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Auf der Suche nach Adam - Teil 1

Eine Theatergruppe spielt auf einer Baustelle. Durch das hohe Holzskelett des Hauses schimmert der tiefblaue Nachmittagshimmel. Hier, neben der Hauptstrasse, entsteht ein Museum. Das ist etwas völlig Neues für die Bewohner Karongas, einer unbedeutenden Kleinstadt im Norden Malawis. In langer Reihe ziehen buntgekleidete Jungen und Mädchen singend auf die improvisierte Bühne, die später einmal die Terrasse der Cafeteria sein wird. Die Theatergruppe "Miracle" erzählt, warum dieses Museum gebaut und was dort zu sehen sein wird.

Dagmar Röhrlich | 03.10.2002
    Ein Museum in einer Kleinstadt mitten im Nirgendwo. Hier ist nie viel passiert. Außer damals, als der arabische Sklavenhändler Mlozi hier sein Unwesen trieb, bis er am größten Affenbrotbaum Karongas erhängt wurde. Im Ersten Weltkrieg fand hier die einzige Schlacht auf malawischem Boden statt. Die Briten besiegten die Deutschen, zurück blieben 15 Gräber. Darum aber kümmert sich die Theatergruppe "Miracle" nicht. Sie stellen die Fossilienjagd dar, spielen, wie Paläontologen in einem Dorf auftauchen und erklären, was sie suchen – und warum. Mit ausgestopften T-Shirts als alte Leute verkleidet, ziehen sie aufs imaginäre Feld, suchen nach Knochen, und finden den Malawi-Saurus, den größten Saurier Afrikas.

    Der 100 Millionen Jahre alte Malawisaurus ist der Star des Museums und der Star des Stücks. Das Publikum johlt, als er in Form eines mit buntem Stoff bezogenen Holzgestells auf die Bühne kommt. Als Traumfigur...

    Der Traum von Professor Schrenk

    Friedemann Schrenk, Professor für Paläobiologie in Frankfurt, sucht im Norden Malawis keine Saurier, sondern frühe spueren des Menschen. Vor fünf Millionen Jahren begann in Malawi der Ostafrikanische Graben auseinander-zureißen, und in der Senke entstand der Paläo-Malawi-See. Die steilen Riftschultern wurden von Flüssen durchschnitten, die den Verwitterungsschutt der afrikanischen Ebenen in die Bruchzone schleppten. Wo die Flüsse in den See mündeten, lagerten sie ihre Fracht ab – darunter viele Tierknochen. Allerdings war der Transport im steilen Gelände recht unsanft. Die Reste von Krokodilen, Flusspferden, Elefanten oder Antilopen – alle wurden zerschlagen. Auch die Knochen der Vor- und Frühmenschen, deren Fossilien Friedemann Schrenk und sein amerikanischer Kollege Timothy Bromage suchen. Als sie mit ihrer Arbeit begannen, waren die Vorfahren der Menschen nur aus Ost- und Südafrika bekannt. Aber irgendwie mussten sie ja von einem Ort zum anderen gelangt sein, und die kürzeste Verbindung ist der Ostafrikanische Graben. Jahrelang suchten die beiden vergeblich in diesem "Hominiden-Korridor", wie sie die Zone in Malawi getauft hatten. Dann wurden sie fündig, bislang zweimal. Diese Fossilien sind der Anlass für den Museumsbau. Dass sie nicht die Hauptrolle im Theaterstück spielen, liegt wohl daran, dass Dinos auch in Afrika besonders attraktiv sind.

    Lange schien der Menschen ausgenommen zu sein vom normalen Gang der Evolution. Anders als die Tiere, die sich in weit verzweigten System entwickeln, schien er einen geradlinigen Stammbaum zu haben. Aber diese scheinbare Geradlinigkeit liegt wohl nur an mangelndem Wissen. Wenn zwischen zwei Fossilien mehrere Millionen Jahre liegen, sind gerade Verbindungen einfach zu ziehen. Je mehr Fossilien von Vor- und Frühmenschen gefunden werden, desto mehr Seitenlinien gibt es, desto mehr evolutionären Sackgassen werden bekannt – und um so komplexer wird das Bild der Menschwerdung. Wir wissen nicht, woher wir kommen, wir wissen nicht, welcher Zweig sich in der Evolution durchgesetzt hat.

