Der Winter kann auch in Italien sehr lange dauern. Zumindest kam es mir so vor, als ich Kind war. Das Schönste in diesen kalten Monaten waren unsere Spaziergänge im Wald. Oft fanden wir kleine Holzstücke, die wir dann zuhause in Objekte verwandelten. "Aus einem Holzstück kann etwas Besonderes werden" – sagte meine Mutter und ich versuchte mir dieses Besondere vorzustellen. An ihren Satz habe ich mich viel später erinnert, als ich zum ersten Mal Cremona besuchte, die italienische Stadt großer Meister, die seit Jahrhunderten das Holz zum Klingen bringen.
Stefano Conia: "Aus Tradition benutzen wir dasselbe Material, das unsere alten Meister benutzt haben. Der Hals, der Boden und die Zargen der Geige werden aus Ahorn-Holz gebaut. Früher hatten unsere Vorfahren noch einheimischen Ahorn zur Verfügung. Neulich konnte ich einige große Tafeln davon finden, Stücke von alten Bänken. Sie haben eine ganz feine, leicht unregelmäßige Maserung. Unter der Lackierung spürt man die Schönheit des Holzes. Die Maserung wirkt wie ein Meer. Als würde eine leichte Brise das Wasser vibrieren und schimmern lassen."
Stefano Conia kam als junger Mann aus Ungarn nach Cremona, um die Kunst des Geigenbaus auf den Spuren der legendären Meister Amati, Guarneri und Stradivari zu lernen. In seinem Atelier herrscht eine für mich unbegreifliche Anordnung von unzähligen Werkzeugen, Holzstücken und kleinen, geheimnisvollen Fläschchen.
Die Musiker stammen aus Genua, fühlen sich aber in Cremona zu Hause
"Die Decke wird immer aus Fichte gebaut. Die beste Qualität findet man im Fleimstal in den Dolomiten. Das ist das akustischste Holz, das es überhaupt gibt. (Er klopft auf das Holzstück). Es klingt wie ein Xylophon. Aber wenn das Holz feucht oder nicht abgelagert ist, klingt es nicht so. (Klopft wieder). Das hier ist ein wunderbares Stück! Allein beim Berühren des Holzes (man hört, wie er das Holz streichelt), kann sich der Geigenbauer den Klang der Geige vorstellen. Die Phantasie ist Teil unserer Arbeit."
In einer kleinen Gasse des centro storico von Cremona bin ich mit Simone Gramaglia und Cristiano Gualco verabredet. Der eine Bratschist, der andere Erster Geiger des berühmten Quartetto di Cremona. Alle vier Musiker des Streichquartetts stammen aus Genua, fühlen sich aber in Cremona zu Hause. Genauso wie Walter Stauffer, ein Schweizer Mäzen, der hier 1970 die Stiftung Stauffer gründete, um Geigenbau und Musik zu fördern. Cristiano Gualco:
"Cremona ist für uns eine wichtige Stadt und wird immer wichtiger, weil wir hier studiert haben, heute Unterricht bei der Accademia Stauffer geben und immer wieder bedeutende Konzerte spielen können. Wir sind neulich zu Ehrenbürgern der Stadt ernannt worden. Wenn wir hier sind, fühlen wir uns wie zuhause. Unterwegs erkennen uns schon die Einwohner. Wir werden als echte cremonesi betrachtet. Das macht uns sehr glücklich!"
Wie sehr die beiden Musiker diese Stadt lieben, verstehe ich, als wir die zu Ehren des großen Geigenbauers umbenannte Piazza Stradivari erreichen. Simone Gramaglia:
"Der Kontrast zwischen den verschiedenen Epochen ist eindrucksvoll: Auf engstem Raum gibt es Gebäude aus dem Mittelalter und der Renaissance, andere im Stil der faschistischen Ära, aber auch in der typischen Architektur des 19. Jahrhunderts. Alles nebeneinander! Wenn wir in Cremona sind, haben wir viel zu tun, es ist stressig. Aber wenn wir fertig sind, kommen wir auf diesen Platz, sitzen an einem Tisch und beobachten die Schönheit der Stadt. Es ist ruhig, sehr erholsam, einfach fantastisch!"
