Der Abend des 9. Oktober 1989 in Leipzig, kurz nach 20 Uhr. Gewandhauskapellmeister Kurt Masur steht am Pult seines Orchesters und dirigiert ein Trompetenkonzert von Siegfried Matthus. Ein Abend vor ausverkauftem Haus. Und alle – die Musiker wie die zweitausend Zuhörer – sind aufgewühlt.
"Es war ein Moment der Gemeinsamkeit, wie wir ihn in der Stadt Leipzig nie zuvor erlebt haben."
Befindet Masur ein Jahr später. Und die damalige Demonstrantin Susanne Rummel sagt heute:
"Das Wichtigste an dem Tag war, einfach aus der Angst herauszugehen und zu bestimmen: Ich muss da jetzt langgehen, ich muss da jetzt mitmachen – sonst mach ich mir den Rest meines Lebens nur Vorwürfe."
Die Herbstmontage 1989 in Leipzig – sie waren Tage voller Spannung. Schon seit Jahren hatte es in der Nikolaikirche in der Innenstadt jeden Montag regimekritische Treffen gegeben: die sogenannten Friedensgebete. Aus den Gebeten waren in diesem Herbst Demonstrationen geworden. Die Teilnehmer zeigten nach dem Gebet öffentlich Flagge. Für die Staatsmacht eine Provokation.
"Für die SED und für die Sicherheitsorgane – Stasi, Polizei, einschließlich Armee – war klar, dass an diesem 9. Oktober, wie es so sinngemäß hieß, endgültig mit der Konterrevolution Schluss gemacht werden sollte."
Sagt der Historiker Tobias Hollitzer, Leiter der Gedenkstätte in der früheren Leipziger Stasi-Zentrale. Zwei Tage waren vergangen seit den Feiern zum 40. Geburtstag der DDR am 7. Oktober. Die internationalen Gäste, allen voran Michail Gorbatschow, waren abgereist – nun waren die Bürgerrechtler in Leipzig auf sich allein gestellt. Der Liedermacher Dieter Kalka traf in seinem Haus einen jungen Nachbarn.
"Der war bei der Armee und kam irgendwie mal kurz nach Hause, und der erzählte dann, dass die in den Kasernen sozusagen schon bewaffnet sitzen. Und eigentlich bloß auf nen Befehl warten, loszufahren!"
"Am 9. Oktober früh in der Schule wurden wir noch von unserer Geografielehrerin eingeschworen."
Erinnert sich der damals 17-jährige Schüler Friedrich Kühn.
"Wer da heute Abend hingeht, der beteiligt sich an einer neofaschistischen Veranstaltung, der wird mit aller Härte zur Rechenschaft gezogen – also wurde richtig eingeheizt; und wenn man dann mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhr, sah man ja auch in den Außenbezirken die Panzer stehen, die Mannschaftswagen stehen, man wusste also: Es wird damit gerechnet, dass es dort wirklich zum Showdown kommt."
"Die Versuche, die Demonstration an sich nicht stattfinden zu lassen, sind vielgestaltig gewesen."
Erläutert Tobias Hollitzer.
"Man hat eben sehr gezielt auch Gerüchte gestreut oder hat gedroht – das Bekannteste ist ja dieser Leserbrief eines Kampfgruppenkommandeurs in der Leipziger Volkszeitung vom 6. Oktober"
Zitat LVZ-Leserbrief:
"Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand."
Was das heißt, hat die Staatsmacht am 7. Oktober gezeigt; in Ost-Berlin, aber auch in Leipzig. Sie hat alle Demonstrationsversuche brutal erstickt; wer sich auf dem Platz vor der Nikolaikirche auch nur kurz aufhielt, der wurde verhaftet, rüde verhört und stundenlang festgehalten. Der Leipziger Pfarrer Christoph Wonneberger ist alarmiert.
"Da war mir eigentlich ganz klar: Wir müssen was Außerordentliches machen! Denn wenn das schon an dem 7. schon anfängt so – was wird dann am 9. sein? Und da hab ich gesagt: Wir müssen irgendwie ein Flugblatt machen."
Wonneberger und seine Mitstreiter drucken in Handarbeit das ganze Wochenende hindurch, Tag und Nacht, 30.000 Flugblätter. Mit dem dringenden Aufruf zur Gewaltlosigkeit.
"Und das war klar: Es muss ein Flugblatt sein für die, die auf die Straße gehen, und genauso die, die die Aufgabe hatten, das niederzuhalten. Und die brauchen beide ein Geländer. Dass man nicht einfach bloß so ganz spontane Sachen macht!"
Dass die Demonstranten von sich aus friedlich bleiben, das hofft auch Rolf Stecker, Regieassistent am Leipziger Schauspielhaus.
"Ich hatte auch irgendwie die Hoffnung, dass es nicht von der Polizei geht – aber bei diesen Knalltüten von den Kampfgruppen, die haben wirklich extrem mit den Füßen gescharrt! Und da hat man in dem Auge Hass gesehen!"
Gemeint sind die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" – paramilitärische Einheiten, die als Reaktion auf den Aufstand des 17. Juni 1953 gebildet worden waren. Stecker zögert dennoch keinen Moment – auch diesmal wird er wieder mitgehen. Allerdings:
"An dem Tag wollten meine Frau und meine Tochter eigentlich mitkommen, und nachdem ich das gesehen habe, hab ich gesagt: Nee, Freunde, also, Ihr könnt gern nächste Woche wieder oder irgendwann, aber: heute nicht! Das kann haarig werden!"
