"So - das hier sind alles Prozessakten." In seinem Haus in der Gemeinde Moormerland bei Leer in Ostfriesland breitet Udo Lammers Aktenordner auf dem Wohnzimmertisch aus. "Ein Ordner ist mit Solidaritätsschreiben - Telegramme zum Prozess beim Bundesarbeitsgericht in Kassel und ansonsten wirklich Akten aus 13 Verfahren vor den Arbeitsgerichten."
Fristlos gekündigt
Als angestellter Lehrer hatte er 1981 für den Emder Stadtrat kandidiert - auf der Liste der DKP. Die Folgen: Erst eine offizielle Anhörung bei der Bezirksregierung Weser-Ems, dann eine Abmahnung, und als er schließlich tatsächlich für die DKP in das Kommunalparlament in Emden einzog - die fristlose Kündigung. Die kam an einem Freitag, erinnert sich der heute 64-Jährige. Nach der sechsten Stunde habe er sich noch von den Kollegen im Lehrerzimmer ins Wochenende verabschiedet.
"Der Schulleiter sagte 'Auf Wiedersehen". Und ich kam nach Hause, es lag eine Post-Zustellurkunde im Briefkasten beziehungsweise eine Benachrichtigung dafür. Dieses Dokument konnte ich mir dann beim Postamt abholen. Und in dieser Urkunde stand dann: Ja, die beinhaltete die fristlose Kündigung! Das hieß, es war mein letzter Schultag gewesen, und am Montag durfte ich die Schule nicht mehr betreten."
In den folgenden sechs Jahren durfte Udo Lammers seinen Lehrerberuf nicht ausüben - ein echter Tiefschlag: "Ich habe mir immer gesagt, ich habe für eine legale Partei kandidiert, ich habe nichts Unrechtes getan und ich konnte dazu stehen - natürlich haut einen das erst mal von den Socken, oder wie man das sagen soll."
Sechs Jahre Hausmann
Als Hausmann kümmerte er sich in dieser Zeit überwiegend um seine beiden kleinen Kinder - sporadisch besserte er die Haushaltskasse mit ein paar Nachhilfestunden auf. Rückhalt boten ihm die Partei, die Gewerkschaft und vor allem die Familie. Erst im September 1989 durfte er nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Kassel wieder in den Schuldienst zurückkehren, vor gut drei Jahren wurde er schließlich pensioniert. Jetzt blättert er zum ersten Mal seit Langem wieder in den alten Prozessakten.
"Die haben nicht jetzt den ersten Platz im Regal, dass ich jeden Tag drauf gucken muss - ich habe gerade mein Arbeitszimmer entrümpelt nach drei Jahren. Die Akten bleiben da. Das sind ganz einfach Zeitdokumente. Es ist ja manchmal so: Wenn ich in den Akten lese, denke ich immer, ich verstehe das gar nicht mehr, was die da schreiben und welche Angst sie vor uns hatten."
Mehr als 130 Personen haben in Niedersachsen direkt die Folgen dieser Angst zu spüren bekommen - in Form von faktischen Berufsverboten. Soweit die bekannten Fakten. Seit Anfang des Jahres kümmert sich Jutta Rüpke als Landesbeauftragte um die Betroffenen des Radikalenerlasses. Unter ihrer Federführung werden alle Fälle systematisch aufgearbeitet. Dabei ist erstmals das wahre Ausmaß von Bespitzelung und Verdächtigung in Niedersachsen deutlich geworden. Zum ersten Mal habe man vollständige Biografien von allen Personen erfasst, die in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit dem Radikalenerlass belastet wurden, erläutert der wissenschaftliche Mitarbeiter der Landesbeauftragten, Wilfried Knauer.
"Und so kamen wir dann schließlich auf eine Zahl von annähernd 1000 Personen, die im unmittelbaren Sinne durch die Aktivitäten des Verfassungsschutzes in den engeren Fokus gerieten."
Schweigen und Verdrängen aufbrechen
Es habe sich gezeigt, dass bei vielen Behörden immer mehr Akten aus der Zeit der Berufsverbote wegen des Ablaufs gesetzlicher Aufbewahrungsfristen vernichtet werden, erzählt Jutta Rüpke. Und auch in der Öffentlichkeit gerate das Thema Berufsverbote offenbar langsam in Vergessenheit. Bis Ende des Jahres will sie deshalb eine umfassende Dokumentation ihrer Arbeit erstellen, die Hintergründe aufklären und vor allem helfen, dumpfes Schweigen und Verdrängen aufzubrechen.
"Wir haben festgestellt, die die jünger sind, ich sage jetzt mal jünger als 50 Jahre - die wissen mit dem Begriff 'Berufsverbote' nichts anzufangen. Wenn ich mit denen darüber spreche – die kommen nur darauf, Berufsverbote hat es bei uns nicht gegeben, Frau Rüpke - wenn, dann höchstens in der DDR."
Er selbst habe die Zeit des eigenen Berufsverbots inzwischen abgehakt, betont Udo Lammers, der noch immer in der DKP politisch aktiv ist. Erschreckend seien für ihn vor allem die tiefen Spuren, die der Radikalenerlass bis heute in der deutschen Gesellschaft hinterlassen habe.
"Was ich immer noch am schlimmsten finde als Auswirkung der Berufsverbote, ist, was es in den Köpfen der Leute angerichtet hat. Ich habe letztens erlebt, als es um Unterschriften ging für irgendeine Sache, dass Leute sagten: Nee, ich kann das nicht unterschreiben, ich bin hier bei der Gemeinde beschäftigt, ich bin noch in der Probezeit. Der Schaden, der ist immens. Und das hat die Republik sicher sehr viel mehr verändert als die wenigen Berufsverbote - wenn es die nur gewesen wären."