"Wie sollen Gedichte gelesen werden? Gerade der echte Freund der Dichtung wird sich dagegen sträuben, das man ihm gleichsam eine allgemein gültige Vorschrift in die Hand drückt. Jedes Gedicht, so wir er sagen, erfordert einen besonderen Zugang. Wie ja schon daraus hervor geht, dass sich nicht jedes in jeder Stunde erschließt."
Emil Staigers beschwörenden Sprechgestus empfinden wir heute als sehr pathetisch, sind befremdet von dieser Art raunend-rühmender Andachtshaltung. Ihm war daran gelegen, dass kein Schatten des Zeitgeschehens auf die "Kunst der Interpretation"- so der Titel eines seiner Hauptwerke - fallen sollte. Unbeirrbar hielt der Zürcher Germanistikprofessor Emil Staiger, der am 8. Februar 1908 in Kreuzlingen zur Welt kam, an diesem Grundsatz fest, angefangen von seiner Dissertation über die Werke "Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters" und die "Grundbegriffe der Poetik" bis zu seinen späten Arbeiten. Denn große Dichtung, und damit meinte er v.a. die klassische und nachklassische deutschsprachige Literatur, sei zeitlos.
Der Schweizer Staiger wurde zu einem der wichtigsten Wegbereiter der sogenannten werkimmanenten Interpretation, die über die Schweiz hinaus im Nachkriegsdeutschland neben der geistesgeschichtlichen Richtung bis in die sechziger Jahre die wissenschaftliche Beschäftigung mit sprachlichen Kunstwerken bestimmte. Allein dem, der sich auf das dichterische Wort, und nur darauf besinne, könnten sich das Geheimnis der Dichtung und ihre Schönheit erschließen. Nur dem affektiv berührten Leser würden sich die Schichten tieferer Bedeutung offenbaren.
Der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer:
"Staiger war lange Zeit einer der Stars der germanistischen Zunft - und doch ist seine Biographie voller sprachgewaltig vernebelter Widersprüche, also recht typisch für eine ganze Generation von Geisteswissenschaftlern dieser Periode. Mit ihrem Gestus des 'der Not der Zeit enthoben seins', des ,in die Schönheit zurückfinden wollens'". "
Natürlich ist dieses Beharren auf der Eigenständigkeit und Abgehobenheit einer als wertvoll und ewiggültig gerühmten hohen Literatur selber eine Zeiterscheinung. Sie ist kaum zu verstehen ohne die Hoffnungen auf eine Erneuerungsbewegung, die sich mit dem Nationalsozialismus verbanden, auch in der Schweiz. Also glaubte man gern, dass in der Nazibewegung ein idealistischer Kern stecke. Das gehörte auch in der Schweiz zum kollektiven Gedankengut. Und Staiger war kein Aufklärer und Widerstand gegen eine normensetzende Öffentlichkeit war ihm fremd. Die erklärte Distanz seiner Wissenschaft zur Politik hinderte den begeisterungsfähigen jungen Gelehrten nicht, 1933, zu Beginn seiner Universitätskarriere, in die rechtsgerichtete Nationale Front einzutreten. Das Intermezzo war relativ kurz, aber seine an Wortkunstwerken bewährte Methode des Sich-Einfühlens übertrug er durchaus in den Bereich des Politischen, wenn er Machthaber vom Schlage Hitlers "menschlich" verstehen wollte. Viel zu lange galt diese Methode in Deutschland als unbelastet, war also unverdächtig und wurde sogar als antifaschistisch gepriesen.
" "Erst im Zusammenhang mit der Studentenbewegung gab es starke Widerstände gegen diese Art von Abgehobenheit: ahistorisch - unpolitisch - und ein wenig verlogen war die von Staiger "Stilkritik" genannte Methode. Eine Art inneres philologisches Exil."
Man hatte geglaubt, wenn man das Politische aus der Literatur verbannte, könnte man verhindern, dass literarische Werke von Ideologien vereinnahmt würden. Als Schweizer konnte Staiger von einer gewissen Distanz zur Naziherrschaft profitieren. Und es dauerte lange, bis dieser Mythos bröckelte. Zunächst hatte er 1966 selbst mit seiner Attacke gegen "das Unsittliche" in der zeitgenössischen Literatur den Zürcher Literaturstreit ausgelöst und damit seine Glaubwürdigkeit unterminiert.
"Max Frisch war es wohl, der als erster auf die Nähe dieses Verdikts zur "entarteten Kunst" hinwies. Damit begann das Ende der Ära Staiger. Doch es sollte dann noch weitere 30 Jahre dauern, bis die höchst ambivalente und in vielerlei Hinsicht rechtskonservative Haltung der Schweizer Germanistik während der NS-Herrschaft ins Blickfeld der Wissenschaftsgeschichte des Faches geriet."
