Arslanbob ist ein Dorf im Landesinneren Kirgistans - zehn Stunden Fahrtzeit entfernt von der Hauptstadt Bischkek, in der die wenigen Reichen des Landes wohnen. Gleich hinter Arslanbob ist am Horizont der 4400 Meter hohe Berg Baybashata zu erkennen. Das Dorf liegt schon auf 1.700 Metern Höhe, doch von hier aus geht es über einen felsigen Weg noch viel höher hinauf in die Berge.
Kirgistan, auch Kirgisien oder Kirgisistan genannt, besteht zu 93 Prozent aus Gebirge. Deshalb gibt es wenig Landwirtschaft. Stattdessen treiben Hirten ihre Viehherden über Hochalmen. Knapp unterhalb der Baumgrenze stehen noch ein paar letzte Birken. Dahinter taucht eine große Wiese auf. An deren Rand steht eine Holzbude, etwa vier Mal vier Meter klein. Die Wände bestehen aus dünnem Sperrholz.
Vor den Fenstern kleben Plastikplanen, eine Plane auf dem Dach soll vor Regen und Schnee schützen. Vor dem Eingang flattert an zwei Holzstangen ein Vorzelt im Wind. Aus einem Ofenrohr, das waagerecht aus einer der Wände ragt, kommt Rauch. Hinter einer Fensterplane sind zwei Kinderköpfe zu erkennen. Da eilt strammen Schrittes ein Mann von der Wiese herbei. Er lächelt - der Besuch scheint ihn zu freuen. Hier oben werden wohl nur wenige Menschen vorbeischauen.
"Ich hüte hier Ziegen, Schafe und Pferde. So verdiene ich mein Geld. Und das seit sechzehn Jahren. Damals, nach der Schule, hatte ich überhaupt kein Geld. Da blieb mir nichts anderes übrig, als schnell Hirte zu werden. Wir ziehen auf die Hochweiden, sobald der Frühling kommt, meist Anfang April. Hier oben haben wir ein paar Hütten wie diese hier, damit wir zwischen den Almen hin und her ziehen können. So finden wir immer irgendwo grünes Gras. Sobald im Herbst zum ersten Mal viel Schnee fällt, gehen wir dann wieder hinunter ins Dorf. Dort können wir im Haus meines Vaters überwintern."
Sadiev Kotolok zieht mit seiner Familie während der warmen Jahreshälfte hoch auf die Almen und während der kalten Jahreshälfte unten in eine feste Behausung. Geografen sprechen von "Halbnomadismus". Diese Lebensweise hat in Kirgistan eine lange Tradition: Vor mindestens 1500 Jahren zogen hier die ersten Hirten durchs Land.
Nun sind Kotoloks Frau und die beiden kleinen Söhne in der Hütte zu hören. Die Familie hat kein leichtes Leben hier oben: Als Toilette steht dreißig Meter weiter ein Donnerbalken, dessen Gehäuse gerade bis zu den Knien reicht. Zum Waschen gibt es nur einen eiskalten Bach. Nach alter Sitte breitet Kotolok Kissen und ein Tuch aus. Dann serviert er Brot, Äpfel, Bratkartoffeln und schwarzen Tee.
Seine Herde grast in etwa fünfzig Metern Entfernung. Nachts muss er sich auf seine beiden Schäferhunde verlassen, tagsüber wacht er selbst. Über hundert Ziegen und jeweils ein Dutzend Pferde und Kühe - damit würde er zur kirgisischen Mittelschicht gehören. Doch die Tiere gehören Kotolok gar nicht.
"Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden plötzlich Hirten gesucht, die für die Nachbarn auf deren Tiere aufpassten. Denn damals waren die Herden der staatlichen Kolchosen gerade privatisiert worden. Mein Vater war arbeitslos und meldete sich. Als er später zu alt wurde, habe ich seinen Job übernommen. Ich besitze selbst keine Tiere, ich bewache nur fremde. Es ist sehr schwer, auf so viele Tiere gut aufzupassen. Und ich bekomme nur einen geringen Lohn für diese harte Arbeit: für die Ziegen zum Beispiel 60 Cents pro Tier und Monat. Das ist wirklich sehr, sehr wenig."
Wenn nachts ein Wolf ein Schaf tötet, muss Kotolok dem Besitzer das Tier ersetzen: Über 20 Euro kostet ihn das jedes Mal. Kotoloks Vater erhielt damals bei der Privatisierung nur wenige eigene Tiere, weil er zuvor in seinem Kolchos nur aushilfsweise gearbeitet hatte. Diese Tiere starben während des nächsten Winters. Als Sadiev Kotolok 1995 von der Schule abging, war Kirgistan bereits vier Jahren unabhängig und die alte Infrastruktur kollabiert. Er musste seine beruflichen Ambitionen aufgeben.
"Ich wollte eigentlich praktischer Arzt werden. Während der Sowjetzeit konnten noch alle Begabten studieren. Ob man Geld hatte, war nicht wichtig. Meine beiden älteren Brüder konnten damals noch eine richtige Berufsausbildung machen. Doch dann brach die Armut über uns herein. Und ich musste als Hirte arbeiten. Das Leben in Not ist uns geblieben: Viele Leute im Dorf haben Probleme, einige kommen gerade so zurecht, und nur wenige sind wirklich gut dran. Ich bin heute noch sehr enttäuscht, dass ich nicht Arzt werden konnte. Aber jetzt lebe ich halt hier oben in aller Ruhe. Und ich mag die Tiere."
