Unter den Vorzeichen einer "neuen Ethik für globalen Kulturaustausch" soll das koloniale Erbe in deutschen Museen aufgearbeitet werden.
Träger und Kulturpolitiker sollen die Häuser finanziell und personell in die Lage versetzen, die Aufarbeitung des kolonialen Erbes als dauerhafte Aufgabe zu verankern. In den vergangenen vier Jahren wurde er mehrfach überarbeitet – und zwar unter der Leitung von Wiebke Ahrndt, Direktorin des Übersee-Museums in Bremen.
Änne Seidel: Wie unterscheidet sich die jetzige Fassung von den vorherigen? Was ist neu in dieser dritten und endgültigen Ausgabe des Leitfadens?
Wiebke Ahrndt: Es wurden eine ganze Reihe Präzisierungen vorgenommen, es wurden noch mal ausführlichere Texte verfasst, zum Thema Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften beispielsweise, und - ganz wichtig - es ist ein E-Reader entstanden, der den Leitfaden jetzt begleitet, indem sich ganz viele Praxisbeispiele aus den Bereichen Sammeln, Bewahren, Forschen, Vermitteln und natürlich auch zum Thema Rückgabe befinden. Aber auch sehr viele internationale Richtlinien und Empfehlungen, damit die Mitarbeitenden in den Museen und auch andere Interessierte einfach tatsächlich mal sehen können: Was ist zu dem Thema schon passiert? Wo kann ich mich vielleicht orientieren? Bei wem kann ich mal nachfragen? Also, das war ein ganz wichtiger Wunsch der Expertinnen und Experten aus den Herkunftsgesellschaften, mit denen wir diesen Leitfaden überarbeitet haben: Gebt den Häusern, gebt den Menschen, die damit zu tun haben, mehr Praxisbeispiele an die Hand! Und dieser Bitte haben wir natürlich Folge geleistet.
Kapitel zur Rückgabe deutlich überarbeitet
Änne Seidel: Jetzt haben Sie es gerade schon angedeutet. Dieser Leitfaden ist das Ergebnis eines mehrjährigen Feedback-Gesprächs, könnte man sagen. Sie haben nach Fassung eins und Fassung zwei jeweils die Fachwelt um konstruktives Feedback gebeten und das dann eingearbeitet. Was waren die wichtigsten Kritikpunkte an den früheren Versionen?
Wiebke Ahrndt: Kritikpunkte gab es tatsächlich gar nicht so viele. Es gab eine sehr große Zustimmung, dass wir uns vonseiten der deutschen Museen auf den Weg gemacht haben. Die deutsche Kolonialvergangenheit ist ja sehr lange in Deutschland in Vergessenheit geraten und es wird international sehr begrüßt, dass sich das jetzt geändert hat und dass das Thema wirklich in der Öffentlichkeit angekommen ist. Das, was tatsächlich sehr intensiv diskutiert wurde und was dann auch eine sehr deutliche Überarbeitung erfahren hat, das ist das Kapitel zum Thema Rückgabe. Denn da war in der ersten Fassung der Blick sehr stark gerichtet auf rechtliche und ethische Fragestellungen, also, vor allen Dingen ist der Frage nachzugehen, wie ist etwas in die Sammlung gekommen und war das auf eine Weise, wo man sagen muss, das kann eigentlich bei uns nicht mehr bleiben - außer die Herkunftsgesellschaft möchte das gerne so. Da haben wir jetzt den Blick geweitet und gesagt, es kann auch Sammlungsgut geben, das vielleicht komplett legal und ethisch völlig korrekt in die Sammlung gekommen ist, das aber eine derart herausragenden Bedeutung in der Herkunftsgesellschaft hat, dass es einen guten Grund gibt, es doch an diese zurückzugeben, weil es dann dort dringlicher gebraucht wird als bei uns in deutschen Museen. Und da ist tatsächlich eine Erweiterung in die Diskussion hineingekommen.
Bisher kaum Rückgabeforderungen
Änne Seidel: War es gerade mit Blick auf diesen Punkt Rückgaben, war es manchmal schwierig, sich da auf ein Standpunkt zu einigen? Weil, ich könnte mir vorstellen, dass diese Frage nach Rückgaben, dass die von deutschen Museen manchmal anders beantwortet wird als von Menschen in den Herkunftsgesellschaften, oder?
