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Auf "Banitis" durch die Zeiten

Gulbene, eine rund 200 Kilometer von Riga entfernte lettische Kleinstadt, ist Ausgangspunkt und Endstation der "Banitis", der letzten Schmalspurbahn des Baltikums. Das Bähnchen sieht aus wie ein richtiger Eisenbahnzug. Doch hier ist alles ein paar Nummern kleiner.

Von Toms Ancitis und Jutta Schwengsbier |
    Während seine "Banitis", sein kleines Bähnchen, langsam in den Bahnhof rollt, blickt Aleksandr Belajev kurz aus dem Fahrerstand. Wie viele Fahrgäste wollen heute mit? Ach, heute sind es nur sehr wenige. Zwei Wagen reichen.

    In kaum einer Minute sind die Waggons angekoppelt, dann kann es losgehen. Wie fährt sich so ein kleines Bähnchen? Jeden Tag in eine Lokomotive zu steigen war schon sein Kindheitstraum, sagt Aleksandr Belajev.

    Der Fahrersitz seiner "Banitis" ist hier kein Sitz, sondern ein Stehplatz. Um die Strecke vor der Lokomotive überzusehen, muss der Lokführer stehen statt sitzen. Sonst gibt es keinen deutlichen Unterschied einer Breitspur- und einer Schmalspurbahn.

    "Hier ist einfach alles kleiner – die Schienen, die Werkzeuge. Sonst gibt es keinen Unterschied. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 35 Kilometern pro Stunde. Je nach der Strecke fahre ich manchmal schneller, manchmal langsamer. Aber diese Grenze überschreite ich nie."

    Aleksandr Belajev ist schon sein ganzes Leben Lokführer. Einen anderen Beruf könnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

    "Ich stamme aus einer Eisenbahnerfamilie. Mein Großvater und Vater haben beide ihr ganzes Leben bei der Eisenbahn gearbeitet. Ich war erst Assistent eines Lokführers der Breitspurbahn, dann danach wechselte ich nach Gulbene zur Schmalspurbahn und bin bis heute der Banitis-Lokführer."

    Der Netzwerk der Schmalspurbahn wurde im Baltikum gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet. Insgesamt wurden damals rund 1100 Kilometer Schienenstrecken aufgebaut, erzählt Aldis Kreislers, der Leiter der Bahnfirma.


    "Damals gab es keine Autobahnen. Es gab auch noch sehr wenige Autos. Die Schmalspurbahn aufzubauen war am einfachsten. Es reichte den Untergrund zu glätten, die Eisenbahnschwellen zu verlegen, die Schienchen anzunageln und schon war die Bahn fertig. Als später die Autobahnen und die großen Eisenbahnen in der Sowjetzeit kamen, begann die Schmalspurbahn langsam zu sterben."

    Überlebt hat die Schmalspurbahn von Gulbene nach Aluksne, eine 33 Kilometer lange Strecke. Sie ist die einzige noch regelmäßig fahrende schmalspurige Bahn im ganzen Baltikum. Banitis gilt als kulturhistorisches Denkmal. Inländische und ausländische Touristen kommen nach Gulbene, um das historische Fahrerlebnis zu genießen. Anita und Andris haben sich zu einem Spontanurlaub entschlossen. Beide kommen aus Jurmala, einer Stadt an der Küste des Baltischen Meeres, 200 Kilometer entfernt. Andris schaut aus dem Fenster und freut sich über einen Fuchs, der durchs Gras rennt. Am blauen Himmel fliegen drei weiße Störche zu ihrem Nest. In die Ferne stehen drei Dammhirsche. Ohne Furcht blicken die Tiere kurz zum vorbeifahrenden Bähnchen herüber und grasen dann in Ruhe weiter."

    "Diese Landschaften erinnern mich an meine Kindheit: Bei uns gab es auch eine Schmalspurbahn, die zwischen der Kleinstadt Ligatne und einer Papierfabrik pendelte. In eine Richtung wurden Papierrollen transportiert, in die andere Richtung Kohle und Werkstoffe. Unsere Schmalspurbahn wurde eingestellt. Sogar die Schienen sind weg."

    Stameriena ist eine der beliebten Haltestellen, an der die Touristen gerne aussteigen. Es ist ein kleines Dorf mit einem See. In der Nähe der Bahnhaltestelle liegt ein alter Friedhof. Die Familiennamen geben einen Einblick in die Geschichte Lettlands. Sie zeugen von einem früher hier lebenden Vielvölkergemisch: "Martinson", "Ostrowska", "Konstantinov", "Hinzenberg", "Gramatins". Es waren Schweden, Russen, Deutsche, Polen. Letten. Genauso unterschiedlich wie die Namensfamilien sind die historischen Häuser in Stameriena. Ein Stück entfernt vom See liegt ein altes Herrenhaus. Eine alte Frau, die neben der Straße Holzzweige verbrennt, zeigt uns die Richtung.