Nach einer Weile trauen sich zuerst die Schäferhunde heran, dann auch die Mutter mit den beiden Kindern. Die Kleinen sind in dicke Wollsachen verpackt. Zu Ehren des Besuchers wäscht ihnen die Mutter Schmutz und Schorf aus dem Gesicht, obwohl der Lappen furchtbar kalt sein muss. Solange die Sonne scheint, ist es zwar über 20 Grad warm. Doch das Waschwasser kommt direkt aus dem Bach. Spätestens in zwei Jahren werden die Kinder in die Schule gehen. Dann möchte Herr Kotolok das ganze Jahr über unten im Dorf leben:
"Wenn die Kinder im Dorf zur Schule gehen, müssen sie dort auch schlafen. Es wäre sehr schwer für sie, dort ohne uns zu leben, immer nur bei Verwandten. Wir wollen lieber zusammenbleiben. Ich könnte dort unten Kartoffeln anbauen. Allerdings brauche ich dafür erst einmal ein Feld. Und ein Pferd zum Pflügen. Aber zum Glück hat mein Vater ein kleines Feld, das er uns dann hoffentlich überlässt."
Klassische Jurten, wie sie noch heute überall in der Mongolei zu sehen sind, kennt Kotolok nicht mehr. Dabei würde eine Jurte optimal gegen das raue Klima schützen: Denn an den Rundzelten gleitet Wind elegant vorbei. Die Wände aus Filz und Fell halten Kälte und Hitze draußen. Ein verschließbares Loch in der Decke lässt frische Luft herein. Doch in Kirgistan galten die Jurten zu Zeiten der Sowjetunion als Symbol der Rückständigkeit. Heute weiß hier praktisch kaum noch jemand, wie man überhaupt eine herstellt. Stattdessen hausen die Kotoloks nun in einer eckigen Holzschachtel mit Plastiküberzug: schlecht isoliert und dem Wind ausgesetzt. Herr Kotolok befürchtet, dass die Kinder krank werden könnten wegen der kalten Nächte, in denen es bereits friert. Das käme ihm heutzutage sehr teuer zu stehen.
"Auch die Ärzte haben sich verändert. Während der Sowjetzeit waren sie verpflichtet, alle Menschen zu behandeln. Ob sie wollten oder nicht. Jetzt sorgen sie vor allem für Patienten, die Geld haben. Manche Ärzte kommen zwar auch noch gratis zu den einfachen Leuten. Aber in Arslanbob gibt es solche Ärzte kaum noch."
Der Bezirk Naryn liegt östlich von Arslanbob. Auf der Fahrt über Land begegnet man immer wieder Kamelherden: Sie werden heute wieder als Lastentiere eingesetzt. Lastwagen und landwirtschaftliche Maschinen rosten - vor großen, halb verfallenen Fabrikhallen, von denen die meistens leer stehen.
Auf einer Hochebene taucht plötzlich auf über 2000 Metern Höhe ein Anwesen auf: mit riesigen, leeren Ställen und Schuppen, deren Dächer teilweise eingefallen sind. Dahinter sind rostige Bauwagen zu erkennen und ein Steinhaus, das einigermaßen intakt wirkt. Vor dem Haus stehen Schafe, Hunde und ein Mann mit einem Baby auf dem Arm. Wie überall in Kirgistan werden Fremde gleich hineingebeten.
Drinnen geht es gemütlich zu: Ein riesiger Ofen ist so geschickt in die Hauswände eingebaut, dass er gleich in drei Zimmer ragt und sie beheizt. Gesessen wird auf niedrigen Betten und Sofas, der Tisch ist kaum kniehoch. Der Gastgeber öffnet die Tür des Küchenschranks, greift hinein und serviert dann alles, was er dort gerade findet: Tee, Nüsse, Plätzchen, Äpfel und allerlei lokale Spezialitäten für Liebhaber - wie gegorene Stutenmilch und fette Suppe, in der undefinierbare Fleischstücke schwimmen.
Bald ist auch die Dame des Hauses dabei. Kirgistan ist zwar formal wieder ein islamisches Land geworden, doch nach Jahrzehnten des sowjetischen Atheismus fällt der kirgisische Islam milde aus. Viele Kirgisinnen fallen eher durch ihre freche Garderobe auf. Frau Essenturowitsch trägt zwar immerhin ein Kopftuch, doch das soll wohl eher beim Melken ihre Haarpracht bändigen. Die Ärmel ihres Pullovers hat sie weit hochgezogen. Unbekümmert sitzt sie als einzige Frau zwischen den Männern. Ihr Ehemann, Sarlakow Samat Essenturowitsch, erzählt zur Geschichte des Anwesens:
"Während der Sowjetzeit stand hier ein Kolchos. Es war eine Menge los: Es gab ein Geschäft und sogar eine Tankstelle. Ständig kamen Lastwagen und lieferten Tierfutter an, vor allem Getreide. Das Futter wurde weiterverteilt an die vielen Hirten, die damals hier vorbeizogen. Allein hier auf dem Gelände wurden etwa fünfhundert Schafe gehalten."
