Der überaus produktive Ulrich Beck wurde jüngst emeritiert. München, Harvard und London - so die Orte, an denen der soziologische Tausendsassa lehrte. Muss man befürchten, dass der 1986 mit dem Werk Die Risiko-Gesellschaft berühmt gewordene Theoretiker nun seine Kapazitäten dazu nutzt, uns mit Büchern zu überschütten? Der intellektuelle Feuerkopf schürt derlei Sorgen. Zeitgleich präsentiert er gleich zwei Werke: feuilletonistisch-empört das erste, eine Sammlung von Zeitungsartikeln. Akademisch-distinkt das Zweite, eine Kompilation von 22 wissenschaftlichen Aufsätzen. Aber bei Beck finden Quantität und Qualität zueinander – meistens jedenfalls. Die Doppel-Publikation ist also gerechtfertigt. Sie ergänzen sich gerade wegen ihrer Diskrepanz. Ihr Programm:
"Globale Risiken (Klimawandel, Finanzkrise usw.) heben Grenzen und Kategorien auf und erzeugen eine ganz alltägliche 'Weltinnenpolitik' wider Willen, in der der globale Andere de facto in unserer Mitte ist. Um dies überhaupt erkennbar zu machen, ist es notwendig, den Begriff 'Weltinnenpolitik' umzubauen – vom philosophischen Kopf auf die sozialwissenschaftlichen Füße zu stellen. Es gilt diesen Begriff zu einem diagnostischen Schlüssel umzuschmieden, um die Tore zur Weltinnenpolitik aufzuschließen."
Die sozial-politischen Verhältnisse vom philosophischen Kopf auf sozialwissenschaftliche Füße zu stellen - diesen halsbrecherischen Trick hatte auch schon ein Größerer angekündigt, nämlich Karl Marx. Beck geht es darum, unser Denken fit zu machen für die Moderne. Dazu verfasste er zwischen 2009 und 2010 monatlich Zeitungsartikel, gewissermaßen seismografische Trendstudien zur Lage des Globus:
"Nicht die Sachen, die stundenlang über die Bildschirme laufen, sondern Geschehnisse, die uns klarmachen, wohin die Weltgeschichte geht."
So der Anspruch, der die in den "Nachrichten aus der Weltinnenpolitik" wieder abgedruckten Artikel motivierte. Analysen, die an Aktualität wenig verloren haben. Sie befassen sich unter anderem mit Armutsmigration und schweizerischem Bankgeheimnis, Ungerechtigkeiten und Universitäten, Krieg und Religion, Biogenetik und Frieden und und und. Das meiste davon lässt sich umstandslos unterschreiben. Und fast alles ist politisch-korrekt. Wohl deshalb denkt der Leser ständig an Nietzsches Moral-Tarantel. Zwar bringt Beck nicht - wie vom Verlags-Marketing angekündigt - Ordnung ins diskursive Durcheinander. Aber wenn man das Bändchen als Inspirationsquelle betrachtet, lohnt sich die Lektüre allemal.
Von ganz anderem Kaliber ist das zusammen mit Angelika Poferl herausgegebene Werk "Große Armut, großer Reichtum". Die beiden wollen zum einen dem Prozess nachgehen, den sie Transnationalisierung nennen. Zum anderen interessieren sie sich für globale Ungleichheiten. Beides hängt für sie zusammen. Denn durch die zunehmenden Überschreitungen nationaler Grenzen durch Migranten oder neue Medien werden die Ungleichheiten überall auf der Welt zwar nicht erschaffen, aber erfahrbar.
"Die Armen werden arm, nicht nur durch ihre Armut, sondern auch durch die Informationsströme, die ihre Lage vergleichbar machen. Je stärker Gleichheitsnormen sich weltweit ausbreiten, je nachdrücklicher der Westen die Menschenrechte erfolgreich verficht, desto weniger akzeptieren die Armen die Unvergleichbarkeit, die durch nationalstaatliche Grenzen konstruiert wird; sie vergleichen sich – und wollen rein!"
Derartiges wahrzunehmen ist uns allerdings, laut Beck und Poferl, kaum möglich. Den Blick trübt uns die nationale Brille. Wir betrachten unsere Länder als abgeschlossene Container. Ungleichheit kommt lediglich als Differenz von Oben und Unten innerhalb einer Gesellschaft vor. Die Ungleichheit gegenüber denjenigen, die anderswo von einem Dollar pro Tag überleben müssen, lässt sich also ohne schlechtes Gewissen ausblenden. Derartiges Denken kommt aber immer stärker unter Realitätsdruck, je mehr der vermeintlich sichere Nationalstaats-Container einem Schweizer Käse gleicht. Diese Aufweichung des Nationalen als Realität zu akzeptieren und sie in zeitgemäßes Denken umzusetzen – darum geht es in dem Sammelband. Beck und Poferl plädieren für einen Kosmopolitismus ...
