Schon in der ersten Legislaturperiode der Rot-Rot-Grünen Landesregierung unter dem Linken Bodo Ramelow waren die Bemühungen erkennbar, Opfern von DDR-Zwangsdoping zu ihrem Recht, zu richtiger medizinischer Behandlung oder auch zu Entschädigungen zu verhelfen. Nun startet eine Forschungskooperation, finanziert von der Thüringer Staatskanzlei, vom Landessportbund und dem Olympischen Sportbund. Jutta Braun und René Wiese vom Zentrum deutsche Sportgeschichte Potsdam wollen sich unter anderem durch die Vernehmungsprotokolle der Doping-Prozesse nach der Wiedervereinigung arbeiten. Den beiden bisherigen Forschungsquellen – offiziellen Akten und Zeitzeugen-Interviews – wollen sie damit einen neuen Strang hinzufügen, so Jutta Braun.
Vernehmungen als neue Forschungsquelle
"Das Interessante sind nämlich die Vernehmungen, die stattgefunden haben, und zwar mit drei Gruppen primär: Mit den potenziellen Tätern, das waren Funktionäre, Ärzte und Trainer in der Regel, dann mit Geschädigten oder Betroffenen zumindest, und, fast die interessanteste Sparte, die Vernehmungen einfach nur mit Zeugen, also Personen, die nicht beschuldigt waren selber, aber die als Mitarbeiter im Sportapparat tätig waren, die als Mitarbeiter in einer Doping-Einrichtung tätig waren, und die insofern eine Vielzahl an interessanten Details preisgegeben haben."
Außerdem wollen sie Akten des Sportmedizinischen Dienstes, die in den meisten Landesarchiven mittlerweile aufbereitet seien, auswerten, dazu Akten des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport und des Militärarchivs Freiburg. Damit wolle man eine "analytische Schneise" in das Thema schlagen, so René Wiese. Ziel sei es, Muster und Strukturen in einer Fall-Matrix sichtbar zu machen. Wer wurde dann wie gedopt? Gab es Unterschiede zwischen den Sportarten? Wie alt waren die Sportlerinnen und Sportler? Wurde, und wenn ja wie, Zwang ausgeübt? Gab es einen Rest Entscheidungsfreiheit?
Unterschiedliche Handlungsspielräume beim Doping?
"Die bisherige Forschung hat das Dopingsystem als ein relativ monolithisches Konstrukt, also staatlich gelenkt, zentral und kontrolliert dargestellt. Doch wir wollen auch zeigen, dass es da möglicherweise unterschiedliche Handlungsspielräume gegeben hat, also gab es möglicherweise doch mehr Individualität als bisher angenommen?"
Ob Opfer des DDR-Dopings Anspruch auf staatliche Entschädigung hätten, dafür sei besonders die Frage relevant, inwieweit sie ihr "informiertes Einverständnis" zum Doping gegeben hätten, betont Jutta Braun.
"Es hat viele Sportler gegeben, die wussten, dass sie dopen. Die Frage ist aber: Wurden sie tatsächlich über die möglichen Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt? Es gibt natürlich auch die Fälle brutaler Täuschung, insbesondere bei Minderjährigen, die schlicht belogen wurden. Es gibt auch Fälle der Planung einer heimlichen Verabreichung von Dopingmitteln, wenn Sportler sich weigern wollten. Wir haben in den Akten viele Fälle gefunden, in denen Sportler bedroht wurden, indem sie unter Druck gesetzt wurden. Und wir versuchen hier eben ein Gesamtbild der Bedingungen zu zeichnen."
Lebt in Thüringen die Doping-Tradition weiter?
Zur Vorstellung des Forschungsauftrags wurde auch der Fall des mutmaßlichen Dopingarztes Mark S. aus Erfurt angesprochen. Der Präsident des Landessportbundes, Stefan Hügel, bestritt die Frage, ob in Thüringen die DDR-Tradition des Dopings fortlebe, vehement.
"Und das Unglückliche an dem Arzt Mark Schmidt ist, dass er in Erfurt wohnt. Wir begreifen es nicht als Erfurter Dopingskandal; sondern der Arzt, der hier gedopt hat, wohnt in Erfurt."
Ministerpräsident Bodo Ramelow hofft trotzdem, dass die Studie auf die Praxis in der Gegenwart ausstrahlt – auch auf Sportmediziner. "Das, was sie schildern, ist genau die Methode, dass der Sportler der junge Mensch zum Opfer wird und alle anderen anschließend, die hätten wissen müssen, dass er zum Opfer wird, wollten es nicht, weil sie einfach weggucken wollten, weil sie einfach so weitermachen wollten wie bisher. Leider keine Besonderheit, die sich jetzt nur im Sport-Doping der DDR wieder befindet. Und die Fähigkeit, Kritik zu üben, auch kritische Sichten auf eigenes Handeln zu entwickeln, ist offenkundig in manchen Berufsständen ein sehr komplizierter Vorgang. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt mit der Studie anfangen, eine wissenschaftliche Basis hineinzubekommen. Und wenn wir dann anhand von belegbaren und sich an dem Muster wiederholenden Geschichten an die Themen rankommen, werden sich auch die Ärzte damit auseinandersetzen müssen."
Im März 2022 soll der Bericht von Jutta Braun und René Wiese vorliegen; er wird vermutlich neue Fragen aufwerfen.