Selbst die Hirten waren damals eingebunden in die Staatswirtschaft: als Angestellte der Kolchosen, von denen sie ihre Routen und Aufgaben genau vorgeschrieben bekamen. Inzwischen kommt kaum noch jemand hier oben vorbei. Und Tierfutter zum Verteilen gibt es auch nicht mehr. Stattdessen weiden auf den umliegenden Wiesen nur noch die Tiere von Herrn Essenturowitsch: 20 Pferde, zehn Kühe und 25 Schafe. Das Winterfutter für seine Tiere mäht er selbst in der Umgebung. Die kleine Viehwirtschaft läuft anscheinend gut: Die Familie verwahrt ihren Hausrat in hübsch verzierten Holzkisten. An der Wand hängt eine poppige, übergroße Armbanduhr. Und ein Ölgemälde zeigt den Vater von Herrn Essenturowitsch auf dem Roten Platz in Moskau. Bei der Privatisierung des früheren Kolchos scheint die Familie geschickt vorgegangen zu sein. Herr Essenturowitsch erzählt:
"Nach dem Ende der Sowjetunion wurden die Kolchosherden aufgelöst und die Tiere an die einzelnen Familien verteilt. Seitdem bleiben viele Hirten mit ihren Herden das ganze Jahr über unten in der Ebene. Bald standen hier fast alle Ställe leer. Aber mein Vater entschied, dass wir alleine oben bleiben. Jahrelang schaute praktisch niemand mehr vorbei, auch die Behörden nicht. Da entschied mein Vater einfach, dass das jetzt alles uns gehört: das Haus, die Ställe und so weiter. Die Regierung hat sich darum bis heute nicht gekümmert."
Herr Essenturowitschs Vater erinnert an den braven Soldat Schwejk und dessen durchtriebene Art, das Leben zu meistern: In den Wirren der Übergangszeit wurde er mitsamt Familie offenbar hoch oben auf der Alm vergessen. Da nahm er sich einfach, was er brauchte. Und tatsächlich bemerkte niemand etwas.
Dass die meisten anderen Viehzüchter inzwischen unten im Tal bleiben, hat gute Gründe: Weitere Herden hätten hier oben mittlerweile keine Chance mehr. Die nahen Wiesen reichen gerade für Herrn Essenturowitschs Tiere aus. Die Lastwagen, die früher Viehfutter hochbrachten, kommen längst nicht mehr. Selbst die Schuppen, in denen Hirten früher übernachten konnten, sind eingestürzt. Unten in den Tälern sind die Wiesen mittlerweile überweidet: Der Tierbestand rund um Arslanbob hat sich seit dem Ende der Sowjetunion verdoppelt. Die Tiere gelten nämlich in der neuen, unsicheren Zeit als sichere Kapitalanlage: Jeder kauft so viel Vieh, wie er kann.
"Damals im Kolchos bestimmte die Betriebsleitung, wer wo weiden sollte. Im Sommer mussten alle hoch, damit unten das Gras nachwachsen konnte. Seit 1991 macht jeder, was er will. Und für die meisten Hirten ist es bequemer, einfach unten zu bleiben. So geht das nun seit Jahren. Erst vor ein paar Wochen kamen erstmals wieder Hirten hier vorbei. Sie erzählten uns, dass die Dorfverwaltung sie hoch geschickt habe. Vielleicht wird den Beamten da unten ja endlich mal klar, dass das Gras auch nachwachsen muss."
Überall in Kirgistan sind Teile des Bodens in öffentlichem Besitz geblieben: In Arslanbob ist das vor allem ein riesiger Wald voller Walnussbäume, 300 Quadratkilometer groß, der weltweit größte natürliche Bestand. Die Nussbäume werden jetzt an Privathaushalte verpachtet. Die Verträge laufen immer nur über fünf Jahre – danach entscheiden Forstbeamten über eine eventuelle Verlängerung. Für die unterbezahlten Entscheidungsträger ist das oft ein lohnendes Geschäft.
Pech hat dagegen, wer sich Schmiergelder nicht leisten kann und auch nicht zu den Respektspersonen gehört: In Arslanbob kann man zwar auch für wenig Geld Nussbäume pachten. Aber die stehen dann nicht bequem am Dorfrand, sondern weit weg mitten im Wald.
Dorthin führen viele Pfade auf und ab, über unzählige Hügel. Eine schweißtreibende Tour. Immerhin ist es schattig: Die Bäume stehen so dicht, dass nur wenig Tageslicht bis zum Boden durchdringt. In dem dunklen Wald braucht sich aber niemand zu fürchten: Zumindest zur Erntezeit schlagen hier viele Menschen wochenlang ihre Zelte auf. Kinder führen Kühe und Schafe an Leinen durch den Forst spazieren. An Feuerstellen wird Essen gekocht.
