Gerd Hankel war als Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung rund 70 Mal in Ruanda. Er sollte untersuchen, wie eine Gesellschaft nach einem Völkermord weiterlebt. Im Mittelpunkt seines Interesses standen die "Gacaca-Gerichte". Diese traditionellen Laiengerichte schlichteten früher Nachbarschaftsstreitigkeiten in dem grünen Hügelland. Nach dem Völkermord war Ruandas Justiz völlig überlastet, die Gefängnisse überfüllt mit Untersuchungshäftlingen. Ab 2002 saßen dann 14.000 Gacaca-Kammern unter Bäumen und auf Grasplätzen über eine Million Angeklagte zu Gericht, um über Völkermord Beschuldigungen zu entscheiden. Zehn Jahre lang, bis 2012, arbeiteten die Laiengerichte. Weltweit wurde das Gacaca-Prinzip als mutiger Schritt auf dem Weg zu Gerechtigkeit gelobt.
Gerd Hankel bemängelt Siegerjustiz
Gerd Hankels Fazit ist dagegen ernüchternd:
"Die Gacaca-Justiz [war] nicht frei, gleich und allgemein,... sondern die Justiz eines Siegers." Alte Rechnungen unter Nachbarn wurden mit Hilfe von Gacaca Prozessen beglichen. Vor allem aber, das beschreibt Hankel anschaulich, wurden Angeklagte auf Druck von Regierungsangehörigen und entgegen entlastender Zeugenaussagen verurteilt - nur weil sie früher politische Posten bekleidet hatten, zum Beispiel Bürgermeister waren. Hankel belegt seine Aussagen mit präzisen eigenen Beobachtungen, die er bei seinen teilweise mehrmonatigen Aufenthalten machte. Und durch zahlreiche Gespräche mit Menschen, deren Vertrauen er gewinnen konnte. Gerd Hankel untersucht auf weit mehr als 500 Seiten die anderen Seiten der Wahrheit, denn..."Der Völkermord in Ruanda hat eine Vorgeschichte... Der Völkermord stellt die extreme Eskalationsstufe eines Krieges dar..."
Zur Vorgeschichte gehört, dass früher Rinder züchtende Tutsi ärmere Hutu-Bauernfamilien zur Fronarbeit zwangen. 1959 erhoben sich Hutu in blutigen Revolten gegen die Vorherrschaft der Tutsi. Über 100.000 Tutsi flohen daraufhin in die Nachbarländer, unter ihnen ein kleiner Junge namens Paul Kagame.
Wie der Konflikt eskalierte
In den folgenden Jahrzehnten bildete sich ein gewalttätiges Muster heraus: Bewaffnete Tutsi-Gruppen versuchten, über die Grenze nach Ruanda zu gelangen - die in Ruanda verbliebenen Tutsi wurden Opfer gewalttätiger Hutu. In den 1980er Jahren stellten Tutsi in Uganda eine Rebellenarmee auf und drangen immer wieder tief nach Ruanda ein. Ab dem 1. Oktober 1990 herrschte schließlich offener Krieg zwischen der Rebellenarmee unter Führung von Paul Kagame und der ruandischen Regierung.
"Für Hutu... war der Krieg ein Symbol für Tod und Vertreibung. Überfälle auf Dörfer und Städte, die Ermordung auch von Frauen und Kindern mit Macheten und Feldhacken, die Eliminierung von Personen, die als 'intellektuell' galten (Bürgermeister, Lehrer, Beamte), schufen ein Klima der Angst, ja Panik."
Fast eine Million Hutu lebten als Flüchtlinge im eigenen Land unter erbärmlichen Umständen in Lagern. Ab April 1994 massakrierte die vorrückende Tutsi-Rebellenarmee bei ihrem Marsch auf die Hauptstadt Kigali auch wehrlose Hutu. Mit dieser Gewalt allerdings beschäftigten sich die Gacaca-Gerichte nicht. Ebenso wenig mit den Gewalttaten ruandischer Soldaten im Ostkongo. Dorthin waren Millionen Hutu nach dem Sieg der Kagame-Armee geflohen. Darunter natürlich auch Völkermord-Verdächtige. Aber auch Unschuldige, die dem Furor des Krieges zu entkommen suchten. Nachrichten und Bilder vom Elend in den kongolesischen Wäldern drangen nur spärlich nach außen. Gegen die Veröffentlichung eines entsprechenden UNO-Berichtes intervenierte die ruandische Regierung, mit Erfolg. Bis heute sind die Schrecken im Ostkongo nicht völlig aufgeklärt. Und ungesühnt.
Hankel stellt Erzählmuster und Deutungen in Frage
Mit seinem Buch gelingt es Gerd Hankel überzeugend, die komplexen Zusammenhänge und Interessen in Ruanda und im Ostkongo darzustellen. Er schreibt chronologisch, gegliedert nach fünf Entwicklungsetappen der jüngsten ruandischen Geschichte. Und er nimmt sich Zeit für vertiefende Exkurse - etwa wenn er den Genozid in Ruanda mit dem Holocaust vergleicht. Und deutliche Unterschiede feststellt - denn Jüdinnen und Juden in Europa haben bekanntlich - anders als Tutsi gegen Hutus - vor ihrer Vernichtung keinen Krieg gegen Deutschland geführt.
Dabei verringert Gerd Hankel in keiner Zeile das Leid der ruandischen Völkermord-Opfer. Er sieht nur genau hin und stellt herrschende Erzählmuster und Deutungen in Frage. Er zeigt, wie die ruandische Regierung den Völkermord benutzt: Sei es, um eigene Gewalttaten zu verdecken, wenn sie etwa die Zuständigkeit der Gacaca-Gerichte strikt beschränkt auf Gewalttaten von Hutu im Rahmen des Völkermordes. Oder sei es, um kritische Stimmen im heutigen Ruanda mit dem regierungsamtlichen Vorwurf der Verbreitung von - Zitat: - "genozidärem Gedankengut" zum Schweigen zu bringen. Wer sich nicht fügt, wird bedroht, landet im Gefängnis - und wird manchmal umgebracht. Gerd Hankels gut lesbares Buch lenkt den Blick auf die weitgehend verschwiegenen und unterdrückten Seiten der Wahrheit: Es zeigt, wie die neue Machtelite englischsprachiger Tutsi Ruanda zunehmend in den Würgegriff nimmt. Und wie der Autor Hoffnungen auf eine demokratische Zukunft dieses Landes verliert.
Gerd Hankel: "Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord. Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird"
zu Klampen! Verlag, 487 Seiten, 24,80 Euro.
zu Klampen! Verlag, 487 Seiten, 24,80 Euro.