    Wir sind hier in Nordmalawi und zwar am Westufer des Malawisees. Wir arbeiten in den sogenannten Chiwondebeds, das sind Schichten aus dem Pliozän und aus dem Pleistozän, also die letzten 5 Millionen Jahren. Wir untersuchen hier die Entwicklung dieser Landschaft, der Tierwelt und auch der Menschen.

    Begonnen hat alles viel früher – und an vielen Stellen des afrikanischen Kontinents. Begonnen hat alles mit den Klimaveränderungen, die schließlich in den Eiszeiten gipfeln sollten. Überall auf der Welt war es während 20 Millionen Jahren allmählich kühler und trockener geworden. Vor acht Millionen Jahren steigerte sich das Tempo, der tropische Regenwald Afrikas zog sich stark zurück. Der einstmals lückenlose grüne Baumteppich lockerte an den Rändern auf.

    In dieser Phase ist es nun so, dass es einen Bereich gibt, der als Randbereich um diesen Regenwald herum angeordnet ist, wo zwar Bäume stehen, noch keine Savanne ist, wo aber die Bäume noch so weit voneinander entfernt sind, dass nun diese Menschenaffen, die ja im tropischen Regenwald leben, da nicht mehr von Baum zu Baum hangeln können. Sie müssen, um von Baum zu Baum zu kommen, auf den Boden. Auf dem Boden gibt es nun mehrere Möglichkeiten, sich fortzubewegen, und zwar entweder auf vier Beinen oder auf zwei Beinen. Und offensichtlich waren diejenigen Menschenaffen, die nun da am Rande dieses tropischen Regenwaldes existiert haben, die nun also die Peripherie ihres Verbreitungsgebiets gedrängt waren, weil der tropische Regenwald sich zurückgezogen hat, die waren nun offensichtlich in der Lage, den aufrechten Gang zu etablieren in diesem Gebiet.

    Die Zweibeinigkeit ist der erste Schritt zur Menschwerdung. Die Fossilien verraten: Anscheinend hat vor mehr als sechs Millionen Jahren nicht nur e i n e Familie von Menschenaffen mit dem aufrechten Gang experimentiert. Vielmehr hat diese Entwicklung an mehreren Punkten rund um den Regenwald stattgefunden.

    Man hat inzwischen aus dieser ältesten Phase von vor sechs Millionen, sieben Millionen Jahren, drei verschiedene Gattungen. Aber es sind Gruppen, die unabhängig voneinander entstanden sind. Das eine ist der so genannte Millenium-Man, Orrorin, gefunden in Kenia, ungefähr sechs Millionen Jahre alt. Dann hat man Adipithecus gefunden in Äthiopien, ungefähr fünf bis 5,8 Millionen Jahre alt. Und aus dem Tschad hat man Sahel-Anthropus gefunden, zwischen – man sagt zwischen fünf und sieben Millionen Jahre alt.

    Sahelanthropus, Orrorin und Adipithecus beweisen: Es gibt nicht d a s fehlende Glied in der Menschheitsgeschichte. Vielmehr folgt die Evolution des Menschen dengleichen verschlungenen Pfaden wie bei allen anderen Lebewesen.

    In den Hügeln von Malema stehen Zelte der Forscher im Schatten großer, alter Mangobäume. Die Küche ist ein großer, selbstgebauter Paravent aus Holzstangen, auf die Gras gebunden ist. Buschtoilette und Felddusche sind ebenso gebaut – wobei der Begriff Dusche irreführend ist: Mit einer Tasse schöpft man Wasser aus einer Schüssel und kippt es über sich. Aber man wird sauber und in der Hitze des Nachmittags ist jede Erfrischung willkommen.