Emil Staigers beschwörenden Sprechgestus empfinden wir heute als sehr pathetisch, sind befremdet von dieser Art raunend-rühmender Andachtshaltung. Ihm war daran gelegen, dass kein Schatten des Zeitgeschehens auf die "Kunst der Interpretation"- so der Titel eines seiner Hauptwerke - fallen sollte. Unbeirrbar hielt der Zürcher Germanistikprofessor Emil Staiger, der am 8. Februar 1908 in Kreuzlingen zur Welt kam, an diesem Grundsatz fest, angefangen von seiner Dissertation über die Werke "Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters" und die "Grundbegriffe der Poetik" bis zu seinen späten Arbeiten. Denn große Dichtung, und damit meinte er v.a. die klassische und nachklassische deutschsprachige Literatur, sei zeitlos.
Der Schweizer Staiger wurde zu einem der wichtigsten Wegbereiter der sogenannten werkimmanenten Interpretation, die über die Schweiz hinaus im Nachkriegsdeutschland neben der geistesgeschichtlichen Richtung bis in die sechziger Jahre die wissenschaftliche Beschäftigung mit sprachlichen Kunstwerken bestimmte. Allein dem, der sich auf das dichterische Wort, und nur darauf besinne, könnten sich das Geheimnis der Dichtung und ihre Schönheit erschließen. Nur dem affektiv berührten Leser würden sich die Schichten tieferer Bedeutung offenbaren.
Der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer:
"Staiger war lange Zeit einer der Stars der germanistischen Zunft - und doch ist seine Biographie voller sprachgewaltig vernebelter Widersprüche, also recht typisch für eine ganze Generation von Geisteswissenschaftlern dieser Periode. Mit ihrem Gestus des 'der Not der Zeit enthoben seins', des ,in die Schönheit zurückfinden wollens'". "
Natürlich ist dieses Beharren auf der Eigenständigkeit und Abgehobenheit einer als wertvoll und ewiggültig gerühmten hohen Literatur selber eine Zeiterscheinung. Sie ist kaum zu verstehen ohne die Hoffnungen auf eine Erneuerungsbewegung, die sich mit dem Nationalsozialismus verbanden, auch in der Schweiz. Also glaubte man gern, dass in der Nazibewegung ein idealistischer Kern stecke. Das gehörte auch in der Schweiz zum kollektiven Gedankengut. Und Staiger war kein Aufklärer und Widerstand gegen eine normensetzende Öffentlichkeit war ihm fremd. Die erklärte Distanz seiner Wissenschaft zur Politik hinderte den begeisterungsfähigen jungen Gelehrten nicht, 1933, zu Beginn seiner Universitätskarriere, in die rechtsgerichtete Nationale Front einzutreten. Das Intermezzo war relativ kurz, aber seine an Wortkunstwerken bewährte Methode des Sich-Einfühlens übertrug er durchaus in den Bereich des Politischen, wenn er Machthaber vom Schlage Hitlers "menschlich" verstehen wollte. Viel zu lange galt diese Methode in Deutschland als unbelastet, war also unverdächtig und wurde sogar als antifaschistisch gepriesen.
" "Erst im Zusammenhang mit der Studentenbewegung gab es starke Widerstände gegen diese Art von Abgehobenheit: ahistorisch - unpolitisch - und ein wenig verlogen war die von Staiger "Stilkritik" genannte Methode. Eine Art inneres philologisches Exil."
Man hatte geglaubt, wenn man das Politische aus der Literatur verbannte, könnte man verhindern, dass literarische Werke von Ideologien vereinnahmt würden. Als Schweizer konnte Staiger von einer gewissen Distanz zur Naziherrschaft profitieren. Und es dauerte lange, bis dieser Mythos bröckelte. Zunächst hatte er 1966 selbst mit seiner Attacke gegen "das Unsittliche" in der zeitgenössischen Literatur den Zürcher Literaturstreit ausgelöst und damit seine Glaubwürdigkeit unterminiert.
"Max Frisch war es wohl, der als erster auf die Nähe dieses Verdikts zur "entarteten Kunst" hinwies. Damit begann das Ende der Ära Staiger. Doch es sollte dann noch weitere 30 Jahre dauern, bis die höchst ambivalente und in vielerlei Hinsicht rechtskonservative Haltung der Schweizer Germanistik während der NS-Herrschaft ins Blickfeld der Wissenschaftsgeschichte des Faches geriet."