Eine Frau mittleren Alters hockt gemeinsam mit einem etwa 12-jährigen Jungen in einem behelfsmäßigen Zelt: Die beiden haben Äste zu einem Gerüst zusammengebunden und über dieses Konstrukt eine Plastikplane geworfen. Drinnen liegen zwei fingerdicke Matratzen auf dem harten Waldboden. Daneben stapelt sich allerlei Hausrat in Säcken, Taschen und Truhen. Einfache Steppdecken sollen die beiden vor Kälte schützen, obwohl es nachts schon friert. Neben dem Zelt steht die Ernte der vergangenen Woche: sechs riesige Säcke voller Walnüsse. Die Frau heißt Djerojova Gulnara:
"Wir wohnen jetzt schon seit zwanzig Tagen hier im Wald. Immerhin haben wir bald alle Nüsse von unseren Bäumen geerntet. Erst dann können wir wieder zurückgehen ins Dorf. Denn die Nüsse sind unsere einzige Einnahmequelle für das gesamte Jahr. Wenn die Ernte schlecht ausfällt, trifft uns das sehr. Dieses Jahr haben wir Glück im Unglück: Das Wetter war zwar ungünstig. Deshalb wächst in diesem Jahr an vielen Bäumen gar nichts. Aber hier bei uns geht es gerade noch so: Wir haben immerhin einige Nüsse ernten können."
Früher hat ihr Vater im Nussbaumwald als Förster gearbeitet, erzählt Djerojova Gulnara. Damals führten noch passable Pisten durch den Wald. Mit vielen anderen Kollegen kümmerte er sich um die Forstwege. Zur Erntezeit wurden die Helfer morgens mit Kleinbussen in den Wald gebracht und abends wieder abgeholt. Sie erhielten feste Arbeitslöhne. Die gesammelten Nüsse waren Staatsbesitz und mussten komplett abgegeben werden. Wer verdächtigt wurde, privat Nüsse zu horten, bekam Besuch von der Polizei.
Nun erhalten Frau Gulnara und die anderen Dorfbewohner schon lange keine Löhne mehr. Stattdessen ernten sie ganz offiziell auf eigene Rechnung. Dabei hofft Frau Gulnara auf den einzigen Lastwagen, der die Strecke manchmal noch befährt. Allerdings nur einmal täglich hin und zurück – und manchmal auch gar nicht. Die Pisten, um die sich niemand mehr kümmert, sind inzwischen so buckelig geworden, dass man sich hinten auf der Ladefläche leicht die Knochen brechen kann. So ist Frau Gulnara von hier aus bis Arslanbob etwa zwei Stunden zu Fuß unterwegs. Da bleibt sie meistens lieber hier und schläft unter ihrer Plastikplane. Am besten wäre freilich, wenn die Nussbäume gleich am Dorfrand stehen würden:
"Ja, aber diese günstigen Bäume, die bekommen immer die anderen. Das liegt daran, dass die Leute den Förstern Geld zustecken, oder sogar deren Chefs. Und dann bekommen sie natürlich auch die besten Bäume zugeteilt. Und die, die am bequemsten zu erreichen sind."
Frau Gulnara wollte eigentlich nicht als Nusssammlerin enden: Ihr Traum war es, als Lehrerin kirgisische Sprache und Literatur zu unterrichten. Dazu hätte sie gerne in einer Stadt an einem pädagogischen Institut studiert. Doch das ist längst viel zu teuer geworden. Nun geht sie davon aus, dass sie bis an ihr Lebensende Nüsse ernten muss.
"Uns sind nur noch die Nüsse geblieben. Von dem Erlös müssen wir bis zum nächsten Sommer leben. Das heißt Sparen an allen Ecken und Enden, irgendwie Überleben. Wir können auch nicht mehr zu Festen gehen. Bald heiratet ein Verwandter. Aber wenn wir da hingehen wollen, müssen wir mindestens 30 Euro als Gastgeschenk mitbringen, oder ein Kalb oder ein Schaf. Das allermindeste sind Süßigkeiten für 15 Euro. So ist nun mal die Tradition. Deshalb können wir nicht hingehen. Das ist sehr schade."
Frau Gulnaras Zeltlager ist von einer dichten Hecke aus Dornenbüschen umgeben, die sie selbst zusammengesteckt hat. Die Hecke soll die beiden Familienziegen daran hindern, nachts wegzulaufen. Die Hecke, das gestapelte Feuerholz und die provisorische Zeltplane erinnern eher an ein Hirtenlager in Kenia als an die frühere Sowjetunion. Frau Gulnara wirkt wie vergessen von der Welt: Sie hat nur genug zu essen, wenn sie genügend Nüsse ernten und verkaufen kann. Wenn das nicht gelingt, gibt es keine Hilfe. Doch Frau Gulnara hat eine Überraschung parat. Obwohl früher manches leichter war: Die alten Zeiten wünscht sie sich keinesfalls zurück.
"Damals gab es zwar Arbeitsstellen und alles war billig. Aber mein Vater hatte Probleme: Irgendwann besaß er einmal mehr als zehn Stück Vieh. Das war verboten. Dabei hatte er einfach nur gut gezüchtet und gewirtschaftet. Trotzdem kamen die Leute von der Behörde und nahmen die überzähligen Tiere mit. Heute läuft das anders: Jeder kann so viele Tiere halten, wie er will. Jeder macht überhaupt, was er will. Jetzt kann jeder Millionär werden, das ist Demokratie."