    Der Tag beginnt um sechs, bevor die Sonne aufgeht. Dann steht Küchenhilfe Jolie vor dem Zelt und bringt süßen, heißen Tee mit Milch. Geduldig wartet er, bis man sich aus dem Moskitonetz herauskämpft hat. Malema ist eine Hochburg für Malaria. Der Tee macht halbwegs munter und nach dem Zähneputzen am Rand des Kassavafeldes ruft der Koch Samson zum Frühstück. Es gibt kalte Bratkartoffeln, Toast und kaltes Rührei. Aber der Tee ist heiß.

    Um sieben treffen die Arbeiter ein, und es geht zur Grabung, zehn Minuten hügelaufwärts. Die Arbeit geht bis eins. Dann wird es zu heiß.

    Den aufrechte Gang kann man natürlich am einfachsten beweisen, wenn man Langknochen hat, also Beinknochen. Allerdings gibt es noch ein indirektes Anzeichen am Schädel und zwar ist es die Lage der großen Schädelöffnung, foramen magnum, das ist die Öffnung, wo das Rückenmark den Schädel verlässt. Bei den Schimpansen und bei den vierbeinigen Menschenaffen ist diese Öffnung relativ weit hinten am Schädel, und geht schräg nach hinten, wohingegen bei den Hominiden auch bei den Australopithecinen diese Öffnung direkt unterhalb des Schädels liegt.

    Dass der Beginn der Menschwerdung am aufrechten Gang festzumachen ist, erschien zunächst als Sakrileg. Bis 1924, als das zwei Millionen Jahre alte Taung-Baby in Südafrika gefunden wurde, galt das Credo: Das große Gehirn macht es. Das Taung-Baby – das vielleicht drei Jahre alt war, als es von einem Leoparden erbeutet wurde – lief zwar auf zwei Beinen, aber sein Gehirn war kaum größer als das eines Schimpansen.

    Die Gehirnentwicklung hat erst eingesetzt, nachdem die Gattung Mensch entstanden ist, die Gattung homo, aber nicht vorher. Bei den Vormenschen war das Gehirn nicht größer als bei den Menschenaffen.

    Die Schädel beweisen, dass das Gehirnwachstum erst vor 2,5 Millionen Jahren mit der Gattung Mensch begann – und zwar zögerlich. Das zeigen auch fossile Zähne. Ihre Wachstumsstreifen im Zahnschmelz verraten, wie kurz oder lang das Kindheitsstadium einer Art dauert, oder anders: Je komplexer das Gehirn ist, desto desto länger die Kindheit. Schimpansen werden schnell erwachsen, der moderne Mensch nur langsam:

    Wir haben wirklich Erstaunliches festgestellt, nämlich das im Grunde genommen alle Hominiden, die Vormenschen, die Frühmenschen, die Urmenschen bis einschließlich Homo erectus, vom Wachstum eigentlich her eher so waren wie die Schimpansen. Die ersten, die wir untersucht haben, die ältesten, die ein Wachstum haben wie bei Homo sapiens, dass sind die Neandertaler. Das heißt also, offensichtlich ist diese Veränderung, in der Wachstumsgeschwindigkeit, in der individuellen Wachstumsgeschwindigkeit, sehr spät in der Evolution vorgekommen.


    Die Arbeiter haben viereckige Gruben ausgehoben, untereinander verbunden mit schmalen Gängen, gerade so, als ob sie dem Grundriss römischer Villen folgen würden. Harrison, der Grabungsleiter, steckt mit Wasserwaage und Maßband quadratmetergroße Arbeitsfelder ab. Mit Meißeln und Kellen graben die Arbeiter den Sandstein zehn Zentimeter tief ab und durchsuchen ihn dabei nach Fossilien. Finden sie ein Knochenstück, wird seine Lage dokumentiert – und es wird vorsichtig herausgeholt. Harrison bestimmt, was sich bestimmen lässt, sortiert die besonders interessanten Stücke aus. Über sie wird Buch geführt und der Arbeiter, der sie gefunden hat, bekommt al Ende der Grabungswoche mit ein paar Kwascha – die Währung Malawis. Für ein menschliches Fossil gibt es 500 Kwacha – umgerechnet sieben Euro. Für die Menschen hier viel Geld.