" ... der es uns erlaubt, manifeste Entwicklungen angemessen zu verorten und latente, bislang ungesehene Aspekte sozialer Realität freizulegen, die nationalen Heuristiken verborgen bleiben."
Das Problem: Für diese neue Sichtweise gibt es noch kein richtungsweisendes Werk, das den geforderten Denkprozess beispielhaft durchbuchstabiert. Beck und Poferl machen aus dieser Not eine Tugend – oder besser gesagt: ein Buch. Sie versammeln auf beinahe 700 Seiten wissenschaftliche Aufsätze, die Hinweise zur neuen kosmopolitischen Perspektive geben. Das zeitliche Spektrum dabei ist genauso immens wie das sachliche: Die zwischen 1983 und 2010 veröffentlichten Beiträge behandeln so unterschiedliche Themen wie beispielsweise Kapitalismus, europäische Bürgerschaft, globale Gerechtigkeit, Erwerbs-Migration oder globale Städte. Und das dazu auch noch aus marxistischer, feministischer, systemtheoretischer oder anderer Perspektive. Wer an die einzig wahre Wahrheit glaubt, wird sich mit Grausen wenden: Denn was der eine Aufsatz als glaubhafte Position darstellt, wird mehrere Seiten später vom nächsten Artikel bestritten. Beispielsweise erachten mehrere Beiträge bei der Taxierung globaler Ungleichheit die Zahlen der Weltbank für wegweisend – während andere Texte zu belegen versuchen, dass gerade diese Zahlen völlig in die Irre führen. Und Robert Hunter Wade kommentiert:
"Es gibt bei der Messung von Ungleichheit keine Lösung. Je nach Wahl der Messmethode erhält man sehr unterschiedliche Ergebnisse, und es gibt keine Methode, die als die beste gelten kann."
Das Werk lässt sich also entweder als eine Ansammlung von Mosaiksteinen betrachten, die nicht zusammenpassen. Oder man sieht es als eine Hommage an den neugierigen Leser, der sich als Konstrukteur versteht: Er muss die Frage beantworten, ob hier Sozialwissenschaftler ihrer viel zitierten Leidenschaft frönen, ständig das Rad neu zu erfinden. Oder ob dabei wirklich eine neue Perspektive herauskommt. Und welche Artikel er lesen möchte - oder einfach überblättert. Beck und Poferl haben sich getraut, einen tollen Reader vorzulegen, ohne professoral verkünden zu können, wohin die Reise letztlich geht. Das ist mutig. So etwas muss man sich erst einmal trauen. Und dem Leser zutrauen. Chapeau!
Ulrich Beck: Nachrichten aus der Weltinnenpolitik. 150 Seiten, 10 Euro, edition Suhrkamp
Ulrich Beck: Große Armut, großer Reichtum. Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Herausgegeben von Ulrich Beck und Angelika Poferl. 693 Seiten, 18 Euro, edition Suhrkamp
"Globale Risiken (Klimawandel, Finanzkrise usw.) heben Grenzen und Kategorien auf und erzeugen eine ganz alltägliche 'Weltinnenpolitik' wider Willen, in der der globale Andere de facto in unserer Mitte ist. Um dies überhaupt erkennbar zu machen, ist es notwendig, den Begriff 'Weltinnenpolitik' umzubauen – vom philosophischen Kopf auf die sozialwissenschaftlichen Füße zu stellen. Es gilt diesen Begriff zu einem diagnostischen Schlüssel umzuschmieden, um die Tore zur Weltinnenpolitik aufzuschließen."
Die sozial-politischen Verhältnisse vom philosophischen Kopf auf sozialwissenschaftliche Füße zu stellen - diesen halsbrecherischen Trick hatte auch schon ein Größerer angekündigt, nämlich Karl Marx. Beck geht es darum, unser Denken fit zu machen für die Moderne. Dazu verfasste er zwischen 2009 und 2010 monatlich Zeitungsartikel, gewissermaßen seismografische Trendstudien zur Lage des Globus:
"Nicht die Sachen, die stundenlang über die Bildschirme laufen, sondern Geschehnisse, die uns klarmachen, wohin die Weltgeschichte geht."
So der Anspruch, der die in den "Nachrichten aus der Weltinnenpolitik" wieder abgedruckten Artikel motivierte. Analysen, die an Aktualität wenig verloren haben. Sie befassen sich unter anderem mit Armutsmigration und schweizerischem Bankgeheimnis, Ungerechtigkeiten und Universitäten, Krieg und Religion, Biogenetik und Frieden und und und. Das meiste davon lässt sich umstandslos unterschreiben. Und fast alles ist politisch-korrekt. Wohl deshalb denkt der Leser ständig an Nietzsches Moral-Tarantel. Zwar bringt Beck nicht - wie vom Verlags-Marketing angekündigt - Ordnung ins diskursive Durcheinander. Aber wenn man das Bändchen als Inspirationsquelle betrachtet, lohnt sich die Lektüre allemal.