Doch wie die allermeisten Kirgisen hat Frau Gulnara wohl noch einen weiten Weg vor sich bis zur ersten Million. Stattdessen leben die meisten Kirgisen heute fast wieder wie in der Zeit, bevor "die Russen" kamen: auf sich allein gestellt, vom Fleisch der Tierherden, Brot, Wald- und Feldfrüchten.
Kirgistan, auch Kirgisien oder Kirgisistan genannt, besteht zu 93 Prozent aus Gebirge. Deshalb gibt es wenig Landwirtschaft. Stattdessen treiben Hirten ihre Viehherden über Hochalmen. Knapp unterhalb der Baumgrenze stehen noch ein paar letzte Birken. Dahinter taucht eine große Wiese auf. An deren Rand steht eine Holzbude, etwa vier Mal vier Meter klein. Die Wände bestehen aus dünnem Sperrholz.
Vor den Fenstern kleben Plastikplanen, eine Plane auf dem Dach soll vor Regen und Schnee schützen. Vor dem Eingang flattert an zwei Holzstangen ein Vorzelt im Wind. Aus einem Ofenrohr, das waagerecht aus einer der Wände ragt, kommt Rauch. Hinter einer Fensterplane sind zwei Kinderköpfe zu erkennen. Da eilt strammen Schrittes ein Mann von der Wiese herbei. Er lächelt - der Besuch scheint ihn zu freuen. Hier oben werden wohl nur wenige Menschen vorbeischauen.
"Ich hüte hier Ziegen, Schafe und Pferde. So verdiene ich mein Geld. Und das seit sechzehn Jahren. Damals, nach der Schule, hatte ich überhaupt kein Geld. Da blieb mir nichts anderes übrig, als schnell Hirte zu werden. Wir ziehen auf die Hochweiden, sobald der Frühling kommt, meist Anfang April. Hier oben haben wir ein paar Hütten wie diese hier, damit wir zwischen den Almen hin und her ziehen können. So finden wir immer irgendwo grünes Gras. Sobald im Herbst zum ersten Mal viel Schnee fällt, gehen wir dann wieder hinunter ins Dorf. Dort können wir im Haus meines Vaters überwintern."
Sadiev Kotolok zieht mit seiner Familie während der warmen Jahreshälfte hoch auf die Almen und während der kalten Jahreshälfte unten in eine feste Behausung. Geografen sprechen von "Halbnomadismus". Diese Lebensweise hat in Kirgistan eine lange Tradition: Vor mindestens 1500 Jahren zogen hier die ersten Hirten durchs Land.
Nun sind Kotoloks Frau und die beiden kleinen Söhne in der Hütte zu hören. Die Familie hat kein leichtes Leben hier oben: Als Toilette steht dreißig Meter weiter ein Donnerbalken, dessen Gehäuse gerade bis zu den Knien reicht. Zum Waschen gibt es nur einen eiskalten Bach. Nach alter Sitte breitet Kotolok Kissen und ein Tuch aus. Dann serviert er Brot, Äpfel, Bratkartoffeln und schwarzen Tee.
Seine Herde grast in etwa fünfzig Metern Entfernung. Nachts muss er sich auf seine beiden Schäferhunde verlassen, tagsüber wacht er selbst. Über hundert Ziegen und jeweils ein Dutzend Pferde und Kühe - damit würde er zur kirgisischen Mittelschicht gehören. Doch die Tiere gehören Kotolok gar nicht.
"Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden plötzlich Hirten gesucht, die für die Nachbarn auf deren Tiere aufpassten. Denn damals waren die Herden der staatlichen Kolchosen gerade privatisiert worden. Mein Vater war arbeitslos und meldete sich. Als er später zu alt wurde, habe ich seinen Job übernommen. Ich besitze selbst keine Tiere, ich bewache nur fremde. Es ist sehr schwer, auf so viele Tiere gut aufzupassen. Und ich bekomme nur einen geringen Lohn für diese harte Arbeit: für die Ziegen zum Beispiel 60 Cents pro Tier und Monat. Das ist wirklich sehr, sehr wenig."
Wenn nachts ein Wolf ein Schaf tötet, muss Kotolok dem Besitzer das Tier ersetzen: Über 20 Euro kostet ihn das jedes Mal. Kotoloks Vater erhielt damals bei der Privatisierung nur wenige eigene Tiere, weil er zuvor in seinem Kolchos nur aushilfsweise gearbeitet hatte. Diese Tiere starben während des nächsten Winters. Als Sadiev Kotolok 1995 von der Schule abging, war Kirgistan bereits vier Jahren unabhängig und die alte Infrastruktur kollabiert. Er musste seine beruflichen Ambitionen aufgeben.
"Ich wollte eigentlich praktischer Arzt werden. Während der Sowjetzeit konnten noch alle Begabten studieren. Ob man Geld hatte, war nicht wichtig. Meine beiden älteren Brüder konnten damals noch eine richtige Berufsausbildung machen. Doch dann brach die Armut über uns herein. Und ich musste als Hirte arbeiten. Das Leben in Not ist uns geblieben: Viele Leute im Dorf haben Probleme, einige kommen gerade so zurecht, und nur wenige sind wirklich gut dran. Ich bin heute noch sehr enttäuscht, dass ich nicht Arzt werden konnte. Aber jetzt lebe ich halt hier oben in aller Ruhe. Und ich mag die Tiere."
