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Aufgeklärt, demokratisch, liberal

Höchstens ein Fünftel aller Muslime in Deutschland ist in islamischen Verbänden organisiert - im Wesentlichen die Gläubigen, die in Moscheegemeinden aktiv sind. Doch das Glaubensspektrum unter den deutschen Muslimen ist sehr viel vielfältiger, als es die Gemeinden scheinen lassen.

Von Dorothea Jung |
    Es herrscht Aufregung in den Medien, weil nach dem Islamrat nun auch der Zentralrat der Muslime beschlossen hat, nicht an der Deutschen Islamkonferenz teilzunehmen.

    "Muslime machen nicht mehr mit!"

    "Islamkonferenz ohne Muslime!"

    "Innenminister verliert Dialogpartner!"

    … titelten die Zeitungen. Doch nach einer wissenschaftlichen Studie, die der Hamburger Kriminologe Peter Wetzels verfasst hat, repräsentieren islamische Verbände höchstens ein Fünftel aller Muslime in Deutschland - im Wesentlichen die Gläubigen, die in Moscheegemeinden aktiv sind. Von diesen wiederum sind im besagten Zentralrat höchstens 300 Vereine organisiert.

    Selbst wenn man schwer schätzen kann, wie viele Mitglieder die einzelnen Vereine tatsächlich haben, verliert die Islamkonferenz jetzt mit dem Boykott des Zentralrates allenfalls Vertreter für etwa zwei Prozent der Muslime in Deutschland. Der Vorgang verweist nach Meinung von Professor Peter Wetzels auf ein Dilemma.

    "Ob das nun 20.000 oder 30.000 sind, macht an der Stelle nicht wirklich etwas aus. Viel entscheidender ist in meinen Augen die Wahrnehmung der Aktivitäten von Verbänden, von Einrichtungen, und die Frage, ob Muslime sich davon mit betroffen fühlen. Und da gibt es durchaus auch Differenzierungen und auch andere Haltungen."

    Die Schlussfolgerung des Wissenschaftlers: Die Vertreter des Islams in Deutschland sind allenfalls teillegitimiert, für die Muslime in der Bundesrepublik zu sprechen. Und ein Großteil der Betroffenen gibt ihm darin recht.

    "Ich denk, dass die Verbände also für die muslimische Bevölkerung einen großen Dienst leisten, indem sie Moscheen zur Verfügung stellen. Ein Problem besteht darin, dass sich althergebrachte Strukturen hier etabliert haben, und dass es sehr mühsam ist, im Rahmen dieser Konzepte sich auf die deutschen Gegebenheiten einzustellen."

    "Die meisten Verbände sind eher konservativ-orthodox. Wobei man sagen muss, dass ein großer Teil dadurch nicht vertreten ist."

    "Die sprechen in unserem Namen, aber vertreten nicht unsere Interessen."

    "Die verfolgen politische Ziele und die meisten Muslime in Deutschland haben kein Interesse an politischen Zielen."

    "Die muslimischen Verbände schaffen es nicht, eine neue islamische Theologie zu entwickeln, die abgenabelt ist von den Autoritäten zu Hause."

    Deutsche Muslime, die sich zum Propheten Mohammed bekennen - aber die nicht damit einverstanden sind, wie ihre Religion von den Islamverbänden in Deutschland vertreten wird.

    Unzufrieden ist zum Beispiel die gebürtige Frankfurterin Gönül Halat-Mec. Sie ist Fachanwältin für Familienrecht und weiß Geschichten zu erzählen von falsch verstandener Ehre und von Gewalt in muslimischen Familien. Aber genauso kennt sie Biografien von gut gebildeten und beruflich erfolgreichen Migrantinnen - Lebensgeschichten, die in den Medien nur selten auftauchen. Anfang des Jahres hat die 42-jährige Juristin mit Gleichgesinnten die "Frankfurter Initiative progressiver Frauen" gegründet.

    "Das sind Frauen mit Migrationshintergrund, die Religion als Privatsache sehen. Das heißt: säkulare Frauen, die im Leben Gleichberechtigung sehr wichtig erachten, und da kann es nicht sein, dass in der Moschee vertreten wird, dass Frauen nicht die gleichen Rechte haben oder eine Frau, wenn sie ihren Kopf nicht bedeckt, keine gute Muslimin ist."

    Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat Gönül Halat-Mec in die zweite Deutsche Islamkonferenz berufen. Sie wird zu den zehn nicht-organisierten Teilnehmern gehören, die für all jene Muslime stehen sollen, die nicht in Verbänden organisiert sind. In ihrer Arbeitsgruppe will sich die Anwältin für eine moderne, progressive Islaminterpretation einsetzen.

    "Ich vertrete die Werte der Aufklärung, und ich denke, die sind unausweichlich, also Freiheitsrechte, Gleichberechtigung sind Werte, die der Islam vertreten muss, wenn er weiterhin Bestand haben will in Europa."

    Ähnliche Werte wird in der Islamkonferenz auch der gebürtige Ägypter Hamed Abdel-Samad vertreten. 2009 hatte der Politologe ein Buch veröffentlicht, das sowohl in Deutschland als auch in der islamischen Welt für Furore gesorgt hat. Das Werk heißt "Mein Abschied vom Himmel". Hamed Abdel-Samad sagt, das Buch beschreibe, wie er vom Glauben zum Wissen konvertiert sei. Nichtsdestotrotz sei der Islam seine religiöse Heimat.

    "Ich kritisiere den Islam aus einer tiefsten Zuneigung heraus. Das ist meine Kultur, und es tut mir weh: die Entwicklungen, die in der islamischen Welt stattfinden. Aber auch hier in Europa. Und ich will das verändern. Und ich habe gemerkt, dass viele Bemühungen im Sande verlaufen sind, weil die Debatten nicht zu Ende geführt werden; weil der Koran und der Prophet nicht antastbar sein sollten. Und diese Unantastbarkeit sehe ich als das Hauptproblem."

    Der 38-jährige Autor aus München ist sich sicher. Mit diesem Denkverbot verordnen sich die Muslime einen geistigen Stillstand. Und einen solchen Stillstand gibt es seiner Meinung nach in fast allen deutschen Moscheegemeinden. Denn dort werde in aller Regel gepredigt, dass der Koran Buchstabe für Buchstabe Gottes unmittelbares und unveränderliches Wort enthalte; also eine ewige Wahrheit darstelle, die man nicht in einem historischen Kontext interpretieren dürfe.

    "Das geschieht oftmals aus dem Wunsch heraus, so etwas wie eine allzeit beständige muslimische Identität zu bewahren", kritisiert Hamed Abdel-Samad. Doch Identität sei immer etwas Lebendiges und nie etwas Abgeschlossenes und Statisches.

    "Identität ist kein Schutzbild, sondern eine Verhandlungsbasis. Vor allem, wenn man in einer fremden Gesellschaft lebt, muss man Teil dieser Dynamik sein in der Gesellschaft. Statt die islamische Theologie zu erneuern und sie in die Heimat zu exportieren, importiert man die alte Theologie, friert das ein und nennt das Identität. So kann der Islam nicht zukunftsfähig in Europa sein."

    Hamed Abdel-Samad gehört inzwischen zu den profiliertesten Islamkritikern in Deutschland. Die ARD ist bereits auf ihn aufmerksam geworden. Dort soll er in Kürze gemeinsam mit dem Publizisten und Polemik-Routinier Henryk M. Broder eine eigene Fernsehsendung verantworten. Aber erst einmal will Hamed Abdel-Samad die Verbandsvertreter in der Islamkonferenz zur Selbstkritik ermutigen.

    "Was Muslime tun können: Keine Angst vor der Veränderung haben. Wenn man das nicht schafft, dann bleibt das, was wir jetzt haben. Dass man sich in die Isolation zurückzieht und immer die anderen dafür verantwortlich macht, dass man nicht weiterkommt."

    Nach Hamed Abdel-Samads Beobachtungen sind viele Muslime seit Jahrhunderten in einer Opferhaltung gefangen. Er hält ein solches Bewusstsein aber für gefährlich, weil es Opfer nicht ohne Konflikte gibt, zu einem Opfer auch immer ein Täter gehört und oft auch ein Weltbild, das auf Konfrontation aus ist.

    "Damit man diese Opferhaltung zementiert oder nährt, braucht man natürlich die Feindbilder, die als historisch kontinuierlich gelten müssen, das heißt, der Kreuzzügler ist der Kolonialherr ist der neokapitalistische Europäer. Aber die Muslime, die hier leben, haben die einmalige Chance, sich von diesem Gedankengut zu trennen."

