Doris Schäfer-Noske: Heute vor 60 Jahren ist in Karlsruhe, also am Sitz von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgerichts, eine Wanderausstellung eröffnet worden, die sich mit Justizverbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt hat. Die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" zeigte Dokumente zu Strafverfahren und Todesurteilen, aber auch zu Nachkriegskarrieren der beteiligten Richter und Staatsanwälte.
Die Ausstellung wurde bis Februar 1962 in zehn bundesdeutschen Städten und einigen ausländischen Universitätsstädten gezeigt. Veranstalter waren studentische Gruppen, meist Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS. Der Hauptautor war der Westberliner Student Reinhard Strecker. Finanziert wurde die Ausstellung nur aus Privatspenden. Sie war sehr einfach gehalten, oft konnte sie nur in Privaträumen stattfinden.
Und trotzdem hat diese Ausstellung damals eine große öffentliche Wirkung gehabt. In Karlsruhe gibt es heute Abend zum Jahrestag einen Vortrag und eine Podiumsdiskussion. Frage an den Historiker Norbert Frei: Warum hatte denn diese Ausstellung eine solche Wirkung, obwohl sie mit so bescheidenen Mitteln auskommen musste? Hat sie den Nerv der Zeit getroffen?
Norbert Frei: Genau das. Die Ausstellung kam zum richtigen Zeitpunkt in dem Sinne, dass sich in der Gesellschaft doch eine Unzufriedenheit, ein merkwürdiges klammes Gefühl über die Vergangenheitspolitik der 50er-Jahre breit zu machen begann. Und sie kam zu einem Zeitpunkt, wo schon seit einigen Jahren von Seiten der DDR massive Angriffe auf die westdeutschen Eliten und insbesondere auch auf die Justiz gekommen waren. Eine ganze Weile lang konnte man das in Zeiten des Kalten Krieges als kommunistische Propaganda abtun. Aber nun kamen diese jungen Leute mit Dokumentenmaterial daher und haben das aus eigenen Mitteln in relativ einfacher Form präsentiert. Und das verfehlte dann jedenfalls über die nächsten Monate und Jahre hinaus seine Wirkung nicht.
Kontinuitäten bewiesen
Wichtig war auch, dass an einem bestimmten Punkt der Generalbundesanwalt sich diese Dokumente von Reinhard Strecker und seiner Gruppe zeigen ließ und anerkennen musste: Nein, das ist nicht einfach kommunistische Propaganda, das sind keine "Fake Documents", wie man heute sagen würde, sondern das ist tatsächlich reales Material, was zeigt, wie hochgradig die Justiz sich zum Büttel der Nationalsozialisten gemacht hatte. Das war in einem Moment und zu einem Zeitpunkt, wo sich das Nachdenken über die NS-Vergangenheit gerade zu ändern begann.
Schäfer-Noske: Wie ist denn Reinhard Strecker an die Dokumente damals gekommen, die er präsentierte?
Frei: Die Dokumente lagen in Ostberlin. Das war ja auch der Ansatzpunkt für die Apologeten im Westen zu sagen: Das ist alles DDR-Material. Aber in Wirklichkeit war es Material vor allem auch aus dem Reichsjustizministerium, und diese Materialien waren in der Hand der Ostberliner. Reinhard Strecker ist einfach dort hingefahren und hat sich das Material geben lassen. Es ist auch Material aus anderen Ländern noch eingeflossen. Mit anderen Worten: Die jungen Leute der SDS, die haben einfach wirklich nachgefragt und haben sich nicht länger abspeisen lassen mit dieser Vorstellung, das sei alles kommunistische Propaganda.
Schäfer-Noske: War denn die Aussage dieser Ausstellung im Grunde, die Verbrecher der NS-Justiz sind die Richter und Staatsanwälte von heute?
Frei: Ja! Es ist in der Tat auch einer der Punkte gewesen, an dem die DDR am klarsten darauf verweisen konnte, dass während in der DDR ein ziemlich radikaler Bruch, was das Justizsystem anging, gemacht worden war, auf der anderen Seite in der Bundesrepublik die personalpolitische Kontinuität in der Justiz besonders groß gewesen ist. Das ist natürlich von Seiten der DDR mit dem Argument verbunden worden, dass diese "Blutrichter", wie es in der Propaganda hieß, "in Adenauers Diensten", dass die jetzt auch in der Bundesrepublik NS-Recht sprechen würden. Davon konnte natürlich nicht die Rede sein. Die haben sich angepasst. Die haben versucht, sich wegzuducken und nun Richter in der Demokratie zu sein, so gut sie es konnten und verstanden. Aber das Skandalon, dass es diese Kontinuität gab, dass diese Justizverbrechen nicht bearbeitet und nicht geahndet worden waren, das blieb ja.
Wendepunkt in der Geschichtsaufarbeitung
Schäfer-Noske: Welche Folgen hatte diese Ausstellung?
Frei: Die Ausstellung gehört zu einer Reihe von Faktoren, die dann dazu führen, dass Anfang der 60er-Jahre doch so etwas einsetzt wie ein kritischeres Nachdenken und die Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und was diese Vergangenheit eigentlich auch in der Gegenwart noch bedeutet. Dazu gehört dann 1961 der Eichmann-Prozess in Jerusalem, der natürlich auch die Deutschen aufwühlte. Und es gehört dann aber vor allem der von Fritz Bauer in Gang gesetzte Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965 dazu. Mit anderen Worten: Das alles ist in der Kontinuität dessen, was da Ende der 50er-Jahre aufbricht.
Schäfer-Noske: Im Grunde markiert die Ausstellung auch einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Deutschland.
Frei: Man kann sagen, dass diese Ausstellung Teil eines größeren Wendepunktes ist. In dem Moment, in dem sie begonnen hat, war sie noch nicht so bedeutend. Aber ihre Bedeutsamkeit ist gewissermaßen auch im Nachhinein immer klarer geworden, dass sie etwas markiert an einer Neuorientierung insbesondere in der jungen Generation.
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