Nach einer Weile trauen sich zuerst die Schäferhunde heran, dann auch die Mutter mit den beiden Kindern. Die Kleinen sind in dicke Wollsachen verpackt. Zu Ehren des Besuchers wäscht ihnen die Mutter Schmutz und Schorf aus dem Gesicht, obwohl der Lappen furchtbar kalt sein muss. Solange die Sonne scheint, ist es zwar über 20 Grad warm. Doch das Waschwasser kommt direkt aus dem Bach. Spätestens in zwei Jahren werden die Kinder in die Schule gehen. Dann möchte Herr Kotolok das ganze Jahr über unten im Dorf leben:
"Wenn die Kinder im Dorf zur Schule gehen, müssen sie dort auch schlafen. Es wäre sehr schwer für sie, dort ohne uns zu leben, immer nur bei Verwandten. Wir wollen lieber zusammenbleiben. Ich könnte dort unten Kartoffeln anbauen. Allerdings brauche ich dafür erst einmal ein Feld. Und ein Pferd zum Pflügen. Aber zum Glück hat mein Vater ein kleines Feld, das er uns dann hoffentlich überlässt."
Klassische Jurten, wie sie noch heute überall in der Mongolei zu sehen sind, kennt Kotolok nicht mehr. Dabei würde eine Jurte optimal gegen das raue Klima schützen: Denn an den Rundzelten gleitet Wind elegant vorbei. Die Wände aus Filz und Fell halten Kälte und Hitze draußen. Ein verschließbares Loch in der Decke lässt frische Luft herein. Doch in Kirgistan galten die Jurten zu Zeiten der Sowjetunion als Symbol der Rückständigkeit. Heute weiß hier praktisch kaum noch jemand, wie man überhaupt eine herstellt. Stattdessen hausen die Kotoloks nun in einer eckigen Holzschachtel mit Plastiküberzug: schlecht isoliert und dem Wind ausgesetzt. Herr Kotolok befürchtet, dass die Kinder krank werden könnten wegen der kalten Nächte, in denen es bereits friert. Das käme ihm heutzutage sehr teuer zu stehen.
"Auch die Ärzte haben sich verändert. Während der Sowjetzeit waren sie verpflichtet, alle Menschen zu behandeln. Ob sie wollten oder nicht. Jetzt sorgen sie vor allem für Patienten, die Geld haben. Manche Ärzte kommen zwar auch noch gratis zu den einfachen Leuten. Aber in Arslanbob gibt es solche Ärzte kaum noch."
Der Bezirk Naryn liegt östlich von Arslanbob. Auf der Fahrt über Land begegnet man immer wieder Kamelherden: Sie werden heute wieder als Lastentiere eingesetzt. Lastwagen und landwirtschaftliche Maschinen rosten - vor großen, halb verfallenen Fabrikhallen, von denen die meistens leer stehen.
Auf einer Hochebene taucht plötzlich auf über 2000 Metern Höhe ein Anwesen auf: mit riesigen, leeren Ställen und Schuppen, deren Dächer teilweise eingefallen sind. Dahinter sind rostige Bauwagen zu erkennen und ein Steinhaus, das einigermaßen intakt wirkt. Vor dem Haus stehen Schafe, Hunde und ein Mann mit einem Baby auf dem Arm. Wie überall in Kirgistan werden Fremde gleich hineingebeten.
Drinnen geht es gemütlich zu: Ein riesiger Ofen ist so geschickt in die Hauswände eingebaut, dass er gleich in drei Zimmer ragt und sie beheizt. Gesessen wird auf niedrigen Betten und Sofas, der Tisch ist kaum kniehoch. Der Gastgeber öffnet die Tür des Küchenschranks, greift hinein und serviert dann alles, was er dort gerade findet: Tee, Nüsse, Plätzchen, Äpfel und allerlei lokale Spezialitäten für Liebhaber - wie gegorene Stutenmilch und fette Suppe, in der undefinierbare Fleischstücke schwimmen.
Bald ist auch die Dame des Hauses dabei. Kirgistan ist zwar formal wieder ein islamisches Land geworden, doch nach Jahrzehnten des sowjetischen Atheismus fällt der kirgisische Islam milde aus. Viele Kirgisinnen fallen eher durch ihre freche Garderobe auf. Frau Essenturowitsch trägt zwar immerhin ein Kopftuch, doch das soll wohl eher beim Melken ihre Haarpracht bändigen. Die Ärmel ihres Pullovers hat sie weit hochgezogen. Unbekümmert sitzt sie als einzige Frau zwischen den Männern. Ihr Ehemann, Sarlakow Samat Essenturowitsch, erzählt zur Geschichte des Anwesens:
"Während der Sowjetzeit stand hier ein Kolchos. Es war eine Menge los: Es gab ein Geschäft und sogar eine Tankstelle. Ständig kamen Lastwagen und lieferten Tierfutter an, vor allem Getreide. Das Futter wurde weiterverteilt an die vielen Hirten, die damals hier vorbeizogen. Allein hier auf dem Gelände wurden etwa fünfhundert Schafe gehalten."
