Archiv


Auf den Spuren von Constantin Brâiloiu

Im Internationalen Volksmusikarchiv des Ethnographie-Museums Genf liegt ein einzigartiger Schatz: Musik aus Rumänien und Bulgarien, die der 1958 verstorbene Ethnologe Constantin Brâiloiu aufgezeichnet hat, und neue Aufnahmen aus jüngerer Zeit. Auf Wachs, Vinyl, Magnetband und CD lagern in Genf mehr als 16.000 Stunden Musik.

Von Ingo Dorfmüller |
    Musik aus Rumänien und Bulgarien möchte ich Ihnen heute vorstellen und zwar in Aufnahmen des Internationalen Volksmusikarchivs, das dem Ethnographischen Museum in Genf angegliedert ist. Das Archiv wurde 1944 von dem berühmten rumänischen Volksmusikforscher Constantin Brâiloiu gegründet. Er war im Jahr zuvor als Diplomat in die Schweiz gekommen, entschloss sich aber, nicht in seine Heimat zurückzukehren, in der General Antonescu 1940 eine faschistische Diktatur errichtet hatte. Sein umfangreiches Archiv mit den Ergebnissen seiner Feldforschungen und einem einzigartigen Schatz früher Aufnahmen rumänischer Volksmusik musste Brâiloiu in Bukarest zurücklassen, wo es über alle Wechselfälle der Geschichte hinweg erhalten blieb. In Genf begann Brâiloiu aber sogleich mit dem Aufbau eines neuen, noch umfangreicheren Archivs, aus dessen Beständen er ab 1951 auf 40 Schallplatten die "Universalsammlung volksmusikalischer Aufnahmen" veröffentlichte. Nach Brâiloius Tod im Jahr 1958 ruhte die Arbeit des Archivs bis 1984, als Laurent Aubert mit seiner Reorganisation betraut wurde. Seither arbeitet man nicht nur an der detaillierten Erfassung der immensen Bestände mit Tausenden von Tonträgern, von der Wachsmatrize bis zur CD, es geht auch und vor allem darum, die Musik einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Unterdessen entstehen auch neue Aufnahmen; eine imposante Kollektion von nicht weniger als 74 CDs legt davon Zeugnis ab. Sie ist heute von umso größerem Wert, nachdem die vom WDR koproduzierten "World Network"-CDs, eine Sammlung von ähnlich enzyklopädischem Anspruch, nur noch in Restbeständen erhältlich sind.

    Eine der beiden neuen CDs des Genfer Archivs knüpft unmittelbar an Constantin Brâiloius Pionierarbeit aus den 30er-Jahren an: Sie ist Liedern und Tänzen aus der Region Gorj gewidmet - die Aufnahmen entstanden 2008 vor Ort, sind technisch von unterschiedlicher Qualität, bieten aber in keinem Fall hochglanzpolierten Studio-Sound.

    " Trad. (Gorj / Kleine Walachei): Suite de deux sârbe (Ausschnitt)
    Paula Muscurici, Gesang / Taraf aus Pârâu de Pripor
    VDE CD 1269 - Track 10 "

    Gorj gehört zur historischen Landschaft Oltenien im Westen der Walachei, etwa 200 Kilometer von Bukarest entfernt. Als Brâiloiu hier unterwegs war, waren Lieder und Tänze bereits die Domäne professioneller Musiker, der "Lâutari", die bei Taufen, Hochzeiten, Kirchenfesten und zum sonntäglichen Tanz aufspielten.

    Es waren (und sind bis heute) zumeist Roma-Familien, die solche Musikensembles, "Taraf" genannt, bildeten. In den 30er-Jahren freilich gehörten noch Stücke und Genres zu ihrem Repertoire, die heute weitgehend verschwunden sind: der epische Heldengesang beispielsweise, der die Schicksale der Heiducken behandelt, der Gesetzlosen, die gegen die osmanische Herrschaft kämpften.

