- Was ist die Aufarbeitungskommission und welche Aufgaben hat sie?
- Wie wird Betroffenen dort geholfen?
- Was brachte die Studie hervor?
- Seit wann ist der Fokus der Kommission auf Betroffene aus dem Sport gerückt?
- Wie viele Menschen sind von sexualisierter Gewalt im Sport betroffen?
- Wie verhält sich der organisierte Sport bei dem Thema?
- Welche Idee steckt hinter dem "Zentrum für Safe Sport" der Athleten Deutschlands?
Was ist die Aufarbeitungskommission und welche Aufgaben hat sie?
Die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindsmissbrauchs untersucht sämtliche Formen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR ab 1949. Dazu zählt auch sexuelle Gewalt in Institutionen, also in alle Einrichtungen, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten können - wie zum Beispiel Sportvereine.
Die Kommission ist organisatorisch bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kerstin Claus, angesiedelt. Sie besteht aus sechs Mitgliedern aus unterschiedlichen Fachbereichen wie Rechts- und Sozialwissenschaften, Psychologie oder Politik. Weil diese Mitarbeiter ehrenamtlich arbeiten, wird sie von weiteren 20 Mitarbeitern und einem Büro unterstützt.
Wie wird Betroffenen dort geholfen?
Betroffene können sich bei der Kommission melden - auch anonym und selbst dann, wenn das Erlebte schon verjährt ist. Ihnen und weiteren Zeitzeugen, Verwandten, Freunden, etc. soll die Möglichkeit gegeben werden, sich abseits von Therapieräumen, Institutionen oder Gerichtssälen vertraulich mitteilen zu können. Die individuellen Erfahrungen fließen dann in Berichte, Forschungsprojekte, Studien und Handlungsempfehlungen der Kommission an Politik und Gesellschaft ein.
Betroffene sollen eine Anerkennung ihres Leidens erfahren. "Diese Möglichkeit mit Menschen zu sprechen, die bereit sind zu glauben und einen Raum bieten, damit über die Taten gesprochen werden kann, ist etwas, das ganz zentral ist", sagte die ehemalige Vorsitzende der Kommission, Sabine Andresen, am 5. Mai 2019 im Dlf. "Das ist die Perspektive: Wir werden gesehen, wir werden gehört und hoffentlich werden in der Politik Schlussfolgerungen gezogen."
Betroffene dürfen allerdings von der Kommission weder finanzielle Leistungen noch eine Rechtsberatung erwarten oder gar eine Aufnahme von Ermittlungen gegen einzelne Taten oder Täter.
Was brachte die Studie hervor?
Die Kommission veröffentlichte die größte Interviewstudie zu sexuellem Missbrauch im Sport in Deutschland. 72 Betroffene haben ihre Geschichten zur Verfügung gestellt. "Es sind schwerwiegende Übergriffe, die dort stattgefunden haben. Es geht um sexualisierte Gewalt in Form von Vergewaltigungen und meistens auch mehrfach oder über längere Zeiträume. Manchmal eben auch bis hin zu Jahren", so Studienleiterin Bettina Rulofs.
Die Opfer, überwiegend Frauen, waren zur Tatzeit im Durchschnitt elf Jahre alt. Viele schildern, dass sie keine Unterstützung bekommen haben, wenn sie sich jemandem anvertraut haben. Im Gegenteil, es wurde ihnen nicht geglaubt.
Die Geschichten der Betroffenen "zeigen ein Bild, das überhaupt nicht passt zu unseren allgegenwärtigen Vorstellungen vom gesunden, fairen und schönen Sport. Im Gegenteil. Betroffene von sexualisierter Gewalt haben lebenslängliche Schäden für ihre Gesundheit aus dem Sport mitgenommen und erzählen deshalb eine ganz andere Geschichte über den Sport, als es normalerweise der Fall ist", sagt Rulofs.
Für Angela Marquardt vom Betroffenenrat der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung zeigen die Ergebnisse der Studie, dass ein Umdenken und Mentalitätswandel im Sport dringend nötig sei: "Kein Trainer, keine Trainerin sollte mit einer Gruppe alleine sein. Warum nicht grundsätzlich ein Vier-Augen-Prinzip? Niemand sollte einfach so in eine Umkleide oder Dusche reinlaufen können." Einige der konkreten Maßnahmen, die Betroffene in der Studie gefordert hätten.
Seit wann ist der Fokus der Kommission auf Betroffene aus dem Sport gerückt?
Die Kommission gibt es nach jahrelangen Forderungen von Betroffenen und Experten und einem entsprechenden Beschluss des Deutschen Bundestags seit Anfang 2016. Zunächst stand die Aufarbeitung der Fälle in den Bereichen Familien, Kirchen und DDR im Vordergrund. Seit 2019 untersucht sie auch sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Sport. Im Mai 2019 gab es einen Aufruf an Betroffene und Zeitzeugen und 2020 ein öffentliches Hearing, unter anderem mit einem Grußwort der damaligen Familienministerin Franziska Giffey.
Die ehemalige Fußballerin Nadine war eine der Ersten, die sich öffentlich zu dem Thema geäußert hat - hier im Dlf. Sie forderte bei dem Hearing die Gründung einer unabhängigen Anlaufstelle, an die sich Betroffene aus dem Sport wenden können.
Wie groß ist die Dimension? Wie viele Menschen sind von sexualisierter Gewalt im Sport betroffen?