    "Gerade aus, dort links liegt das Schloss!"

    Es ist das prächtigste Schloss im Stil der französischen Neo-Renaissance, das man in Lettland finden kann. Das Gebäude wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgebaut. Früher lebte hier die Baronin Alexandra Wolff-Stomersee, eine praktizierende Psychoanalytikerin. Ihr Mann, der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa, den sie heimlich im Jahr 1932 heiratete, kam im Sommer zu Besuch.

    Nach dem kurzen Zwischenhalt am See geht die Reise weiter. Die Schmalspurbahn wird nicht nur von Touristen benutzt. Der Zug ist einzigartig, auch weil er immer noch Teil des normalen öffentlichen Nahverkehrs ist. Der Staat subventioniert die Tickets für die Kleinbahnreisen genauso wie für die reguläre Eisenbahn. Für die 67-jährige Rentnerin Anda, die in einem Dorf zwischen den Kleinstädten Gulbene und Aluksne lebt, ist die Schmalspurbahn das einzige Verkehrsmittel, mit dem sie zum Einkaufen in die Stadt fahren kann. Mit der Kleinbahn fährt sie schon ihr ganzes Leben.

    "In meiner Kindheit gab es häufig Brände. Weil wir nahe der Gleise lebten, sollte ich mit meinen Brüdern oft löschen gehen. Wenn ein Funke aus dem Schlot der Lokomotive ins Gras fällt, dann entzündet sich das Gras. Das passierte oft auch nachts. Mein Bruder weckte mich dann auf und sagte: "Komm, ziehe deine Stiefel an, gehen wir das Feuer löschen!" Er hatte den Brand aus seinem Fenster gesehen. Einmal brannte sogar der Wald. Wir löschten und löschten, bis wir es endlich auslöschten."

    Nicht an alle Bahnreisen erinnert sich Anda gerne. Sie war gerade drei Jahre alt, als sie aus Gulbene in einem großen Viehwaggon deportiert wurde. Im März 1949 wurden knapp 100.000 Letten von Sowjettruppen nach Sibirien verschleppt. Warum? Weil ihre Familie nach Ansicht der Kommunisten einfach zu reich war.

    "Meine Mutter mit drei Kindern – ich und meine zwei Brüder – wurden in die Region Tomsk geschickt. In Tomsk kamen wir drei Kinder ins Krankenhaus. Wir waren schwer krank nach der harten Reise nach Sibirien."

    Erst nach acht Jahren, nach Stalins Tod, durften die Deportierten zurück in ihre Heimat. Aber was ist denn das? Noch während Anda weiter erzählt, ist der Zug plötzlich stehengeblieben. Ein Mann springt in den Wagen, mit einer Pistole in der Hand.

    "Überfall! Überfall! Alle müssen raus, raus, raus! Überfall! Überfall!"

    Alle Fahrgäste werden aufgefordert, ihre Wertsachen abzugeben. Was nun? Mitten im Wald würde es lange dauern, bis die Polizei kommt. Hätten wir gewusst, dass eine Bahnfahrt so gefährlich sein kann ...Glücklicherweise klärt sich die Lage bald auf. Eine Gruppe der Touristen hat die Räuber bestellt. Ja, tatsächlich - die Bahnfirma bietet Raubüberfälle als Serviceleistung an. Der Räuber ist ein Scheinräuber, eigentlich Raitis Melders, einer der Manager der Firma.

    "Wenn die Leute vorher nicht wissen, dass in der Bahn ein inszenierter Überfall stattfindet, sind sie immer ziemlich schockiert. Das ist dann eine echte Überraschung. Am Anfang fährt die Bahn in eine simulierte Rauchwolke, hält an und dann renne ich mit meinem Kollegen entlang des Wagens und schieße mit leeren Patronen. Danach steigen wir ein und rauben allen Fahrgäste aus. Später geben wir natürlich alle Sachen zurück. Aber sie müssen zurückgekauft werden, indem jeder eine bestimmte Aufgabe erfüllen muss. Bei einem Waldspaziergang muss jeder einen Räuberschwur ablegen. Es muss alles aufgegessen werden, was wir anbieten und alles getan, was wir fordern. Dann singen wir zusammen eine Räuber-Hymne und essen den Räuber-Brei."

    Nach dem kurzen Abenteuerausflug fährt der Zug wieder zum Bahnhof Gulbene. Wer noch einen Schlafplatz sucht, muss nicht weit gehen. Direkt im Bahnhofsdepot werden Übernachtungen in einem authentischen Eisenbahnwagen angeboten. In einem Waggon, in dem zu Sowjetzeiten die Bossen der kommunistischen Partei durch die Sowjetunion reisten.