Wie sich die Lage zuspitzt, erfahren auch die Pfarrer. In den Mittagsstunden stehen ihre Telefone nicht still. Der damalige Superintendent Friedrich Magirius.
"Anrufe von Krankenhäusern, Ärzte und Krankenschwestern sagten: Wir sind angewiesen und sollen Betten bereitstellen, Blutkonserven – dann hat eine der Damen vom Fernsprechamt persönlich mich angesprochen und gesagt: Herr Magirius, ich muss Sie warnen! Was heute hier über die Leitungen gegangen ist, macht mir solche Angst!"
Magirius' Amtsbruder Christoph Kähler, Dozent an der Kirchlichen Hochschule, macht sich folglich auf das Schlimmste gefasst.
"Meine Empfehlung war: Falls es dazu kommt, werden die Leute zurückflüchten in die Kirchen. Dann kommt vieles drauf an, dass es nicht mehr Masse bleibt, sondern dass man kleine Gesprächskreise bildet, zusammenträgt, sich gegenseitig berät, damit aus der Masse wieder Subjekte werden."
Allerdings: Nicht nur mit Drohungen versucht die Staatsmacht, die Lage in den Griff zu bekommen. Am Vormittag trifft sich die SED-Parteigruppe im Neuen Rathaus. Der Tontechniker Dietmar Apitz hat da gerade Dienst im Sitzungssaal.
"Eigentlich sitzt man da und hört sich das mehr oder weniger gelangweilt mit an, genauso hörten wir am Anfang dort auch zu – bis wir merkten, um was es da eigentlich ging. Wir hörten, dass die Parteigruppe in die Nikolaikirche gehen soll und dort im Prinzip die Kirche besetzen soll, damit dann die Demonstranten keinen Platz mehr drin finden."
Es folgt ein Crash-Kurs für Atheisten, wie man sich in einer Kirche zu verhalten habe. Apitz und sein Kollege ziehen derweil ihren eigenen Schluss.
"Wir fanden das so primitiv und dachten: Das ist so hinterhältig – also müssen wir in die Kirche gehen und dort Bescheid sagen, damit die irgendwie zumindest da handeln können!"
"Wir haben dann nur schnellstens die Emporen geschlossen, damit diese (lacht) fremde Besatzung nicht noch weitere Plätze einnehmen kann."
"Und die Ränge wurden dann kurz vor dem Friedensgebet erst – 16 Uhr oder was weiß ich wann – freigegeben."
Unten im Kirchenschiff sitzen SED-Genossen, darunter auch viele Angehörige der Leipziger Universität; auf den Emporen drängen sich die Regimekritiker. Auf dem Platz rund um die Kirche warten noch Tausende weitere.
"Wir mussten uns dann wie durch einen überfüllten Autobus vom Pfarrhaus hinüber in die Kirche bewegen!"
Währenddessen hat in einer Redaktion im Sender Leipzig das Telefon geklingelt. Kurt Masur, so heißt es, wolle eine Erklärung abgeben und über die Medien verbreiten. Radiomoderator Michael Zock macht sich auf den Weg ins Gewandhaus.
"Und ich kam dann nun mit meinem Reportergerät hin, und erst sollte ich den ganzen Text vorlesen, und dann sollte Bernd-Lutz Lange den Text lesen, der wollte aber nicht, und schließlich machte ich dann, glaube ich, den Vorschlag, dass ihn Masur als bekannter und gestandener Mann lesen sollte, und das haben wir dann auch gemacht."
Dass Zock zuvor zeitweise als IM der Stasi agierte, ahnt niemand. Allerdings weiß auch Zocks Führungsoffizier nichts davon, was sein IM an diesem Nachmittag tut. Schon kurz darauf geht die Aufnahme über den Sender.
Aufruf der "Leipziger Sechs”:
[Zock:] "Die Leipziger Bürger Prof. Kurt Masur, Pfarrer Dr. Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Mayer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel wenden sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger."
[Masur:] "Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur."
Zock: "Masur hat – das kann ich auch bestätigen – noch gesagt: 'Hoffentlich nützt es was!'"
Auch über Lautsprecher auf den Straßen der Stadt wird die Erklärung verbreitet – alle zehn Minuten.
Reporterband (Stimme Masurs aus dem Stadtfunk-Lautsprecher)
Zock: "Und es gab – Beifall!"
"So, und ich bin dann mit mächtigem Herzklopfen zu den Leuten und hab sie befragt."
Straßenumfrage:
[Zock:] "Sie haben auch Beifall geklatscht – was bewegt Sie an diesem Abend?"
[Passanten:] "Also, ich musste einfach mal mit dabei sein, ich hab ooch drei Schulkinder, und da... aus der Schule kommen die jetzt... Angst hab ich ooch e bissel..." – "Friedlich auf jeden Fall. Keine Gewalt! Das kann ich nur wiederholen..." – "Die Disziplin, die ist anerkennenswert!"
Beim Friedensgebet herrscht währenddessen atemlose Spannung. In der Nikolaikirche und drei weiteren Gotteshäusern sitzen insgesamt 9.000 Menschen.
Rummel: "Es war eine sehr seltsame Stimmung – also Du hast gemerkt: Diese Angst ist wirklich greifbar; da half kein Singen, nichts, kein Predigen, nichts – da war einfach Angst."