Über sieben Millionen Kinder und Jugendliche sind im Sport aktiv - die Hälfte aller Mädchen und 60% der Jungen sind Mitglied in einem Sportverein. Der Sport ist also der Ort, an dem die meisten Kinder und Jugendlichen anzutreffen sind – mehr als in jedem anderen Freizeitbereich. Der Sport bietet vielfältige Situationen und Gelegenheiten, die es Tätern möglich machen, ihre Strategien anzuwenden. Psychische, physische und sexuelle Übergriffe gibt es in allen Bereichen des Sports und in allen Sportarten. Das belegen die beiden Studien: Safe Sport und jetzt auch Sicher im Sport. Und davon zeugen die Geschichten von mittlerweile 114 Betroffenen, die sich bei der Kommission der Bundesregierung gemeldet haben.
Zudem gibt es einige internationale und nationale Studien, die das belegen. So kam die deutsche Studie "Safe Sport" (Laufzeit: 2014-2017) zu dem Ergebnis, dass ein Drittel aller damals befragten Nachwuchs-Leistungssportlerinnen und -sportler im Laufe der Karriere bereits Erfahrungen mit einer Form sexualisierter Gewalt gemacht hat.
Wie verhält sich der organisierte Sport bei dem Thema?
Aufgearbeitet hat der organisierte Sport Fälle von sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit lange nicht. Er setzte stattdessen auf Prävention. Bis Mitte 2016 hatte der Deutsche Olympische Sportbund 170.000 Euro in den Fonds "Ergänzendes Hilfesystem" eingezahlt. Betroffene konnten per Antrag Sachleistungen erhalten - wie zum Beispiel eine Therapie. Der DOSB stellte danach jedoch die Zahlungen mit Hinweis auf die Reform des Opferentschädigungsgesetzes ein.
Beim ersten Hearing der Aufarbeitungskommission im Oktober 2020 entschuldigte sich DOSB-Vize-Präsidentin Petra Tzschoppe bei allen Betroffenen und übernahm somit als erste Führungsperson im organisierten Sport Verantwortung für die Taten, die innerhalb der Organisation geschehen konnten. Dabei kündigte sie die Neuauflage des Fonds an.
Fast zwei Jahre später wurde der entsprechende Vertrag unterschrieben. Maximal 10.000 Euro für Sachleistungen pro Person können Betroffene bekommen. 400.000 Euro stellt der DOSB für Anträge, die bis zum 31.12.2023 eingehen, zur Verfügung. Danach soll laut Familienministerium ein neues Entschädigungsrecht in Kraft treten, das die Unterstützung Betroffener sexualisierter Gewalt in Deutschland neu regelt.
Als eine weitere Folge des Hearings gründete die Deutsche Reiterliche Vereinigung einen Betroffenenrat. Am 4.9.2022 präsentiert sich dieser erstmals der Öffentlichkeit.
Mittlerweile müssen Sport-Fachverbände Ansprechpersonen für das Thema "sexualisierte Gewalt" haben, wenn sie öffentliche Fördergelder bekommen wollen. Doch Sportler und Sportlerinnen forderten seit langem eine unabhängige Anlaufstelle für Betroffene aus dem Sport.
Welche Idee steckt hinter dem "Zentrum für Safe Sport" der Athleten Deutschlands?
Die entsprechende Idee zu einer unabhängigen Anlaufstelle reifte nach dem Hearing der Kommission bei Athleten Deutschland. Im Februar 2021 präsentierte die unabhängige Athleten-Vertretung ihren Plan für ein "Zentrum für Safe Sport", also den Aufbau eines Netzwerks, einer Serviceagentur aus Expertinnen und Expeterne unterschiedlichster Fachgebiete, um "den Kampf gegen physische, psychische und vor allem sexualisierte Gewalt im Sport zu verbessern".
Der Aufbau des Zentrums wurde im November 2021 im Koalitionsvertrag der Ampelregierung festgeschrieben. Das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium gab dazu eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Ergebnis: "Mit der vorliegenden Machbarkeitsstudie wird die zeitnahe Schaffung einer Einrichtung für sicheren und gewaltfreien Sport empfohlen."
Somit ist das Zentrum politisch gewollt, laut Bundesinnenministerium gibt es wegen Finanzierungs- und anderer Fragen noch einen "ergebnisoffenen Stakeholderprozess", an dessen Ende ein Zeitplan zur Realisierung des Zentrums stehen soll. Seit Mai 2022 gibt es mit "Anlauf gegen Gewalt" eine unabhängige Anlaufstelle für Betroffene aus dem Leistungssport, inklusive rechtlicher und psychotherapeutischer Erstberatung. Ins Leben gerufen vom Verein "Athleten Deutschland" als erster Schritt zu einem unabhängigen "Zentrum für Safe Sport".
Das künftige Zentrum für Safe Sport solle nach dem Willen von Studienleiterin Rulofs nicht nur Anlaufstelle für Beratung sein, sondern auch Befugnisse zum Einschreiten haben. "Eine Stelle, die wirklich aufdeckt, wenn Gewalt stattfindet. Und die auch in der Lage ist, Lizenzen zu entziehen, damit Trainer nicht mehr ihrer Tätigkeit nachgehen können."
Heiner Keupp von der Aufarbeitungskommission appellierte im Dlf an die Verantwortung des Sports. Das staatlich finanzierte Zentrum werde maßgeblich davon leben, dass "der organisierte Sport sein Commitment zeigt", so Keupp: "Es wäre ein Armutszeugnis, wenn der Sport sich raushält und sagt, das soll bitte der Staat machen."
Hilfe für Opfer sexuellen Missbrauchs gibt es beim "Hilfetelefon sexueller Missbrauch" und bei "Anlauf gegen Gewalt" und beim Infotelefon Aufarbeitung sexueller Kindesmissbrauch (Aufarbeitungskommission): 0800 40 300 40 (kostenfrei & anonym)
Quelle: Andrea Schültke, og