    Selbstkritische Stimmen in den islamischen Gemeinschaften sind aber auch außerhalb der Kreise zu hören, die als Nicht-Organisierte zur Islamkonferenz eingeladen wurden. Vor allem in Weblogs und muslimischen Internetportalen hinterfragen junge Muslime und Musliminnen religiöse Positionen. So zum Beispiel Hakan Turan, der an einem baden-württembergischen Gymnasium Physik, Mathematik und Philosophie unterrichtet. Er fordert auf seinem Blog andalusian.de von seinen Glaubensbrüdern, mit Moscheegemeinden und islamischen Verbänden offen zu diskutieren und sie auch, wenn nötig, in der Öffentlichkeit zu kritisieren.

    "In den Moscheegemeinden da wird der Eindruck geweckt, dass der Islam ein mehr oder weniger fertiges Gebilde ist, und er muss nur noch verstanden und gelebt werden. Was ich da vermisse, ist nicht einfach nur die Vielfalt der Mitglieder oder der Moscheebesucher oder auch die Vielfalt hinsichtlich der eigenen religiösen Vorstellungen, sondern auch die theologische Vielfalt. Also die gesamte Debattenkultur, die es in der islamischen Geschichte gibt, die es im islamischen Recht gibt, die es in der islamischen Philosophie und Theologie gibt. Ja, also die Verbände sind weit davon entfernt, diese Lebendigkeit des islamischen Diskurses zu aktualisieren."

    Der Gedanke, dass Ideen und geistige Haltungen etwas Abgeschlossenes sind, existiert nach Auffassung des 31-Jährigen Lehrers unter seinen Glaubensbrüdern nicht nur in Bezug auf die Religion. Auch öffentliche Strukturen wie Staat, Medien, Kommunen würden als Einheiten begriffen, auf die ein Muslim keinen Einfluss hat.

    "Ich glaube, dass dieses Denken, dass der Staat eine fremde Autorität ist, dass es so verankert ist, dass solche Initiativen wie die deutsche Islamkonferenz beispielsweise, dass sie nicht als Möglichkeit, als Einladung gesehen werden, sich am Diskurs zu beteiligen, sondern deren Erfahrung ist mehr die. Da machen die Deutschen halt irgendwas und die wollen uns wieder irgendwas da aufzwingen. Und also die Aussage war ungefähr folgende: Die Deutsche Islamkonferenz ist eine öffentliche Plattform, auf der jeder aufstehen und öffentlich sagen kann, ich finde den Islam Scheiße. So ungefähr."

    Muslime, die glauben, dass die Islamkonferenz ins Leben gerufen wurde, um Islamkritiker populär zu machen, leiden nach Hakan Turans Meinung an verzerrter Wahrnehmung. Er registriert hier eine Art Selbstisolierung der muslimischen Gemeinschaft von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Diese Haltung sei offenbar bequem: "Kein Argument muss dann auf den Prüfstand", sagt Hakan Turan. Gleichzeitig bemerkt er, dass es generell kaum einen Muslim gibt, der die religiöse Meinung eines anderen Muslims kritisiert. Der Grund: Wer sich dazu durchringt, setzt sich dem Verdacht aus, die Substanz des Islams zu hinterfragen. Und das sei immer noch ein Tabu.

    "Ihnen ist auch teilweise beigebracht worden, im Islam gibt es nichts mehr, worüber gestritten werden müsste. Aber jeder, der sich auch nur ein bisschen mit islamischem Recht oder mit islamischer Theologie und vor allem den aktuellen Gemeinschaften und ihren politischen Hintergründen teilweise befasst hat, der weiß sehr wohl, dass es da sehr viele Dogmen gibt, die nicht an die Substanz des Islam gebunden sind. Deswegen finde ich, ist das ein Punkt, der innermuslimisch auf jeden Fall gefördert werden muss, und wo wir da noch ganz am Anfang stehen."

    Ganz ähnlich sieht das Serdar Günes. Der 32-Jährige promoviert am Institut für Studien der Kultur und der Religion des Islam an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Auch Serdar Günes vermisst den innermuslimischen Meinungsstreit. Der Wissenschaftler glaubt beispielsweise, dass eine Vielzahl der Muslime die konservativen Lehrmeinungen der Verbände nicht teilt, aber trotzdem nicht den Mund aufmacht.