    Schatten gibt es nicht. Die Männer arbeiten in der brütenden Sonne. Was sie an Abraum herausholen, schaufeln sie zur Seite oder schaffen es mit der Schubkarre weg, um es am Rand aufzukippen. Diese Halde wird durchgesiebt, um kleine Fossilien zu finden, die übersehen wurden. Eine staubige Sisyphusarbeit.

    Vor acht Millionen Jahren änderte sich das Klima, wurde trockener, in Afrika breitete sich die Savanne aus. Dann, vor dreieinhalb Millionen Jahren, wurde es erneut feuchter, die trockene, gelbe Landschaft wieder grüner. Das öffnete den Australopithecinen neue Wege aus ihren begrenzten Lebensräumen rund um den Regenwald. Sie breiteten sich über Afrika aus. Vor drei Millionen Jahren hatten sie Südafrika erreicht, Ost- und Nordostafrika besiedelt. Davon zeugen die berühmten Fossilien Lucies und des Taung-Babies, beide aus längst ausgestorbenen Seitenlinien der Evolution. Auf ihren Wanderungen zogen Lucies Verwandte durch Malawi. Im Südteil des afrikanischen Rifts gab es Nahrung und Wasser. Buschland breitete sich aus und Wälder. Dann – wieder ein Wechsel: Vor 2,8 Millionen Jahren, als sich in Europa die Eiszeiten ankündigten, blieben die Regenzeiten erneut aus.

    Man kann sich vorstellen, dass nun, wenn so etwas 300.000 oder 400.000 Jahre anhält und die Regenzeiten fast ausfallen, dann verändert sich natürlich auch das Angebot an Nahrung für die Tiere und für die Vormenschen.

    Und die mussten reagieren. Die Australopithecinen haben sich von Beeren und Früchten ernährt, von Knollen, Blättern, Vogeleiern, Insekten oder auch Aas. Je trockener es wurde, um so härter wurde ihr Überlebenskampf. Im Überfluss gab es nur harte Pflanzenkost. Um damit fertig zu werden, entwickelte zwei Arten der Vormenschen sehr starke Zähne und eine sehr starke Kaumuskulatur. Innerhalb von 200.000 Jahren hatten sie ihren Körperbau an die Nahrung angepasst.

    Das waren die sogenannten Nussknackermenschen, die vor 2,5 Millionen Jahren zum ersten Mal nachgewiesen sind. Die haben im Grunde genommen mit ihrer Kaumuskulatur, die also so groß war, dass sie auf beiden Seiten am Kopf nach oben gewachsen ist und in der Mitte zusammengestoßen ist, und mit diesen Riesenzähnen die Nahrung kleingekaut und haben sich auf diese Pflanzennahrung spezialisiert, die es ja damals gab, diese hartfaserige. Und der erste Nachweis für das Entstehen von diesen Nussknackertypen, der kommt aus Malawi, von dieser Fundstelle Malema, wo wir uns gerade befinden, da ist das älteste Stück aufgetaucht eines robusten Australopithecinen, das ist ein Oberkiefer mit Zähnen und wir können hier zeigen, dass also vor 2,5 Millionen Jahren hier diese Nussknackermenschen zum ersten Mal aufgetaucht sind.

    Das Besondere an Nordmalawi ist: Hier hat nicht nur der ältesten bekannte Vertreter der robusten Australopithecinen, der Nussknackermensch, gelebt, sondern auch die ältesten bekannten Angehörigen der Gattung Homo, wie der 2 ,5 Millionen Jahre alter Kiefer eines Homo rudolfensis beweist. Die beiden Fossil-Fundstätten sind nur 50 Kilometer voneinander entfernt.