Jedes Einzelteil der Instrumente wird in Handarbeit hergestellt
Gleich an der Piazza Stradivari befindet sich das Consorzio dei Liutai Antonio Stradivari, der Verband der Geigenbauer. Neben zahlreichen Publikationen und Informationen rund um den Geigenbau bietet das Consortium den Musikern die Möglichkeit, verschiedene Instrumente aus den Werkstätten von Cremona an einem einzigen Ort auszuprobieren. Das Zertifikat des Verbands bestimmt nicht die Qualität – das ist eine persönliche Entscheidung – sondern die Herkunft. Roberta Damiani:
"Das Consortium wurde 1996 gegründet. Wir kümmern uns um die Zertifizierung und um den Verkauf der Instrumente. Es sind alles Instrumente, die von professionellen Geigenbauern in der Provinz Cremona hergestellt werden. In Handarbeit – nach den klassischen Regeln der Tradition von Cremona."
Auch Stefano Conia, Mitglied des Consortiums, setzt die alte Tradition des Geigenbaus fort und stellt jedes Einzelteil der Instrumente in Handarbeit her, wie er es vor über 45 Jahren in der Internationalen Geigenbauschule von Cremona gelernt hat. Dafür braucht er viele unterschiedliche Werkzeuge wie Ausstecheisen, Hohlmeißel, Feilen, Sägen, Stimmsetzer, Stärkenmesser, Stemmeisen.
"Wir haben eine Bestellung oder entscheiden selbst, ein bestimmtes Modell zu bauen. In diesem Fall eine "Amati-Geige". Zuerst müssen wir die Zargen herstellen, also die Seitenwände des Instruments. Die ca. 1 oder 2 mm dicken Holzstreifen bekommen ihre Form mit dem Biegeeisen und die Zargenform mittels Wärme. Wenn sie fertig sind, wird der Umriss der Zargen auf den Boden und die Decke gezeichnet."
Eine sehr langwierige Aufgabe ist das Hobeln und Wölben des Holzes für Decke und Boden mithilfe von Hohlmeißel, Wölbungshobel und Ziehklinge. Das verlangt viel Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit.
Stefano Conia: "Das ist eine bildhauerische Arbeit. Mit dem Hohlmeißel muss der Geigenbauer das überflüssige Holz wegnehmen, um die Form zu modellieren. Man muss sehr aufpassen. Man darf nicht zu viel Holz wegnehmen. Das wäre ein Fehler, den man nicht mehr beheben kann. Lieber etwas mehr Holz lassen. Solange es Holz gibt, gibt es Hoffnung!"
Die Schnecke ist die Handschrift eines Geigenbauers
Eine ebensolche bildhauerische Leistung erfordert die Herstellung der Schnecke: Die Handschrift eines Geigenbauers. Man braucht jahrelange Erfahrung, um die Schnecken im Stil von Amati, Guarneri oder Stradivari nachbauen zu können, so Stefano Conia.
Einen Eindruck von der Schönheit der alten, kostbaren Instrumente können wir zusammen mit Simone und Cristiano im Museo del violino Antonio Stradivari, im Geigen-Museum, bekommen. Hier erhalten die Besucher genaue Informationen über die Geschichte und die Tradition des Geigenbaus, bevor sie schliesslich "lo scrigno dei tesori", den wunderbaren "Saal der Schätze" betreten. Simone Gramaglia:
"Jetzt sind wir im Saal der Schätze angekommen. Hier befinden sich die schönsten Instrumenten der berühmten Geigenbauer aus Cremona: Amati, Guarneri, Stradivari. Die meisten Instrumente gehören der Gemeinde von Cremona oder der Stiftung Walter Stauffer. Darunter ist die Stradivari-Geige 'Il Cremonese' von 1715, aus der goldenen Epoche von Stradivari. Wer hier ankommt und die Instrumente ein wenig kennt und liebt, kann nur berührt werden von der Schönheit dieser Schätze. Wenn wir einen Moment ihren großen finanziellen Wert vergessen, sind diese Streichinstrumente als Kulturerbe echte Juwelen."
Es ist unglaublich, zu spüren, welche Ausstrahlung sie durch ihre bloße Präsenz in der Stille einer Glasvitrine entfalten können.
"Das hier ist 'Il Cremonese', die legendäre Geige von Stradivari, der am Anfang Lehrling in der Werkstatt von Amati war. Der Boden besteht aus einem einzigen Stück und nicht aus zwei, wie es oft der Fall ist. Und die Farbe ist auch schön, sie hat fast goldene Nuancen. Diese Geige gehörte früher Joseph Joachim. Der berühmte Geiger war ein Freund von Brahms, der für ihn sein Violinkonzert komponierte. Alle Geiger, die ich kenne, möchten einmal in ihrem Leben so ein Instrument spielen."