Von ganz anderem Kaliber ist das zusammen mit Angelika Poferl herausgegebene Werk "Große Armut, großer Reichtum". Die beiden wollen zum einen dem Prozess nachgehen, den sie Transnationalisierung nennen. Zum anderen interessieren sie sich für globale Ungleichheiten. Beides hängt für sie zusammen. Denn durch die zunehmenden Überschreitungen nationaler Grenzen durch Migranten oder neue Medien werden die Ungleichheiten überall auf der Welt zwar nicht erschaffen, aber erfahrbar.
"Die Armen werden arm, nicht nur durch ihre Armut, sondern auch durch die Informationsströme, die ihre Lage vergleichbar machen. Je stärker Gleichheitsnormen sich weltweit ausbreiten, je nachdrücklicher der Westen die Menschenrechte erfolgreich verficht, desto weniger akzeptieren die Armen die Unvergleichbarkeit, die durch nationalstaatliche Grenzen konstruiert wird; sie vergleichen sich – und wollen rein!"
Derartiges wahrzunehmen ist uns allerdings, laut Beck und Poferl, kaum möglich. Den Blick trübt uns die nationale Brille. Wir betrachten unsere Länder als abgeschlossene Container. Ungleichheit kommt lediglich als Differenz von Oben und Unten innerhalb einer Gesellschaft vor. Die Ungleichheit gegenüber denjenigen, die anderswo von einem Dollar pro Tag überleben müssen, lässt sich also ohne schlechtes Gewissen ausblenden. Derartiges Denken kommt aber immer stärker unter Realitätsdruck, je mehr der vermeintlich sichere Nationalstaats-Container einem Schweizer Käse gleicht. Diese Aufweichung des Nationalen als Realität zu akzeptieren und sie in zeitgemäßes Denken umzusetzen – darum geht es in dem Sammelband. Beck und Poferl plädieren für einen Kosmopolitismus ...
" ... der es uns erlaubt, manifeste Entwicklungen angemessen zu verorten und latente, bislang ungesehene Aspekte sozialer Realität freizulegen, die nationalen Heuristiken verborgen bleiben."
Das Problem: Für diese neue Sichtweise gibt es noch kein richtungsweisendes Werk, das den geforderten Denkprozess beispielhaft durchbuchstabiert. Beck und Poferl machen aus dieser Not eine Tugend – oder besser gesagt: ein Buch. Sie versammeln auf beinahe 700 Seiten wissenschaftliche Aufsätze, die Hinweise zur neuen kosmopolitischen Perspektive geben. Das zeitliche Spektrum dabei ist genauso immens wie das sachliche: Die zwischen 1983 und 2010 veröffentlichten Beiträge behandeln so unterschiedliche Themen wie beispielsweise Kapitalismus, europäische Bürgerschaft, globale Gerechtigkeit, Erwerbs-Migration oder globale Städte. Und das dazu auch noch aus marxistischer, feministischer, systemtheoretischer oder anderer Perspektive. Wer an die einzig wahre Wahrheit glaubt, wird sich mit Grausen wenden: Denn was der eine Aufsatz als glaubhafte Position darstellt, wird mehrere Seiten später vom nächsten Artikel bestritten. Beispielsweise erachten mehrere Beiträge bei der Taxierung globaler Ungleichheit die Zahlen der Weltbank für wegweisend – während andere Texte zu belegen versuchen, dass gerade diese Zahlen völlig in die Irre führen. Und Robert Hunter Wade kommentiert:
"Es gibt bei der Messung von Ungleichheit keine Lösung. Je nach Wahl der Messmethode erhält man sehr unterschiedliche Ergebnisse, und es gibt keine Methode, die als die beste gelten kann."
Das Werk lässt sich also entweder als eine Ansammlung von Mosaiksteinen betrachten, die nicht zusammenpassen. Oder man sieht es als eine Hommage an den neugierigen Leser, der sich als Konstrukteur versteht: Er muss die Frage beantworten, ob hier Sozialwissenschaftler ihrer viel zitierten Leidenschaft frönen, ständig das Rad neu zu erfinden. Oder ob dabei wirklich eine neue Perspektive herauskommt. Und welche Artikel er lesen möchte - oder einfach überblättert. Beck und Poferl haben sich getraut, einen tollen Reader vorzulegen, ohne professoral verkünden zu können, wohin die Reise letztlich geht. Das ist mutig. So etwas muss man sich erst einmal trauen. Und dem Leser zutrauen. Chapeau!
Ulrich Beck: Nachrichten aus der Weltinnenpolitik. 150 Seiten, 10 Euro, edition Suhrkamp
Ulrich Beck: Große Armut, großer Reichtum. Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Herausgegeben von Ulrich Beck und Angelika Poferl. 693 Seiten, 18 Euro, edition Suhrkamp