    Diese Fundgebiete in Malawi zeigen zum ersten Mal eine Koexistenz dieser beiden Typen an. Das heißt vor 2,5 Millionen Jahren hat sich diese Spaltung ergeben. Wir können also hier zeigen, dass dieser Stammbaum der Vormenschen sich aufgespalten hat in zwei Linien. Einerseits in die robusten Australopithecinen, in diese sogenannten Nussknackertypen, und andererseits in die Gattung Mensch.

    Ihre Kiefer beweisen: Die Nussknackertypen und die ersten Hominiden haben zwei sehr verschiedene Lösungen für dasselbe Problem – die harte Nahrung – gefunden. Als sich vor zweieinhalb Millionen Jahren der Hominidenstammbaum aufspaltete, setzten die Nussknackertypen auf die Biologie und entwickelten gewaltige Kaumuskeln und riesige Zähne. Die neue Gattung Homo verlegte sich auf Technik: Sie benutzte Steinwerkzeuge zum Zermahlen der Nahrung. Von Anfang an hat sich Homo von der Umwelt unabhängig gemacht – und darauf beruht sein Erfolg.

    Eine Pause im Camp, im Schatten des Baums. Man hat das Gefühl, in kühles Wasser zu tauchen. Samson arbeitet hinter dem Küchenparavent. Ein Bauer hat heute morgen einen Hahn gebracht und ihn mit einem Fuß ans Zelt gebunden. Nach vergeblichen Fluchtversuchen hat er sich niedergehockt. Jetzt, wo ihn die pralle Sonne erreicht, beginnt er zu hecheln. Wir wollen ihm Wasser bringen – aber vor Weißen hat er Angst, er gerät in Panik und erstarrt mitten in der Bewegung, auf einem Bein stehend und mit vorgerecktem Hals. Es dauert lange, bis er sich wieder beruhigt. Später, als Samson kommt. Er greift den Hahn, der sich nicht wehrt. In der "Küche" geht dann alles sehr schnell. Ein ersticktes Gurgeln – und die Zubereitung des Essens beginnt. Es gibt Hahn mit Reis und Salat.

    Die Vor- und Frühmenschen waren Allesfresser. Zwar gab es auch reine Pflanzenspezialisten wie die robusten Australopithecinen, alle anderen haben sich von dem ernährt, was sie fanden, auch Aas, wenn ihnen die Raubtiere etwas übrigließen. Die ersten Vertreter der Gattung Homo konnten noch nicht selbst große Beute jagen. Und: Wie hätten sie ohne die kräftigen Reißzähne der Raubtiere eine Antilope aufbrechen sollen? Bis Homo Schneidwerkzeuge entwickelte, wartete er geduldig auf das, was Löwen, Leoparden, Hyänen und Geier ihm ließen.

    Die Fleischnahrung ist dann eigentlich erst so richtig auf den Speiseplan geraten, als man das Fleisch zerlegen konnte, als man die Tiere zerlegen konnte. Wobei man sagen muss, dass das auch einer der Gründe war, warum das Gehirn sich entwickeln konnte. Denn um das Gehirn zu ernähren, auch in der Schwangerschaft, braucht man nährstoffreiche Nahrung und im Grunde genommen ist die Fleischnahrung eigentlich notwendig zu dem Zeitpunkt, um auch die Gehirnentwicklung voranzutreiben.

    Auch Schimpansen und Paviane fressen Fleisch und töten kleinere Tiere. Für sie ist Fleisch ein Leckerbissen. Auch Menschenaffen benutzen Werkzeuge. Überhaupt ist vieles, was den Menschen ausmacht, schon bei den Primaten angelegt. Alle Primaten haben ein großes Gehirn, auch wenn der Mensch das größte hat. Alle haben ein ausgeprägtes Sozialverhalten.