"Der Resonanzkörper wird wie vor 300 Jahren mit Warmleim zusammengebaut, so dass man ihn für Reparaturen später wieder öffnen kann.
Stefano Conia:
"Dann wird der Hals mit dem Griffbrett aus Ebenholz gefertigt und mit einer Schwalbenschwanzverbindung in den Resonanzkörper eingelassen. Schließlich wird das Instrument lackiert. Wir stellen auch den Lack selber her. Jeder Geigenbauer hat dabei eigene Tricks und Geheimnisse. Aber generell benutzen wir dieselben Harze: Schelllack, Benzoe, Sandarak, Kurkuma usw. Jedes Instrument muss 30 Mal angestrichen werden, um diese schöne, reife Farbe zu bekommen. Diese Phase verlangt sehr viel Geduld. Oft dauert sie länger als 6 Monate, vor allem im Winter, wenn es ab und zu feucht ist."
Nach monatelanger Arbeit kommt der entscheidende Moment
Nach monatelanger Arbeit kommt schließlich der entscheidende Moment: Ein kleines, rundes Holzstäbchen wird zwischen Decke und Resonanzboden eingespannt und Millimeter für Millimeter justiert. Diese Operation verlangt ein besonderes Fingerspitzengefühl, denn dadurch bekommt die Geige ihren eigenen Charakter: Der Stimmstock, auf Italienisch "l’anima", die "Seele", bestimmt den Klang des Instruments. Und das ist für einen Musiker das Wichtigste.
Wer einmal eine echte Stradivari-Geige gespielt hat, kann ihren Klang nie mehr vergessen. Ist das nur eine Einbildung? Cristiano Gualco.
"Meiner Meinung nach ist es wirklich etwas Besonderes. Das kann man nur verstehen, wenn man eine dieser historischen Geigen gespielt hat. Ihr Klang ist kristallklar und gleichzeitig sehr kräftig, aber nicht schwer. Er bleibt leicht. Ein engelhafter, edler Ton, den man aber auch von der Ferne gut hören kann. Diesen Klang kann man nicht vergessen. Es stimmt, dass auch einige großartige moderne Instrumente gut klingen, aber die alten, vor allem die von Stradivari haben etwas mehr. Für einen Musiker ist es schließlich auch sehr wichtig, ein Instrument zu spielen, das eine Tradition besitzt. Und eine Klangqualität, die durch frühere Geiger, die darauf spielten, gereift ist."
"Jetzt sind wir beim zweiten großen Schatz des Museums angekommen, dem Auditorium für Kammermusik. Alles aus Holz, unglaublich schön. 464 Sitzplätze."
Simone Gramaglia:
"Die Form ist oval. Das Publikum sitzt um die Musiker herum. Die Akustik ist sehr klar und wurde extra so geschaffen, damit sich der Saitenklang der Streichinstrumente voll entfalten kann. (Er zupft die Saiten). Ich habe jetzt eine Viola, die mir der Kulturfond Peter Eckes geliehen hat. Ein Instrument von Gioacchino Torazzi aus dem Jahr 1680. Hier haben wir eine perfekte Resonanz (er spielt): die Töne überschlagen sich nicht, aber die Musik hat Raum zu atmen, um sich zu entfalten und zu verzaubern. (Er spielt)"
Nach einem langen Tag voller Proben und Unterrichtstunden liebt es Simone, in der Altstadt spazieren zu gehen, vor allem zur Piazza del Comune. Hier bilden der Dom, das Baptisterium und der 110 m hohe Torrazzo ein einzigartiges architektonisches Ensemble.
"Schau, wie schön es von hier aussieht! Wenn man unter den Arkaden des Palazzo del Comune läuft, sieht man plötzlich die Farben des Doms und dann erscheint der ganze Platz. Es ist wunderbar! Stundenlang könnte ich hier sitzen, um die sorgfältig gestaltete, reich dekorierte Fassade des Doms, mit den Arkaden, der Fensterrose, den Nischen zu beobachten. Auch im Winter, wenn es nebelig ist und die Stadt fast leer, tauchen auf einmal der Platz und der Dom auf, beleuchtet von den Laternen. Es ist wunderschön!"