Selbst die Hirten waren damals eingebunden in die Staatswirtschaft: als Angestellte der Kolchosen, von denen sie ihre Routen und Aufgaben genau vorgeschrieben bekamen. Inzwischen kommt kaum noch jemand hier oben vorbei. Und Tierfutter zum Verteilen gibt es auch nicht mehr. Stattdessen weiden auf den umliegenden Wiesen nur noch die Tiere von Herrn Essenturowitsch: 20 Pferde, zehn Kühe und 25 Schafe. Das Winterfutter für seine Tiere mäht er selbst in der Umgebung. Die kleine Viehwirtschaft läuft anscheinend gut: Die Familie verwahrt ihren Hausrat in hübsch verzierten Holzkisten. An der Wand hängt eine poppige, übergroße Armbanduhr. Und ein Ölgemälde zeigt den Vater von Herrn Essenturowitsch auf dem Roten Platz in Moskau. Bei der Privatisierung des früheren Kolchos scheint die Familie geschickt vorgegangen zu sein. Herr Essenturowitsch erzählt:
"Nach dem Ende der Sowjetunion wurden die Kolchosherden aufgelöst und die Tiere an die einzelnen Familien verteilt. Seitdem bleiben viele Hirten mit ihren Herden das ganze Jahr über unten in der Ebene. Bald standen hier fast alle Ställe leer. Aber mein Vater entschied, dass wir alleine oben bleiben. Jahrelang schaute praktisch niemand mehr vorbei, auch die Behörden nicht. Da entschied mein Vater einfach, dass das jetzt alles uns gehört: das Haus, die Ställe und so weiter. Die Regierung hat sich darum bis heute nicht gekümmert."
Herr Essenturowitschs Vater erinnert an den braven Soldat Schwejk und dessen durchtriebene Art, das Leben zu meistern: In den Wirren der Übergangszeit wurde er mitsamt Familie offenbar hoch oben auf der Alm vergessen. Da nahm er sich einfach, was er brauchte. Und tatsächlich bemerkte niemand etwas.
Dass die meisten anderen Viehzüchter inzwischen unten im Tal bleiben, hat gute Gründe: Weitere Herden hätten hier oben mittlerweile keine Chance mehr. Die nahen Wiesen reichen gerade für Herrn Essenturowitschs Tiere aus. Die Lastwagen, die früher Viehfutter hochbrachten, kommen längst nicht mehr. Selbst die Schuppen, in denen Hirten früher übernachten konnten, sind eingestürzt. Unten in den Tälern sind die Wiesen mittlerweile überweidet: Der Tierbestand rund um Arslanbob hat sich seit dem Ende der Sowjetunion verdoppelt. Die Tiere gelten nämlich in der neuen, unsicheren Zeit als sichere Kapitalanlage: Jeder kauft so viel Vieh, wie er kann.
"Damals im Kolchos bestimmte die Betriebsleitung, wer wo weiden sollte. Im Sommer mussten alle hoch, damit unten das Gras nachwachsen konnte. Seit 1991 macht jeder, was er will. Und für die meisten Hirten ist es bequemer, einfach unten zu bleiben. So geht das nun seit Jahren. Erst vor ein paar Wochen kamen erstmals wieder Hirten hier vorbei. Sie erzählten uns, dass die Dorfverwaltung sie hoch geschickt habe. Vielleicht wird den Beamten da unten ja endlich mal klar, dass das Gras auch nachwachsen muss."
Überall in Kirgistan sind Teile des Bodens in öffentlichem Besitz geblieben: In Arslanbob ist das vor allem ein riesiger Wald voller Walnussbäume, 300 Quadratkilometer groß, der weltweit größte natürliche Bestand. Die Nussbäume werden jetzt an Privathaushalte verpachtet. Die Verträge laufen immer nur über fünf Jahre – danach entscheiden Forstbeamten über eine eventuelle Verlängerung. Für die unterbezahlten Entscheidungsträger ist das oft ein lohnendes Geschäft.
Pech hat dagegen, wer sich Schmiergelder nicht leisten kann und auch nicht zu den Respektspersonen gehört: In Arslanbob kann man zwar auch für wenig Geld Nussbäume pachten. Aber die stehen dann nicht bequem am Dorfrand, sondern weit weg mitten im Wald.
Dorthin führen viele Pfade auf und ab, über unzählige Hügel. Eine schweißtreibende Tour. Immerhin ist es schattig: Die Bäume stehen so dicht, dass nur wenig Tageslicht bis zum Boden durchdringt. In dem dunklen Wald braucht sich aber niemand zu fürchten: Zumindest zur Erntezeit schlagen hier viele Menschen wochenlang ihre Zelte auf. Kinder führen Kühe und Schafe an Leinen durch den Forst spazieren. An Feuerstellen wird Essen gekocht.