Magirius: "Und es kam dann zu diesen Bitten, die dringend ausgesprochen wurden: Lasst Euch nicht provozieren! Übt keine Gewalt! Das hat der Bischof ganz ermutigend gesagt: Geht Euren Weg! Geht den Weg nach Hause, aber geht auch den Weg, der jetzt vor Euch liegt – geht Euren Weg mit dem Segen Gottes!"
Um 18 Uhr endet das Gebet. Für die Demonstranten das Signal zum Aufbruch. Auch für Susanne Rummel und Friedrich Kühn.
"Das war überwältigend, als wir aus der Kirche kamen. Wie viele Menschen sich da in der Leipziger Innenstadt versammelt hatten."
"Es lag so ne Ruhe über dem Ganzen – 70.000 Leute, die eigentlich mehr oder weniger völlig schweigend da langliefen, es wurde immer wieder mal was gesungen oder was skandiert, aber eigentlich war es schweigend."
Denn es ist ein Weg Auge in Auge mit den Polizisten und mit den Paramilitärs.
"Da haben wir gedacht: Wir reden jetzt mit denen! Die haben bestimmt genau so viel Angst wie wir. Da hab ich den offensichtlichen Chef der Leute gefragt, ob er uns denn gerne verprügelt hätte. Da hat er gesagt, das könne er nicht beantworten, er wisse nur eines: Sein Sohn sei bei uns. Und wie er jetzt wirklich gehandelt hätte, könne er nicht mehr sagen, aber jetzt habe er keine Lust mehr zum Hauen. Und ist dann mit seiner Truppe weggegangen."
Hollitzer: "Und als sich jetzt dieser Demonstrationszug in Bewegung setzt, der Polizeichef, aber auch die anderen Verantwortlichen auf den Monitoren des sogenannten Operativen Fernsehens diese Massen sehen, kommt er für sich zu dem, sag ich mal, rein polizeitaktischen Schluss, dass er mit den Sicherheitskräften, die er hier zur Verfügung hat, gegen diese Massen wenig ausrichten kann, ohne dass es sozusagen in 'nem völligen Desaster endet. Und zu diesem Zeitpunkt schlägt der Polizeichef dem SED-Chef vor, dass er ihm befehlen möge, sich zurückzuziehen."
Denn die Verantwortlichen haben zwar versucht, die Staatsspitze in Ost-Berlin zu kontaktieren. Aber dort ist niemand erreichbar. Dabei rennt die Zeit – denn vom Start der Demonstration bis zur Blockadestellung der Polizei am Hauptbahnhof sind es nur einige Hundert Meter.
Hollitzer: " In letzter Sekunde – quasi ehe die Spitze des Demonstrationszuges auf die Polizeikette stößt, bekommt die den Befehl zur sog. Eigensicherung, das heißt, nur einzugreifen, wenn sie angegriffen werden, sie ziehen sich zurück, und die Demonstration zieht weiter, über den Ring.""
Dort wird sie erwartet. Von Beobachtern der Stasi mit Kameras. Aber es filmen auch noch andere: zwei junge Dissidenten aus Ost-Berlin. Siegbert Schefke und sein Mitstreiter brauchten allerdings ein Versteck.
"Deswegen die Wahl, auf einen Kirchturm zu klettern und von oben den Innenstadtring zu filmen, also, wir haben da oben im Taubendreck gelegen und gefilmt, schlicht und einfach. Uns war klar: Wenn wir die Bilder heil rauskriegen – das wird 'n Erdrutsch mindestens in der DDR geben,"
15 Minuten Material bekommen die beiden zusammen. Während sie noch filmen, steuern die Demonstranten schon auf eine heikle Stelle zu: die Leipziger Stasi-Zentrale, die berüchtigte "Runde Ecke".
"Also, an der Runden Ecke vorbeizugehen, war noch mal ne besondere Hürde, weil man natürlich damit rechnete, dass direkt an dieser Stelle dann irgendetwas passieren könnte; zum einen dachte man: Vielleicht überreagieren die Demonstranten und stürmen diese Runde Ecke – oder die Polizei und das Militär wartet genau an dieser Stelle, um die Demonstration aufzulösen, und direkt, bevor man die Runde Ecke erreichte, war die Ruhe eigentlich allumfassend; da war wirklich Schweigen, und man lief da schweigend vorbei, also fast auf Zehenspitzen: Hoffentlich passiert jetzt hier nix!"
Denn noch ahnt keiner der Demonstranten, dass ihnen die Staatsmacht die Herrschaft über die Straße überlassen hat. Zu sehen ist die Polizeipräsenz immer noch.
"Dann erinnere ich mich an eine Situation, da sah man an den Oberleitungen der Straßenbahn auf einmal so Blaulicht reflektieren – und alle dachten: Jetzt passiert's! Aber dann war's nur ein Krankenwagen, der durch musste, weil wahrscheinlich irgendwo jemand zusammengebrochen war, aber da hielt so eine Menge von 70.000 Leuten auf einmal den Atem an und dachte: Jetzt passiert's. Und dann ging es eben doch weiter, und Schritt für Schritt wurde man hoffnungsvoller; und als man dann irgendwann um den Ring tatsächlich einmal rumgelaufen war und am Augustusplatz wieder ankam, da wusste man dann: Ja – jetzt hat sich wirklich was verändert. Jetzt ist dieses Land nicht mehr das, was es vorher war."