    Ich denke, dass diese ganzen Faktoren, die zur Menschwerdung führen, also Werkzeugkultur, Gehirn, Sozialverhalten, Sprache und so weiter, das sind alles Faktoren, wenn man sie einzeln betrachtet, kann man sie weit bis in den Primatenstammbaum zurückverfolgen, man wird nie eine Grenze feststellen, so richtig, wo denn das Menschsein begonnen hat.

    Auch das Bewusstsein reicht weit in die Evolution der Menschen zurück. So benutzt er seit zwei Millionen Jahren Feuer. Damit es nicht verlöscht, muss er Holz sammeln und rechtzeitig nachlegen. Das erfordert ausgefeiltes Erkennen von Zusammenhängen. Es ist nicht im Instinkt angelegt, wie das Vorrätesammeln beim Eichhörnchen. Die Frühmenschen wussten, was Zukunft ist.

    Das Besondere an Afrika ist, dass die Nachfahren vieler Tiere, die vor Jahrmillionen hier gelebt haben, heute immer noch da sind. Heute wie damals blubbern Nilpferde im Wasser, warten Krokodile auf Beute, fressen die Elefanten Blätter von den Bäumen, warnen Antilopen vor Löwen und Leoparden.

    In den Steinen von Malema finden die Paläontologen die Knochen von Schweinen, Giraffen, Elefanten und ihre Verwandten, die Dinotherien. Das waren Rüsseltiere, deren nach unten gebogene Stoßzähne im Unterkiefer saßen. Die Vorläufer der Pferde lebten hier, Flusspferde und Krokodile, und vor allem Antilopen:

    Die Antilopen, die sind für uns vor allem deswegen wichtig, weil wir damit ökologische Beziehungen und Umweltveränderungen rekonstruieren können. Denn Antilopen haben sich eigentlich in den letzten fünf Millionen Jahren relativ wenig verändert. Sie hatten ihre Hauptentwicklung davor, und sind eigentlich relativ stabil geblieben als Gruppen, und leben in ganz bestimmten Gebieten, Habitaten, wobei man eigentlich drei Haupthabitate unterscheiden kann. Das eine ist ein offener, trockener Bereich, Savanne würde man sagen. Wenn wir dann 80 Prozent Antilopenfunde haben, von denen wir wissen, das diese bestimmten Arten heute in offenem, trockenen Gebieten leben, dann können wir eigentlich das Gebiet vor drei Millionen Jahren recht gut rekonstruieren.

    Andere Antilopen leben eher in dichten Buschlandschaften und wieder andere entlang von Wasserläufen. Die Vor- und Frühmenschenfossilien aus Malawi sind zusammen mit typischen – und sehr verräterischen – Antilopenknochen gefunden worden. In Malema, woher der Kiefer des Nussknackertypen, des robusten Australopithecinen stammt, war es den Antilopenknochen zufolge vor zweieinhalb Millionen Jahren trocken. Eine Savanne breitete sich aus. 50 Kilometer weiter südlich – dort, wo mit Homo rudolfensis der älteste Vertreter der Gattung Homo lebte –, war es feuchter. Die Antilopen zeigen an: Hier war ein Sumpfgebiet.

    Interessant ist, dass wir und diese robusten Australopithecinen, also diese Nussknackertypen, hier im Norden des Fundgebiets gefunden haben, wo also eher eine trockene Landschaft war, wohingegen homo rudolfensis, also die ersten Angehörigen der Gattung Mensch, offensichtlich gelebt haben am Rande von solchen Galeriewäldern, also wie man das nennt, also um Flüsse herum. Die haben beide, also die robusten Australopithecinen und die Gattung Mensch, zur selben Zeit in derselben Gegend gelebt, allerdings ob sie viel miteinander zu tun hatten, wissen wir nicht.