    "Das dürfte die große Schwäche der schweigenden Mehrheit sein, dass ihre Kritik an den Verbänden oft berechtigt ist. Aber ich hab manchmal so den Eindruck, die Leute können sich oft beklagen, aber selbst etwas auch dafür zu tun, dass das, was beklagt wird, aus der Welt geräumt wird, da wird wenig getan. Und das Problem ist, dass sie nicht Konflikte austragen, dass man sich aus dem Weg geht und nicht miteinander redet oder auch gegebenenfalls auch zwischen Extrempositionen miteinander streitet."

    Auf Facebook versucht Serdar Günes, strittige muslimische Themen anzustoßen und dabei auch konservative und islamistische Positionen zu diskutieren, um eine islamische Streitkultur in der Community zu etablieren. Er nennt das Forum im Netzwerk Alternative Islamkonferenz.

    "So was wie einen muslimischen Kirchentag würde ich mir wünschen. Das wäre etwas. Also dass die Gruppen, auch die Verbände, mit den kleineren unabhängigen Initiativen zusammenkommen, auch mit Einzelpersonen und Workshops machen, Diskussionsrunden, und so ein Diskussionsprozess in Gang gesetzt wird."

    Emel Zeynelabidin ist eine Muslimin, die durch ihre Handlung einen Diskussionsprozess in der islamischen Gemeinschaft in Gang gesetzt hat. Denn die 49-jährige Mutter von sechs Kindern hat nach 25 Jahren Ehe ihren Mann verlassen und ihr Kopftuch abgelegt. Das trug sie 30 Jahre lang - seit Beginn ihrer Pubertät. "Und dann wollte ich erwachsen werden", erklärt Emel Zeynelabidin.

    "Ich lerne ja jetzt, Verantwortung für mein eigenes Leben zu tragen, indem ich mich habe scheiden lassen, ausgezogen bin von zu Hause und eigentlich etwas nachhole, was ich mit 20 leben wollte, um erwachsen zu werden, aber nicht leben konnte, weil ich gleich verheiratet wurde. Mir wurde nicht nur die Identität als muslimische Frau mit diesem Kopftuch, mit dieser Verhüllung übergestülpt, mir wurde auch die Identität einer verheirateten Frau übergestülpt, obwohl ich gar nicht bereit war, dazu."

    Mit 16 war das in Deutschland aufgewachsene Mädchen ihrem späteren Ehemann versprochen worden, mit 19 wurde die junge Frau verheiratet. Ein privates Schicksal, das sie mit vielen Musliminnen in der Bundesrepublik teilt.

    Doch als sie 2005 ihr Kopftuch abgelegte, war das alles andere als eine Privatangelegenheit. Denn ihr Vater, Yusuf Zeynelabidin, hatte in den 70er-Jahren die deutsche Sektion der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs gegründet. Also eine Organisation, die der Verfassungsschutz als islamistisch einstuft. Und ihr Partner in dieser arrangierten Ehe war in der Islamischen Föderation aktiv. Das ist eine Organisationsform der Milli Görüs in Berlin. Und Emel Zeynelabidin selbst war jahrelang im gleichen Milieu für den Frauenverein verantwortlich.

    "Ich persönlich definiere mein Moslem-Sein selber. Ich brauche nicht mehr die Zugehörigkeit zu irgendeiner Organisation oder zu einer Gemeinschaft. Ich hab mich mit meinem Islamverständnis emanzipiert. Ich hab mich gelöst aus diesem Kollektivverständnis von Islam. Und ich setz mich damit sehr ernsthaft auseinander, weil, es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, die sich als Muslime bezeichnen und die die Definitionsmacht für sich beanspruchen: Was denn jetzt ein Moslem sei und was Islam bedeuten würde."

    Emel Zeynelabidin wirft den Islamverbänden vor, dass sie sich über den Koran und seine historische Bedingtheit keine Gedanken machen. Dass sie nicht darüber nachdenken, welche seelischen Probleme sich aus einem strafenden Gottesbild ergeben oder einem Kopftuchgebot. Sie selbst hält genau darüber Vorträge, diskutiert auf Podien, mischt sich in Internetdebatten ein und spricht mit Glaubensschwestern auf der Straße über Körperverhüllung und Islam. Emel Zeynelabidin ist eine sehr individuell aktive Kämpferin gegen den Machtanspruch islamischer Funktionäre.