    " Trad. (Gorj / Kleine Walachei): Cîntec bâtrînesc "Gruia lui Novac"
    Historische Aufnahme (1933-43) aus Gorj
    CD 537 - Track 20 "

    Der "Cîntec (Küntek) bâtrînesc", der epische Gesang, hat einige Eigenschaften mit der "Doinâ" gemein, der wohl bekanntesten Form rumänischer Volksmusik: die veränderliche Länge und Struktur der Strophen und den rhythmisch freien, improvisatorischen Gestus des Vortrags. In den 1930er-Jahren konnte man die Doinâ noch als unbegleiteten Sologesang hören: Besonders deutlich wird hier das Auslauten jedes Abschnitts in einer Art Sprechgesang; auch der "Hâulit", eine dem Jodeln verwandte Gesangstechnik, ist hier zu hören.

    " Trad. (Gorj / Kleine Walachei): Doinâ "De la val"
    Historische Aufnahme (1933-43) aus Gorj
    VDE CD 543 "

    Diese historischen Aufnahmen stammen aus den Bukarester Archiven von Constantin Brâiloiu, die sich heute in der Obhut des Ethnologischen Instituts befinden. In Zusammenarbeit mit der Bukarester Ethnomusikologin Sperant,a Râdulescu hat das Genfer Archiv sie auf einer CD veröffentlicht. Sie ist derzeit auf dem deutschen Markt nicht erhältlich, kann aber über die Internetseite des "Musée d'Ethnographie" in Genf bestellt werden.

    Sperant,a Râdulescu war auch an der neuen CD mit rumänischer Musik maßgeblich beteiligt. In drei Dörfern des Gorj suchten sie, ihre Mitarbeiter und Laurent Aubert aus Genf nach dem, was von den spezifischen musikalischen Traditionen der Region noch lebendig ist. Und abseits der großen Folklore-Festivals wurden sie fündig: Zwar haben die "Tarafuri" heute alle eine Art geglätteter, globalisierter Folklore im Repertoire, aber bei privaten Feiern, und wenn sie ein empfängliches Publikum antreffen, wird noch in der traditionellen Weise musiziert. Die folgende Doinâ hat einen für das Genre sehr typischen Text: Die grünende Natur erinnert die Sängerin an die eigene Jugend und lässt sie die Bitternis des Alters um so schmerzlicher empfinden: "Die Erinnerung macht mich weinen - ach, warum lebe ich noch auf dieser Erde?" Es singt Mârgâlina Cidoiu, begleitet von einem Taraf, einer Kapelle aus dem Dorf Pîrîu de Pripor.

    " Trad. (Gorj / Kleine Walachei): Doinâ
    Mârgâlina Cidoiu, Gesang / Taraf aus Pârâu de Pripor
    VDE CD 1269 - Track 2 "

    Eine rumänische "Doinâ", ausgeführt im traditionellen Stil der Region Gorj in der Kleinen Walachei. Dass viel von den regionalen und lokalen Traditionen in der rumänischen Musik verloren gegangen ist, darf man allerdings nicht allein den üblichen Verdächtigen, Globalisierung und Kommerzialisierung, anlasten. Denn schon das kommunistische Regime bemühte sich, aus den vielen unterschiedlichen Regionalstilen so etwas wie eine National-Folklore zu formen. So ist die ursprünglich pentatonische Struktur vieler Melodien zwar noch immer hörbar, ihre Zwischenräume aber, die ursprünglich mit unbestimmten oder mikrotonal schwankenden Tonhöhen und den charakteristischen Glissandi gefüllt wurden, sind heute mit fixierten Intervallen geschlossen. Sie erlauben es, die Musik auf die westeuropäische Dur-Moll-Harmonik gleichsam aufzumontieren und der westlichen Musikpraxis anzunähern.

    Indessen regt sich auch Widerstand - und es ist interessant, dass es mitunter gerade die Jungen sind, die die traditionellen Spielweisen zu bewahren suchen: Marian Argint etwa, der die folgende "Sîrbâ", den zweifellos populärsten Volkstanz Rumäniens, mit den ursprünglich dazugehörenden rhythmisch-metrischen Verschiebungen zwischen Solopart und Begleitung ausführt.