    Den ganzen Abend über haben wir Trommeln und Gesang gehört. Beim Medizinmann wird Vimbuza getanzt, erklärt Samson. Er fragt, ob wir uns das ansehen wollen. Also machen wir uns auf, stapfen über tiefe Sandwege den Hügel hinauf und kommen schließlich bei der "Klinik" des Zauberarztes an. Die besteht aus kleinen, grauen Lehmhütten, die um eine große herum gebaut sind. Aus ihr dringt der Gesang. Samson verhandelt mit dem Medizinmann, wir dürfen hinein. In der Hütte kämpft eine kleine Petroleumlampe gegen die Finsternis. Dicht gedrängt sitzen die Kranken auf dem Boden. Die Frauen singen, schlagen mit Rasseln und Hölzern den Takt. Der Trommler fällt ein, dann der Tänzer, um dessen Hüften und Füße dicht mit Schellen besetzte Gürtel geschlungen sind. Die Trommel dröhnt, zuckend bringt der Tänzer die Glöckchen zum klingen. Er tanzt sich in Trance. Trommeln, Glöckchen, Rasseln, Hölzer, die Stimmen – der Vimbuza, der heilende Tanz, ist geheimnisvoll, fremd.

    Die Geschichte des Menschen ist ebenso verwickelt, wie bei allen anderen Tieren, und zwar seit Anbeginn, als vor mehr als sechs Millionen Jahren mehrere Familien von Menschenaffen unabhängig voneinander den aufrechten Gang entwickelten.

    Man redet nicht mal mehr von einem Stammbaum, sondern von einem Stammbusch, denn wenn man sich anschaut, wie verzweigt das alles ist und wie viele geographische Varianten das gibt, dann kommt man darauf, dass der Mensch auch nicht anders sich entwickelt hat also die Tierwelt, nämlich immer wieder mit geographischen Varianten, die zum Teil miteinander in Beziehung standen und zum Teil auch nicht, und dann gab es immer wieder diese Fälle, wo man dann die Beziehungen zwischen den Gruppen völlig abgebrochen sind, und wo dann auch einzelne Arten entstanden sind, zum Beispiel bei den Neandertalern, in Europa, das war wirklich eine europäische Form, die mit niemand anderem etwas zu tun hatte, die dann eben ausgestorben sind. Oder bei den robusten Australopithecinen, bei den Nussknackertypen, auch das war praktisch eine Aufspaltung.

    Als sich vor zweieinhalb Millionen Jahren ein weiterer Ast des buschigen Hominidenstammbaums in die Nussknackertypen und Homo rudolfensis aufspaltete, geschah etwas Wichtiges: Evolution lief nicht mehr nur über körperliche Anpassung. Die mangelnde Spezialisierung der Gattung Homo wurde durch seine wachsenden technischen Fertigkeiten wettgemacht.

    Das Schicksal der beiden Arten ist höchst unterschiedlich. Die Nussknackertypen verschwanden vor 900.000 Jahren, als das Klima erneut kühler und trockener wurde. Vielleicht waren sie überspezialisiert, konnten sich nicht schnell genug anpassen. Vielleicht haben sie schlicht im Kampf mit Nahrungskonkurrenten verloren. Die Gattung Homo aber entwickelte sich weiter. Zu der Zeit, als mit den Nussknackertypen der letzte Australopithecus verschwand, brachte die Gattung Homo den Homo sapiens hervor, den modernen Menschen. Ob seine Wurzeln ausschließlich in Afrika liegen, und er von dort aus die Welt eroberte, oder ob er sich auf seinen Wanderungen mit anderen Menschenarten in Europa, Asien oder Australien vermischte, diese Frage versuchen die Genetiker zu lösen.

    Die Theatergruppe "Miracle" zieht singend von der Bühne. Die Menschen in Karonga sind stolz auf ihre Geschichte, darauf, dass hier entfernte Verwandte der heutigen Menschen gelebt haben. Sie freuen sich auf ihr Museum, ein Museum, in dem 100 Millionen Jahre Geschichte vorgestellt werden.

    Weitere Informationen finden Sie unter: http://www.senckenberg.uni-frankfurt.de/fis/palant.htm