    "Die islamischen Verbände versuchen ja schon seit einiger Zeit diese Körperschaft des öffentlichen Rechts, diesen Status, zu erlangen. Sie übersehen dabei, dass es viel dringendere Probleme gibt, als diesen, ja, Machtstatus zu erlangen, der durchaus sicherlich auch seine Berechtigung hat. Aber damit verbunden sind natürlich auch finanzielle Interessen. Also es ist wie in einer politischen Partei, irgendwie gibt es Interessen und Machtpolitik, und, also mit Islam hat das da alles überhaupt nichts zu tun!"

    "Aber mit dieser Politik wird versucht, traditionellen oder fundamentalistischen Vorstellungen eine Basis zu verschaffen", sagt Idil Efe. Die 34-jährige Kulturwissenschaftlerin arbeitet in einem Beratungszentrum in Berlin-Neukölln. Gemeinsam mit anderen muslimischen Frauen hat sie ein Internetforum entwickelt, um der Enge, die sich in konservativen muslimischen Lebensentwürfen offenbart, etwas entgegenzusetzen.

    "Was wir damals beobachten konnten, war eine ganz rigide Vorstellung von dem, wer oder was der Muslim ist. Und um dem etwas entgegenzusetzen, wollten wir auf dieser Plattform Möglichkeiten bieten für Menschen muslimischen Glaubens oder auch nicht muslimischen Glaubens, sich zu äußern, Fragen zu stellen, Beiträge zu schreiben und Ähnliches. Um auch eben zu zeigen, dass der Muslim oder die Muslima kein Ding aus einem Guss ist, sondern, dass das Menschen sind mit ganz alltäglichen Problemen, mit ganz alltäglichen Fragen ans Leben, die eben auch eine Plattform verdienen."

    Das Internetportal "muslimische Stimmen" ist aber nur eines von vielen Foren, in denen Muslime sich außerhalb des organisierten Islams im World Wide Web austauschen. Diese virtuellen Treffpunkte, diese Gespräche in Chatrooms und Netzwerken scheinen von einem gesteigerten Interesse zahlreicher Muslime an religiöser Erneuerung zu zeugen. Das bemerkt der Hamburger Sozialforscher Professor Peter Wetzels.

    "Also, dass sich in diesem Bereich der gebildeten und auch technologisch bewanderten und politisch bewussten Muslime sehr wohl ein Potenzial befindet, dass die Fähigkeit hat, sich zu artikulieren und dabei eben auch neue Technologien kreativ zu nutzen, das ist zweifellos jetzt schon klar zu sehen. Es ist die Frage, ob von den etablierten politischen Entscheidungsträgern ein Weg gefunden wird, genau diese Art von Foren, von Diskussionen auch aufzugreifen."

    Das ist bislang noch nicht der Fall. Die etablierte Politik befasst sich - auch aus Notwendigkeit - eher mit den Islamisten, Djihadisten und Sympathisanten muslimischen Terrors, die sich eben leider auch im Netz tummeln. Doch immer häufiger empören sich auch Muslime darüber. Es scheint die Zeit reif zu sein für eine progressive muslimische Basisbewegung.

    Die Religionslehrerin Lamya Kaddor hofft, eine derartige Bewegung organisieren zu können. In Duisburg gründet sie derzeit einen Verein liberaler Muslime. Nicht als Konkurrenz zu den vorhandenen Vereinen, wie die 31-Jährige betont, sondern als Stimme der schweigenden Mehrheit.

    "Liberal bedeutet für uns alle nicht, säkular oder atheistisch zu sein, oder ein Kulturmuslim. Sondern wir sind davon überzeugt, dass der Islam für uns die richtige Religion ist. Jeder darf quasi Mitglied werden, der sich mit bestimmten Grundsätzen des Vereins, also Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dass die eben über allem steht und damit also auch über der Scharia. Wir haben uns unsere Gedanken dazu gemacht, wie wir theologische Belange, also innerislamische Debatten voranbringen."

    Lamya Kaddor hat mit ihrem Vereinsvorhaben bereits jetzt die muslimische Debattenkultur bereichert. In Internetforen, Weblogs und sozialen Netzwerken regen sich Muslime aus Deutschland über die Gründung dieses geplanten Islamvereins auf. Da liest man viel Ablehnung, die sich vor allem an dem Begriff liberal reibt. Aber auch sachlichen Zuspruch und Nachdenklichkeit. Was die organisierten Verbände auch in der Islamkonferenz nicht schaffen, findet hier bereits statt: offene Diskussion und demokratischer Streit.