Freilich – auch wenn kein Schießbefehl erging, stand es auf Messers Schneide. Tobias Hollitzer.
"Es hätte völlig ausgereicht, wenn an diesem 9. Oktober – 70.000 Demonstranten auf der einen Seite, und an irgendeiner Stelle, hätte es begonnen, gewaltsam zu werden. Dann wäre auch selbst ohne Einsatz von Schusswaffen das mit Sicherheit in nem großen Desaster geendet. Weil, diese Massen halten Sie einfach nicht mehr."
Dass es gut ging, ist wohl auch das Resultat gegenseitiger Aufmerksamkeit unter den Demonstranten. Christoph Kähler.
"Ich hab erst nachträglich von Studenten gehört, die sehr genau zugesehen haben in den Demonstrationen und gelegentlich dafür gesorgt haben, dass ein agent provocateur, der dann gesagt hatte 'Auf die Runde Ecke!' und 'Jetzt stürmen!' – der wurde dann nach der anderen Seite zum Demonstrationszug hinausbefördert."
So vergehen die gut anderthalb Stunden auf dem Ring ohne Zwischenfall.
"Und von dem amtierenden SED-Chef Helmut Hackenberg ist das Zitat überliefert, dass er in dem Moment, wo Egon Krenz gegen 19.30 zurückgerufen habe, ihm gesagt haben soll: [sächselt] 'Nuu, jetz' sinse' rum!'"
"Und – dass nichts passiert ist, war wirklich wie ein Wunder!"
Sprechchor "Wir sind das Volk!"
Gegen zwanzig vor acht ist der Weg abgeschritten; die Demonstration löst sich auf. Die Organisatoren können durchatmen. Das tun auch Superintendent Magirius und Nikolaipfarrer Christian Führer.
Magirius: "Zunächst kann ich nur sagen: Für den Abend haben wir gedankt. Wir trafen uns, die wir in den vier Kirchen Verantwortung hatten, in meinem Amtszimmer."
Führer: "Also, wir hingen irgendwie total erschöpft im Sessel, aber unglaublich glücklich, dass nicht geschossen worden war, dass die's geschafft hatten, den Ring zu umrunden! Da kam die Ahnung bei mir: Die DDR ist heute Abend nicht mehr dieselbe wie heute früh! Hier ist irgend etwas Unbegreifliches geschehen!"
Rummel: "Ich wusste genau, dass, wenn wir einmal rumkommen, dass wir auch beim zweiten, beim dritten, beim vierten Mal herumkommen, und dass das immer mehr werden."
Viele Demonstranten finden an diesem Abend keine Ruhe. Ulla Heise zieht es in das Lokal des Kabaretts Pfeffermühle.
"Gegen 21 Uhr kam Bernd-Lutz Lange hinein in die Kneipe, und die Kneipe -waren ganz viele Leute drin - also vielleicht 60 oder 70 – die boten Bernd-Lutz Lange Standing ovations. Er kriegte dort vielleicht den wärmsten und schönsten Beifall seines Lebens."
Was die Erklärung Langes und der anderen "Leipziger Sechs" bedeutet, das erkennen auch die Reporter westlicher Radiosender. Aus dem Abendbericht von Hartwig Weber im Deutschlandfunk.
DLF-Bericht Hartwig Weber:
"Auch wenn der Appell nicht zugleich ausdrücklich die SED in die Forderung nach Gesprächen einschließt, ist er doch das erste offizielle Zeichen aus der Staatspartei heraus für eine Verständigung."
Zumal diese Staatspartei bald darauf unter zusätzlichem Druck steht. Unter einem Druck, der von Fernsehbildern ausgeht. Denn Siegbert Schefke hat seine Filmaufnahmen unbeobachtet vom Kirchturm herunterbringen können.
"Die Kassette hat dann im damaligen Hotel Merkur, die hab ich nem Diplomaten gegeben; und der hat die sich gleich in die Unterhose gesteckt, vor lauter Angst – ja, und der hat sie dann nach Berlin gebracht, nach West-Berlin logischerweise, und dann sind sie 'nen Tag später, denk ich mal, weltweit gelaufen."
Schon in den ARD-Tagesthemen können die DDR-Zuschauer mit eigenen Augen sehen, dass nicht ein versprengtes Häuflein demonstriert hat, sondern Zehntausende. Tobias Hollitzer misst gerade dem Effekt solcher Berichte große Bedeutung zu.
"Wenn man's aus heutiger Sicht betrachtet – wenn man sich anschaut, was seitens der Staatssicherheit, der SED, der Polizei an Planungen weiter auch nach dem 9. lief, wie die Denke war, muss man, glaube ich, sagen, dass es ein riesiger Glücksumstand war, dass die Gesamtheit der Bevölkerung den 9. Oktober als den Durchbruch wahrgenommen hat."
Denn noch Ende Oktober träumen Stasi-Chef Erich Mielke und Innenminister Friedrich Dickel davon, endlich gewaltsam durchzugreifen. Und so war der 9. Oktober auf dem Ring in Leipzig zwar der wichtigste Tag der Friedlichen Revolution. Aber noch nicht der letzte.
Hollitzer: "Das heißt: Wenn die Demonstrantenzahlen in Leipzig und dann auch in vielen, vielen anderen Städten nicht stetig gestiegen wären und so dieser Druck auf der Straße permanent erhöht worden wäre, wäre es durchaus nicht ausgeschlossen gewesen, dass auch die Friedliche Revolution in der damaligen DDR einen anderen Verlauf genommen hätte."