    " Trad. (Gorj / Kleine Walachei): Sîrbâ instrumentale
    Marian Argint, Violine / Taraf aus Pârâu de Pripor
    VDE CD 1269 - Track 1 "

    Musik aus Rumäniens Nachbarland Bulgarien ist die zweite neue CD des Genfer Volksmusikarchivs gewidmet. Auch die bulgarische Musik hat einen Prozess von Vereinheitlichung und "Folklorisierung" durchlaufen. Er setzte schon sehr früh, direkt nach der Erringung der Unabhängigkeit 1878, ein. Dabei wurde allerdings die traditionelle Musikpraxis "akademisiert": Systematisch erfasst, theoretisch begründet und in Hochschulen gelehrt. Das kommunistische Regime übernahm dieses Konzept einer "Narodna muzika", was gleichermaßen Volks- wie Nationalmusik bedeuten kann. Ein Konstrukt zweifellos, das sich von den autochthonen Formen des Musikmachens weit entfernt, aber doch zu keiner Verflachung, sondern, ganz im Gegenteil, zu einer Verfeinerung und Individualisierung der Spielweisen führt.

    " Atanas Vultchev: Bavna melodia i horo
    Atanas Vultchev, Gadulka
    VDE CD 1276 - Track 12 "


    Das war Atanas Vultchev, der Altmeister der Gadulka, mit einer eigenen Komposition. Die Gadulka ist ein Streichinstrument, dessen lautenartiger Körper aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt wird. Neben den drei Spielsaiten ist es mit zusätzlichen Resonanzsaiten bespannt. Die Gadulka ist eng verwandt mit der mittelalterlichen Rebec und der türkisch-persischen Kemençe. Wie diese wird sie in vertikaler Haltung gespielt, wobei sie auf dem Oberschenkel oder einem Tragegurt aufruht.

    Die CD "L'Art de la Gadulka" ist eine Hommage an den großen Virtuosen Atanas Vultchev; den Löwenanteil des Programms gestaltet aber sein Schüler Dimitar Gugov. Der lebt seit dem Jahr 2000 in Frankreich und hat in den letzten Jahren in verschiedenen Ensembles gespielt - etwa dem "Grande Ensemble de la Méditéranée" und den "Violons Barbares" - die Musikstile ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen. Für ihn bedeutete die Produktion dieser CD eine "Heimkehr", aber nicht als sentimentale Regression: Die Klangwelt, die er hier im Zusammenspiel mit den anderen Instrumentalisten entwirft - mit dem Gadulka-Spieler Nikolai Paskalev, im Ensemble mit der bulgarischen Flöte Kaval, mit Akkordeon oder traditionellen Schlaginstrumenten - ist eine ganz eigene, die die Tradition nicht einfach reproduziert, sondern gleichsam neu erfindet.

    " Trad. / Dimitar Gugov: Païdushko horo
    Dimitar Gugov und Nikolai Paskalev, Gadulka / Ensemble
    VDE CD 1276 - Track 14 "

    Ein Ensemble um den bulgarischen Gadulka-Virtuosen Dimitar Gugov mit dem "Païdushko horo", einem Tanz aus Thrakien. Die "Neue Platte" war heute zwei Neuerscheinungen auf dem Label VDE Gallo gewidmet: "Musiques festives du Gorj" und "L'art de la Gadulka", veröffentlicht vom Internationalen Volksmusikarchiv am Ethnographischen Museum Genf. Als Vergleichsaufnahme wurde eine weitere CD der Reihe herangezogen: "Roumanie - Musique de villages" mit historischen Aufnahmen aus Oltenien.

    Diskografie

    Roumanie - Musiques festives du Gorj
    VDE Gallo CD-1269

    Bulgarie - L'art de la gadulka
    VDE Gallo CD-1278

    Vergleichsaufnahme:
    Roumanie - Musique de Villages - Olténie -
    Runc et les villages du Gorj
    VDE Gallo CD-537

    Label Code VDE Gallo: 3370