Eine Frau mittleren Alters hockt gemeinsam mit einem etwa 12-jährigen Jungen in einem behelfsmäßigen Zelt: Die beiden haben Äste zu einem Gerüst zusammengebunden und über dieses Konstrukt eine Plastikplane geworfen. Drinnen liegen zwei fingerdicke Matratzen auf dem harten Waldboden. Daneben stapelt sich allerlei Hausrat in Säcken, Taschen und Truhen. Einfache Steppdecken sollen die beiden vor Kälte schützen, obwohl es nachts schon friert. Neben dem Zelt steht die Ernte der vergangenen Woche: sechs riesige Säcke voller Walnüsse. Die Frau heißt Djerojova Gulnara:
"Wir wohnen jetzt schon seit zwanzig Tagen hier im Wald. Immerhin haben wir bald alle Nüsse von unseren Bäumen geerntet. Erst dann können wir wieder zurückgehen ins Dorf. Denn die Nüsse sind unsere einzige Einnahmequelle für das gesamte Jahr. Wenn die Ernte schlecht ausfällt, trifft uns das sehr. Dieses Jahr haben wir Glück im Unglück: Das Wetter war zwar ungünstig. Deshalb wächst in diesem Jahr an vielen Bäumen gar nichts. Aber hier bei uns geht es gerade noch so: Wir haben immerhin einige Nüsse ernten können."
Früher hat ihr Vater im Nussbaumwald als Förster gearbeitet, erzählt Djerojova Gulnara. Damals führten noch passable Pisten durch den Wald. Mit vielen anderen Kollegen kümmerte er sich um die Forstwege. Zur Erntezeit wurden die Helfer morgens mit Kleinbussen in den Wald gebracht und abends wieder abgeholt. Sie erhielten feste Arbeitslöhne. Die gesammelten Nüsse waren Staatsbesitz und mussten komplett abgegeben werden. Wer verdächtigt wurde, privat Nüsse zu horten, bekam Besuch von der Polizei.
Nun erhalten Frau Gulnara und die anderen Dorfbewohner schon lange keine Löhne mehr. Stattdessen ernten sie ganz offiziell auf eigene Rechnung. Dabei hofft Frau Gulnara auf den einzigen Lastwagen, der die Strecke manchmal noch befährt. Allerdings nur einmal täglich hin und zurück – und manchmal auch gar nicht. Die Pisten, um die sich niemand mehr kümmert, sind inzwischen so buckelig geworden, dass man sich hinten auf der Ladefläche leicht die Knochen brechen kann. So ist Frau Gulnara von hier aus bis Arslanbob etwa zwei Stunden zu Fuß unterwegs. Da bleibt sie meistens lieber hier und schläft unter ihrer Plastikplane. Am besten wäre freilich, wenn die Nussbäume gleich am Dorfrand stehen würden:
"Ja, aber diese günstigen Bäume, die bekommen immer die anderen. Das liegt daran, dass die Leute den Förstern Geld zustecken, oder sogar deren Chefs. Und dann bekommen sie natürlich auch die besten Bäume zugeteilt. Und die, die am bequemsten zu erreichen sind."
Frau Gulnara wollte eigentlich nicht als Nusssammlerin enden: Ihr Traum war es, als Lehrerin kirgisische Sprache und Literatur zu unterrichten. Dazu hätte sie gerne in einer Stadt an einem pädagogischen Institut studiert. Doch das ist längst viel zu teuer geworden. Nun geht sie davon aus, dass sie bis an ihr Lebensende Nüsse ernten muss.
"Uns sind nur noch die Nüsse geblieben. Von dem Erlös müssen wir bis zum nächsten Sommer leben. Das heißt Sparen an allen Ecken und Enden, irgendwie Überleben. Wir können auch nicht mehr zu Festen gehen. Bald heiratet ein Verwandter. Aber wenn wir da hingehen wollen, müssen wir mindestens 30 Euro als Gastgeschenk mitbringen, oder ein Kalb oder ein Schaf. Das allermindeste sind Süßigkeiten für 15 Euro. So ist nun mal die Tradition. Deshalb können wir nicht hingehen. Das ist sehr schade."
Frau Gulnaras Zeltlager ist von einer dichten Hecke aus Dornenbüschen umgeben, die sie selbst zusammengesteckt hat. Die Hecke soll die beiden Familienziegen daran hindern, nachts wegzulaufen. Die Hecke, das gestapelte Feuerholz und die provisorische Zeltplane erinnern eher an ein Hirtenlager in Kenia als an die frühere Sowjetunion. Frau Gulnara wirkt wie vergessen von der Welt: Sie hat nur genug zu essen, wenn sie genügend Nüsse ernten und verkaufen kann. Wenn das nicht gelingt, gibt es keine Hilfe. Doch Frau Gulnara hat eine Überraschung parat. Obwohl früher manches leichter war: Die alten Zeiten wünscht sie sich keinesfalls zurück.
"Damals gab es zwar Arbeitsstellen und alles war billig. Aber mein Vater hatte Probleme: Irgendwann besaß er einmal mehr als zehn Stück Vieh. Das war verboten. Dabei hatte er einfach nur gut gezüchtet und gewirtschaftet. Trotzdem kamen die Leute von der Behörde und nahmen die überzähligen Tiere mit. Heute läuft das anders: Jeder kann so viele Tiere halten, wie er will. Jeder macht überhaupt, was er will. Jetzt kann jeder Millionär werden, das ist Demokratie."
Doch wie die allermeisten Kirgisen hat Frau Gulnara wohl noch einen weiten Weg vor sich bis zur ersten Million. Stattdessen leben die meisten Kirgisen heute fast wieder wie in der Zeit, bevor "die Russen" kamen: auf sich allein gestellt, vom Fleisch der Tierherden, Brot, Wald- und Feldfrüchten.