Sprechchor "Demokratie – jetzt oder nie!"
"Es war ein Moment der Gemeinsamkeit, wie wir ihn in der Stadt Leipzig nie zuvor erlebt haben."
Befindet Masur ein Jahr später. Und die damalige Demonstrantin Susanne Rummel sagt heute:
"Das Wichtigste an dem Tag war, einfach aus der Angst herauszugehen und zu bestimmen: Ich muss da jetzt langgehen, ich muss da jetzt mitmachen – sonst mach ich mir den Rest meines Lebens nur Vorwürfe."
Die Herbstmontage 1989 in Leipzig – sie waren Tage voller Spannung. Schon seit Jahren hatte es in der Nikolaikirche in der Innenstadt jeden Montag regimekritische Treffen gegeben: die sogenannten Friedensgebete. Aus den Gebeten waren in diesem Herbst Demonstrationen geworden. Die Teilnehmer zeigten nach dem Gebet öffentlich Flagge. Für die Staatsmacht eine Provokation.
"Für die SED und für die Sicherheitsorgane – Stasi, Polizei, einschließlich Armee – war klar, dass an diesem 9. Oktober, wie es so sinngemäß hieß, endgültig mit der Konterrevolution Schluss gemacht werden sollte."
Sagt der Historiker Tobias Hollitzer, Leiter der Gedenkstätte in der früheren Leipziger Stasi-Zentrale. Zwei Tage waren vergangen seit den Feiern zum 40. Geburtstag der DDR am 7. Oktober. Die internationalen Gäste, allen voran Michail Gorbatschow, waren abgereist – nun waren die Bürgerrechtler in Leipzig auf sich allein gestellt. Der Liedermacher Dieter Kalka traf in seinem Haus einen jungen Nachbarn.
"Der war bei der Armee und kam irgendwie mal kurz nach Hause, und der erzählte dann, dass die in den Kasernen sozusagen schon bewaffnet sitzen. Und eigentlich bloß auf nen Befehl warten, loszufahren!"
"Am 9. Oktober früh in der Schule wurden wir noch von unserer Geografielehrerin eingeschworen."
Erinnert sich der damals 17-jährige Schüler Friedrich Kühn.
"Wer da heute Abend hingeht, der beteiligt sich an einer neofaschistischen Veranstaltung, der wird mit aller Härte zur Rechenschaft gezogen – also wurde richtig eingeheizt; und wenn man dann mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhr, sah man ja auch in den Außenbezirken die Panzer stehen, die Mannschaftswagen stehen, man wusste also: Es wird damit gerechnet, dass es dort wirklich zum Showdown kommt."
"Die Versuche, die Demonstration an sich nicht stattfinden zu lassen, sind vielgestaltig gewesen."
Erläutert Tobias Hollitzer.
"Man hat eben sehr gezielt auch Gerüchte gestreut oder hat gedroht – das Bekannteste ist ja dieser Leserbrief eines Kampfgruppenkommandeurs in der Leipziger Volkszeitung vom 6. Oktober"
Zitat LVZ-Leserbrief:
"Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand."
Was das heißt, hat die Staatsmacht am 7. Oktober gezeigt; in Ost-Berlin, aber auch in Leipzig. Sie hat alle Demonstrationsversuche brutal erstickt; wer sich auf dem Platz vor der Nikolaikirche auch nur kurz aufhielt, der wurde verhaftet, rüde verhört und stundenlang festgehalten. Der Leipziger Pfarrer Christoph Wonneberger ist alarmiert.
"Da war mir eigentlich ganz klar: Wir müssen was Außerordentliches machen! Denn wenn das schon an dem 7. schon anfängt so – was wird dann am 9. sein? Und da hab ich gesagt: Wir müssen irgendwie ein Flugblatt machen."
Wonneberger und seine Mitstreiter drucken in Handarbeit das ganze Wochenende hindurch, Tag und Nacht, 30.000 Flugblätter. Mit dem dringenden Aufruf zur Gewaltlosigkeit.
"Und das war klar: Es muss ein Flugblatt sein für die, die auf die Straße gehen, und genauso die, die die Aufgabe hatten, das niederzuhalten. Und die brauchen beide ein Geländer. Dass man nicht einfach bloß so ganz spontane Sachen macht!"
Dass die Demonstranten von sich aus friedlich bleiben, das hofft auch Rolf Stecker, Regieassistent am Leipziger Schauspielhaus.
"Ich hatte auch irgendwie die Hoffnung, dass es nicht von der Polizei geht – aber bei diesen Knalltüten von den Kampfgruppen, die haben wirklich extrem mit den Füßen gescharrt! Und da hat man in dem Auge Hass gesehen!"
Gemeint sind die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" – paramilitärische Einheiten, die als Reaktion auf den Aufstand des 17. Juni 1953 gebildet worden waren. Stecker zögert dennoch keinen Moment – auch diesmal wird er wieder mitgehen. Allerdings:
"An dem Tag wollten meine Frau und meine Tochter eigentlich mitkommen, und nachdem ich das gesehen habe, hab ich gesagt: Nee, Freunde, also, Ihr könnt gern nächste Woche wieder oder irgendwann, aber: heute nicht! Das kann haarig werden!"
