrem instabil, ebenso Preise und Zinsen. Guriew:

    "Das Kapital verlässt Russland, statt zurückzukommen, obwohl es kein Problem mit der makroökonomischen Situation gibt, obwohl es einen ausgeglichenen Haushalt gibt, obwohl es einen großen Reservefonds gibt, obwohl es in anderen Ländern und in Europa Probleme gibt, und obwohl der Ölpreis hoch ist. Und da geht es nicht nur um ausländisches Kapital, sondern auch die russischen Unternehmer bringen ihr Geld ins Ausland, weil das Investitionsklima zu schlecht ist."

    Hinzu kommt die Inflationsgefahr. Experten fordern, die Zinsen zu senken, um Wachstum anzukurbeln. Auch im Putinlager ist man sich dessen bewusst. Alexej Muchin gibt den Banken einen Teil der Schuld an der Misere.

    "Sie manipulieren lieber, schieben das Geld von Russland ins Ausland und zurück, und vergrößern den Kapitalzu- und abfluss damit bis zu einem katastrophalen Ausmaß. Zum Entsetzen der Zentralbank und der Investoren. Dabei bewegen sie so viel Geld, dass niemand etwas dagegen machen kann. Die Regierung und der Präsident stehen vor praktisch unerfüllbaren Aufgaben. Denn die Leute, die so Geld verdienen, werden damit nie aufhören."

    Russland steht offensichtlich vor einer neuen Krise. Und Lösungsansätze sind derzeit nicht in Sicht.