Wiebke Ahrndt: Das kann gegebenenfalls vorkommen. Nun muss man sagen, dass es ja so gut wie gar keine Rückgabeforderung aus den Herkunftsgesellschaften an deutsche Museen gibt. Die, die es gibt, beziehen sich fast ausschließlich auf menschliche Überreste. Und dann gibt es noch einige wenige, andere Fälle. Aber da gibt es jetzt gar nicht so viel Reibung. Das, was tatsächlich erwartet wurde in den Gesprächen, die wir geführt haben, war eine grundsätzliche Bereitschaft zur Rückgabe. Also, sich grundsätzlich positiv dazu zu stellen, dass es auch sein kann, dass Sammlungsgut das Museum wieder verlässt und in ein Herkunftsland zurückgegeben wird. Und da hat sich sehr viel getan in der deutschen Museumslandschaft. Das muss man so sagen. Das betrifft natürlich überwiegend die ethnografischen Sammlungen - wir fassen natürlich aber den Begriff der kolonialen Kontexte sehr viel weiter, weil es sehr viel Sammlungsgut gibt in den deutschen Museen, wo das Thema Rückgabe überhaupt gar nicht auf der Tagesordnung steht. Denken Sie nur mal an Uniformen, an Waffen, an Flaggen, an technisches Gerät, mit denen die Kolonien erschlossen wurden. All das ist auch Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, aber kein Thema, das am Ende bei einer Rückgabe münden würde.
Änne Seidel: Sie haben vorhin schon gesagt, dass Sie den Leitfaden jetzt um eine ganze Menge Praxisbeispiele ergänzt haben. Vielleicht könnten Sie uns mal ein konkretes Beispiel vorstellen, ein Museum vielleicht, das schon jetzt vorbildlich umgeht mit der eigenen Sammlung.
Wiebke Ahrndt: Also, ich komme dann, weil es am naheliegendsten ist, jetzt einfach mal mit meinem eigenen Haus. Da sind mir die Praxisbeispiele natürlich sehr vertraut. Wir haben beispielsweise bei uns eine eigene Dauerausstellung eingerichtet, die sich mit der Entstehung der Sammlung des Übersee-Museums beschäftigt. Wir starten jetzt im März eine große Zusammenarbeit mit Samoa, wo wir von Tag eins an zusammen Ausstellung gemeinsam machen, und zwar sowohl eine rein virtuelle Ausstellung zum Südpazifik als auch eine, die bei uns im Haus gezeigt wird. Und wir haben gemeinsam mit der Universität Hamburg hier noch ein Forschungsprojekt seit einigen Jahren schon am Haus zur Erforschung der Sammlung aus den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika aus der deutschen Kolonialzeit. Das sind mal so Facetten, die man auch dann eben aus anderen Häusern in dem E-Reader findet, wo einem ein Einblick geliefert wird, was ist eigentlich alles möglich, was ist woanders schon passiert.
Änne Seidel: Sie arbeiten jetzt seit vier Jahren an diesem Leitfaden. Wenn Sie mal vergleichen zwischen damals, als sie das Projekt begonnen haben, und heute? Wie groß sind die Fortschritte im Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten?
Wiebke Ahrndt: Da hat sich sehr viel getan. Es gibt in sehr vielen Häusern inzwischen Digitalisierungsprojekte, es werden die ersten Inventare online gestellt, es werden die Sammlungen sukzessive online gestellt. Da ist wirklich sehr viel Bewegung drin. Es gibt eine ganze Reihe Provenienzforschungsprojekte. Es gibt inzwischen Ausstellung, die sich mit dieser Thematik beschäftigen in verschiedenen Teilen Deutschlands, in verschiedenen Häusern. Es ist tatsächlich sehr viel geschehen dafür, dass es so lange gebraucht hat, um das Thema in der deutschen Museumslandschaft zu verankern.
Digitalisierung als große Herausforderung
Änne Seidel: Und wo ist noch Luft nach oben? Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Baustellen bei der Aufarbeitung unserer Museumssammlungen?
Wiebke Ahrndt: Es ist tatsächlich die Digitalisierung und Onlinestellung der Sammlungen - das ist noch eine Herkulesaufgabe, weil wir reden von sehr großen Sammlungsbeständen. Die Provenienzforschung ist noch in den Kinderschuhen, trotz all der Projekte, die laufen, weil das ist eine Sisyphosarbeit, die zu tun und die ist sehr zeitaufwendig und das geht sehr langsam voran. Und bei den Kooperationsprojekten passiert nur sehr punktuell etwas, weil die Museen im Moment gar nicht finanziell in der Situation sind, so etwas standardmäßig ganz regulär zu einem festen Bestandteil ihrer Arbeit zu machen. Und da würde ich mir sehr wünschen, dass da tatsächlich die Finanzierungsstruktur der Museen noch einmal grundsätzlich auf neue Füße gestellt wird, damit es dauerhaft möglich ist, Menschen aus den Herkunftsgesellschaften in unseren Häusern einzubinden, in unsere tägliche Arbeit.
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