Wie sich die Lage zuspitzt, erfahren auch die Pfarrer. In den Mittagsstunden stehen ihre Telefone nicht still. Der damalige Superintendent Friedrich Magirius.
"Anrufe von Krankenhäusern, Ärzte und Krankenschwestern sagten: Wir sind angewiesen und sollen Betten bereitstellen, Blutkonserven – dann hat eine der Damen vom Fernsprechamt persönlich mich angesprochen und gesagt: Herr Magirius, ich muss Sie warnen! Was heute hier über die Leitungen gegangen ist, macht mir solche Angst!"
Magirius' Amtsbruder Christoph Kähler, Dozent an der Kirchlichen Hochschule, macht sich folglich auf das Schlimmste gefasst.
"Meine Empfehlung war: Falls es dazu kommt, werden die Leute zurückflüchten in die Kirchen. Dann kommt vieles drauf an, dass es nicht mehr Masse bleibt, sondern dass man kleine Gesprächskreise bildet, zusammenträgt, sich gegenseitig berät, damit aus der Masse wieder Subjekte werden."
Allerdings: Nicht nur mit Drohungen versucht die Staatsmacht, die Lage in den Griff zu bekommen. Am Vormittag trifft sich die SED-Parteigruppe im Neuen Rathaus. Der Tontechniker Dietmar Apitz hat da gerade Dienst im Sitzungssaal.
"Eigentlich sitzt man da und hört sich das mehr oder weniger gelangweilt mit an, genauso hörten wir am Anfang dort auch zu – bis wir merkten, um was es da eigentlich ging. Wir hörten, dass die Parteigruppe in die Nikolaikirche gehen soll und dort im Prinzip die Kirche besetzen soll, damit dann die Demonstranten keinen Platz mehr drin finden."
Es folgt ein Crash-Kurs für Atheisten, wie man sich in einer Kirche zu verhalten habe. Apitz und sein Kollege ziehen derweil ihren eigenen Schluss.
"Wir fanden das so primitiv und dachten: Das ist so hinterhältig – also müssen wir in die Kirche gehen und dort Bescheid sagen, damit die irgendwie zumindest da handeln können!"
"Wir haben dann nur schnellstens die Emporen geschlossen, damit diese (lacht) fremde Besatzung nicht noch weitere Plätze einnehmen kann."
"Und die Ränge wurden dann kurz vor dem Friedensgebet erst – 16 Uhr oder was weiß ich wann – freigegeben."
Unten im Kirchenschiff sitzen SED-Genossen, darunter auch viele Angehörige der Leipziger Universität; auf den Emporen drängen sich die Regimekritiker. Auf dem Platz rund um die Kirche warten noch Tausende weitere.
"Wir mussten uns dann wie durch einen überfüllten Autobus vom Pfarrhaus hinüber in die Kirche bewegen!"
Währenddessen hat in einer Redaktion im Sender Leipzig das Telefon geklingelt. Kurt Masur, so heißt es, wolle eine Erklärung abgeben und über die Medien verbreiten. Radiomoderator Michael Zock macht sich auf den Weg ins Gewandhaus.
"Und ich kam dann nun mit meinem Reportergerät hin, und erst sollte ich den ganzen Text vorlesen, und dann sollte Bernd-Lutz Lange den Text lesen, der wollte aber nicht, und schließlich machte ich dann, glaube ich, den Vorschlag, dass ihn Masur als bekannter und gestandener Mann lesen sollte, und das haben wir dann auch gemacht."
Dass Zock zuvor zeitweise als IM der Stasi agierte, ahnt niemand. Allerdings weiß auch Zocks Führungsoffizier nichts davon, was sein IM an diesem Nachmittag tut. Schon kurz darauf geht die Aufnahme über den Sender.
Aufruf der "Leipziger Sechs”:
[Zock:] "Die Leipziger Bürger Prof. Kurt Masur, Pfarrer Dr. Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Mayer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel wenden sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger."
[Masur:] "Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur."
Zock: "Masur hat – das kann ich auch bestätigen – noch gesagt: 'Hoffentlich nützt es was!'"
Auch über Lautsprecher auf den Straßen der Stadt wird die Erklärung verbreitet – alle zehn Minuten.
Reporterband (Stimme Masurs aus dem Stadtfunk-Lautsprecher)
Zock: "Und es gab – Beifall!"
"So, und ich bin dann mit mächtigem Herzklopfen zu den Leuten und hab sie befragt."
Straßenumfrage:
[Zock:] "Sie haben auch Beifall geklatscht – was bewegt Sie an diesem Abend?"
[Passanten:] "Also, ich musste einfach mal mit dabei sein, ich hab ooch drei Schulkinder, und da... aus der Schule kommen die jetzt... Angst hab ich ooch e bissel..." – "Friedlich auf jeden Fall. Keine Gewalt! Das kann ich nur wiederholen..." – "Die Disziplin, die ist anerkennenswert!"
Beim Friedensgebet herrscht währenddessen atemlose Spannung. In der Nikolaikirche und drei weiteren Gotteshäusern sitzen insgesamt 9.000 Menschen.
Rummel: "Es war eine sehr seltsame Stimmung – also Du hast gemerkt: Diese Angst ist wirklich greifbar; da half kein Singen, nichts, kein Predigen, nichts – da war einfach Angst."
Magirius: "Und es kam dann zu diesen Bitten, die dringend ausgesprochen wurden: Lasst Euch nicht provozieren! Übt keine Gewalt! Das hat der Bischof ganz ermutigend gesagt: Geht Euren Weg! Geht den Weg nach Hause, aber geht auch den Weg, der jetzt vor Euch liegt – geht Euren Weg mit dem Segen Gottes!"
Um 18 Uhr endet das Gebet. Für die Demonstranten das Signal zum Aufbruch. Auch für Susanne Rummel und Friedrich Kühn.
"Das war überwältigend, als wir aus der Kirche kamen. Wie viele Menschen sich da in der Leipziger Innenstadt versammelt hatten."
"Es lag so ne Ruhe über dem Ganzen – 70.000 Leute, die eigentlich mehr oder weniger völlig schweigend da langliefen, es wurde immer wieder mal was gesungen oder was skandiert, aber eigentlich war es schweigend."
Denn es ist ein Weg Auge in Auge mit den Polizisten und mit den Paramilitärs.
"Da haben wir gedacht: Wir reden jetzt mit denen! Die haben bestimmt genau so viel Angst wie wir. Da hab ich den offensichtlichen Chef der Leute gefragt, ob er uns denn gerne verprügelt hätte. Da hat er gesagt, das könne er nicht beantworten, er wisse nur eines: Sein Sohn sei bei uns. Und wie er jetzt wirklich gehandelt hätte, könne er nicht mehr sagen, aber jetzt habe er keine Lust mehr zum Hauen. Und ist dann mit seiner Truppe weggegangen."
Hollitzer: "Und als sich jetzt dieser Demonstrationszug in Bewegung setzt, der Polizeichef, aber auch die anderen Verantwortlichen auf den Monitoren des sogenannten Operativen Fernsehens diese Massen sehen, kommt er für sich zu dem, sag ich mal, rein polizeitaktischen Schluss, dass er mit den Sicherheitskräften, die er hier zur Verfügung hat, gegen diese Massen wenig ausrichten kann, ohne dass es sozusagen in 'nem völligen Desaster endet. Und zu diesem Zeitpunkt schlägt der Polizeichef dem SED-Chef vor, dass er ihm befehlen möge, sich zurückzuziehen."
Denn die Verantwortlichen haben zwar versucht, die Staatsspitze in Ost-Berlin zu kontaktieren. Aber dort ist niemand erreichbar. Dabei rennt die Zeit – denn vom Start der Demonstration bis zur Blockadestellung der Polizei am Hauptbahnhof sind es nur einige Hundert Meter.
Hollitzer: " In letzter Sekunde – quasi ehe die Spitze des Demonstrationszuges auf die Polizeikette stößt, bekommt die den Befehl zur sog. Eigensicherung, das heißt, nur einzugreifen, wenn sie angegriffen werden, sie ziehen sich zurück, und die Demonstration zieht weiter, über den Ring.""
Dort wird sie erwartet. Von Beobachtern der Stasi mit Kameras. Aber es filmen auch noch andere: zwei junge Dissidenten aus Ost-Berlin. Siegbert Schefke und sein Mitstreiter brauchten allerdings ein Versteck.
"Deswegen die Wahl, auf einen Kirchturm zu klettern und von oben den Innenstadtring zu filmen, also, wir haben da oben im Taubendreck gelegen und gefilmt, schlicht und einfach. Uns war klar: Wenn wir die Bilder heil rauskriegen – das wird 'n Erdrutsch mindestens in der DDR geben,"
15 Minuten Material bekommen die beiden zusammen. Während sie noch filmen, steuern die Demonstranten schon auf eine heikle Stelle zu: die Leipziger Stasi-Zentrale, die berüchtigte "Runde Ecke".
"Also, an der Runden Ecke vorbeizugehen, war noch mal ne besondere Hürde, weil man natürlich damit rechnete, dass direkt an dieser Stelle dann irgendetwas passieren könnte; zum einen dachte man: Vielleicht überreagieren die Demonstranten und stürmen diese Runde Ecke – oder die Polizei und das Militär wartet genau an dieser Stelle, um die Demonstration aufzulösen, und direkt, bevor man die Runde Ecke erreichte, war die Ruhe eigentlich allumfassend; da war wirklich Schweigen, und man lief da schweigend vorbei, also fast auf Zehenspitzen: Hoffentlich passiert jetzt hier nix!"
Denn noch ahnt keiner der Demonstranten, dass ihnen die Staatsmacht die Herrschaft über die Straße überlassen hat. Zu sehen ist die Polizeipräsenz immer noch.
"Dann erinnere ich mich an eine Situation, da sah man an den Oberleitungen der Straßenbahn auf einmal so Blaulicht reflektieren – und alle dachten: Jetzt passiert's! Aber dann war's nur ein Krankenwagen, der durch musste, weil wahrscheinlich irgendwo jemand zusammengebrochen war, aber da hielt so eine Menge von 70.000 Leuten auf einmal den Atem an und dachte: Jetzt passiert's. Und dann ging es eben doch weiter, und Schritt für Schritt wurde man hoffnungsvoller; und als man dann irgendwann um den Ring tatsächlich einmal rumgelaufen war und am Augustusplatz wieder ankam, da wusste man dann: Ja – jetzt hat sich wirklich was verändert. Jetzt ist dieses Land nicht mehr das, was es vorher war."
Freilich – auch wenn kein Schießbefehl erging, stand es auf Messers Schneide. Tobias Hollitzer.
"Es hätte völlig ausgereicht, wenn an diesem 9. Oktober – 70.000 Demonstranten auf der einen Seite, und an irgendeiner Stelle, hätte es begonnen, gewaltsam zu werden. Dann wäre auch selbst ohne Einsatz von Schusswaffen das mit Sicherheit in nem großen Desaster geendet. Weil, diese Massen halten Sie einfach nicht mehr."
Dass es gut ging, ist wohl auch das Resultat gegenseitiger Aufmerksamkeit unter den Demonstranten. Christoph Kähler.
"Ich hab erst nachträglich von Studenten gehört, die sehr genau zugesehen haben in den Demonstrationen und gelegentlich dafür gesorgt haben, dass ein agent provocateur, der dann gesagt hatte 'Auf die Runde Ecke!' und 'Jetzt stürmen!' – der wurde dann nach der anderen Seite zum Demonstrationszug hinausbefördert."
So vergehen die gut anderthalb Stunden auf dem Ring ohne Zwischenfall.
"Und von dem amtierenden SED-Chef Helmut Hackenberg ist das Zitat überliefert, dass er in dem Moment, wo Egon Krenz gegen 19.30 zurückgerufen habe, ihm gesagt haben soll: [sächselt] 'Nuu, jetz' sinse' rum!'"
"Und – dass nichts passiert ist, war wirklich wie ein Wunder!"
Sprechchor "Wir sind das Volk!"
Gegen zwanzig vor acht ist der Weg abgeschritten; die Demonstration löst sich auf. Die Organisatoren können durchatmen. Das tun auch Superintendent Magirius und Nikolaipfarrer Christian Führer.
Magirius: "Zunächst kann ich nur sagen: Für den Abend haben wir gedankt. Wir trafen uns, die wir in den vier Kirchen Verantwortung hatten, in meinem Amtszimmer."
Führer: "Also, wir hingen irgendwie total erschöpft im Sessel, aber unglaublich glücklich, dass nicht geschossen worden war, dass die's geschafft hatten, den Ring zu umrunden! Da kam die Ahnung bei mir: Die DDR ist heute Abend nicht mehr dieselbe wie heute früh! Hier ist irgend etwas Unbegreifliches geschehen!"
Rummel: "Ich wusste genau, dass, wenn wir einmal rumkommen, dass wir auch beim zweiten, beim dritten, beim vierten Mal herumkommen, und dass das immer mehr werden."
Viele Demonstranten finden an diesem Abend keine Ruhe. Ulla Heise zieht es in das Lokal des Kabaretts Pfeffermühle.
"Gegen 21 Uhr kam Bernd-Lutz Lange hinein in die Kneipe, und die Kneipe -waren ganz viele Leute drin - also vielleicht 60 oder 70 – die boten Bernd-Lutz Lange Standing ovations. Er kriegte dort vielleicht den wärmsten und schönsten Beifall seines Lebens."
Was die Erklärung Langes und der anderen "Leipziger Sechs" bedeutet, das erkennen auch die Reporter westlicher Radiosender. Aus dem Abendbericht von Hartwig Weber im Deutschlandfunk.
DLF-Bericht Hartwig Weber:
"Auch wenn der Appell nicht zugleich ausdrücklich die SED in die Forderung nach Gesprächen einschließt, ist er doch das erste offizielle Zeichen aus der Staatspartei heraus für eine Verständigung."
Zumal diese Staatspartei bald darauf unter zusätzlichem Druck steht. Unter einem Druck, der von Fernsehbildern ausgeht. Denn Siegbert Schefke hat seine Filmaufnahmen unbeobachtet vom Kirchturm herunterbringen können.
"Die Kassette hat dann im damaligen Hotel Merkur, die hab ich nem Diplomaten gegeben; und der hat die sich gleich in die Unterhose gesteckt, vor lauter Angst – ja, und der hat sie dann nach Berlin gebracht, nach West-Berlin logischerweise, und dann sind sie 'nen Tag später, denk ich mal, weltweit gelaufen."
Schon in den ARD-Tagesthemen können die DDR-Zuschauer mit eigenen Augen sehen, dass nicht ein versprengtes Häuflein demonstriert hat, sondern Zehntausende. Tobias Hollitzer misst gerade dem Effekt solcher Berichte große Bedeutung zu.
"Wenn man's aus heutiger Sicht betrachtet – wenn man sich anschaut, was seitens der Staatssicherheit, der SED, der Polizei an Planungen weiter auch nach dem 9. lief, wie die Denke war, muss man, glaube ich, sagen, dass es ein riesiger Glücksumstand war, dass die Gesamtheit der Bevölkerung den 9. Oktober als den Durchbruch wahrgenommen hat."
Denn noch Ende Oktober träumen Stasi-Chef Erich Mielke und Innenminister Friedrich Dickel davon, endlich gewaltsam durchzugreifen. Und so war der 9. Oktober auf dem Ring in Leipzig zwar der wichtigste Tag der Friedlichen Revolution. Aber noch nicht der letzte.
Hollitzer: "Das heißt: Wenn die Demonstrantenzahlen in Leipzig und dann auch in vielen, vielen anderen Städten nicht stetig gestiegen wären und so dieser Druck auf der Straße permanent erhöht worden wäre, wäre es durchaus nicht ausgeschlossen gewesen, dass auch die Friedliche Revolution in der damaligen DDR einen anderen Verlauf genommen hätte."
Sprechchor "Demokratie – jetzt oder nie!"