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Aufmerksamkeit für Außenseiter

"Flamingos" ist die erste Prosaveröffentlichung von Ulrike Almut Sandig, die sich als Lyrikerin bereits einen Namen gemacht hat. Die poetischen Geschichten darin drehen sich um Menschen, die ein wenig verloren sind, dem Leben ausgeliefert. Wie Flamingos, die zusammen stehen und dennoch allein sind.

Von Cornelia Staudacher |
    Flamingos sind seltsame Tiere. Ulrike Almut Sandig beschreibt sie so: "Sie stehen in Gruppen zusammen, aber jeder Einzelne ist allein. Sie halten Abstand. Sie sind wachsam. Wir finden sie hässlich. Wir finden sie schön. Sie sehen aus, als würden sie brennen, aber das ist nicht wahr. Sie sehen aus, als wären sie nicht kaputt zu machen, aber auch das ist nicht wahr."

    Und was, fragte ich die Autorin, haben sie mit Menschen gemein, dass sie ihre gesammelten Menschengeschichten nach ihnen betitelt?

    "Das sind Figuren, die zum einen Außenseiter sind. Nicht die Art von Außenseiter, die nur Opfer der Gesellschaft ist, sondern Außenseiter, die das deshalb sind, weil sie sich nicht so gut kennen, weil sie nicht genau wissen, welche Federfarbe sie eigentlich tragen, und die selbst reingeraten in Sachen, die nicht nur das Umfeld hätte verhindern können, sondern möglicherweise auch sie selber, mit ein bisschen mehr Sich-Selbst-Kennen. Das sind Leute, die vielleicht auch leicht übersehen werden, und wenn man genauer hinguckt, sieht man, dass der zarte Schein trügt. Die eigentlichen Nebenfiguren, die plötzlich sich als Hauptfiguren wiederfinden, ungewollt vielleicht."

    Dem Leben ausgeliefert und ein wenig verloren sind die Menschen, über die Ulrike Almut Sandig schreibt. Und die Ereignisse und Begebenheiten, von denen sie überrascht werden, die über sie hereinbrechen, erscheinen ihnen so fremd, unerhört oder rätselhaft, manchmal auch bedrohlich, dass ihre Verletzbarkeit und Vereinzelung umso deutlicher hervortritt und sie zu Außenseitern werden lässt. Sandigs Geschichten beginnen ganz realistisch, alltäglich und werden durch eine leichte Drehung, Überdehnung ins Irreale oder Surreale gekippt, in den Bereich also, der der Kunst und der Dichtung vorbehalten ist.

    Zum Beispiel "Hush little Baby", eine der poetischsten Geschichten, die von Kaiarno handelt, der ein kleiner Bruder von Oskar Matzerath sein könnte, wie er da eine Möglichkeit findet, sich seines ungeborenen Zwillingsbruders zu entledigen und endlich nur noch Arno zu sein. Kaiarno kann mit beiden Händen gleich gut schreiben und zeichnen, er hat ein blaues und ein braunes Auge, und seine rechte Körperhälfte entwickelt sich anders als die linke. Seine Mitschüler nennen ihn Hirni-Kai, weil er immer etwas abseits steht und nicht mit den anderen spielt. "Mit sechzehneinhalb Jahren fiel er sich selbst auf" und entdeckt, dass er zweistimmig singen kann. Er schwänzt die Schule und zieht sich immer häufiger an einen entlegenen Ort unter einer Autobahnbrücke zurück, wo sein Gesang so schallt, dass die Passanten auf der Fußgängerbrücke verwundert stehen bleiben. Eines Tages wird er dort von einer Sturmbö erfasst und von der Brücke geweht.

    Er kommt mit dem Leben davon und wird von nun an von seiner Mutter nur noch Arno genannt.

    "Das nennt man das Vanishing Twin Syndrom. Im letzten Jahrzehnt hat man rausgefunden, dass noch in einem relativ späten Stadium der Schwangerschaft, noch im sechsten Monat kann es passieren, dass halt eben der eine den anderen absorbiert, wenn man so will, aufnimmt. Es war so eine Mischung. Zum einen hat mich das einfach interessiert, das Phänomen, dass man ein Phänomen, das sonst so abgeschlossen dasteht, auch mal weiter denken kann. Zum anderen bin ich selber angekündigt worden als Zwilling. Zum dritten ist das natürlich auch eine symbolische Sache, die mich gereizt hat. Wie nah können sich zwei Menschen eigentlich sein, und zwar nicht in der Liebe, sondern tatsächlich, wie nah können Brüder sein, was ist ein Kampf zwischen Brüdern, wie entsteht so ein Kampf eigentlich."

    Es sind die unsichtbaren Kräfte, die das Leben mitbestimmen, und die verborgenen Seiten der Seele, denen die Autorin ihre besondere Aufmerksamkeit widmet. Schicksal wäre ihr ein zu großes Wort. Ohne dass die Geschichten je den Anspruch erheben, mehr sein zu wollen als einfache Menschengeschichten, ist ihnen gewissermaßen eine metaphysische Ebene eingezogen, auf der es um die Grundfragen unserer Existenz geht. Jene Fragen, die die Autorin bewogen haben mögen, neben ihren schriftstellerischen Ambitionen Indologie und Religionswissenschaft zu studieren.

    "Das läuft als Hintergrundfolie mit und ich halte auch bewusst, ehrlich gesagt, die Wissenschaft draußen, um mehr bei meinen Sachen zu bleiben. Aber es spielt halt gelegentlich immer mal rein, dass ich die französischen Soziologen sehr gern gelesen habe, dass ich begeistert war vom Collège de Sociologie in Paris, und Salmoz und George Bataille. Bataille hat ja auch selber künstlerisch gearbeitet, literarisch gearbeitet, das ist schon eine Richtung, die mich fasziniert hat. Diese Möglichkeit des anderen Lebens, was ebenso real ist wie das Leben, für das man sich entschieden hat, und der Unterschied besteht, dass man das eine eben führt und das andere nicht führt."

    Auf der Grenze zwischen Realität und Fiktion, Wahrscheinlichkeit und Surrealismus bewegt sich auch die allererste Geschichte des Bandes, die einen Einblick gewährt in die poetologische Werkstatt der Autorin. "Über mich" - so ihr Titel - ist Vexierspiel und Parabel zugleich und beginnt mit der Feststellung, dies sei die "Geschichte von jemandem, den es nie gegeben hat". Im Spiel der Möglichkeiten und verspielten Wechsel der Perspektiven wird ein Leben von seinem Ende her konstruiert, wobei im Subtext der Geschichte bei aller Diesseitigkeit der Beschreibung eine existenzphilosophische Fragestellung über die Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Lebens mitläuft, die in die Feststellung mündet: "Am nächsten sind mir die Steine. Sie haben nie gelebt und sind trotzdem da, sie sind immer da gewesen."

    Über sich zu schreiben, erscheint Ulrike Almut Sandig folgerichtig schwierig.
    "Ich bin nicht in der Lage, Sachen zu thematisieren, die mir unmittelbar in meinem eigenen Leben gerade passieren, oder die für mich persönlich ein großes Thema sind. Ich brauche einen gewissen Abstand, und wenn der Abstand nicht besteht, dann hab ich noch die Möglichkeit, über eine Erzählerhaltung diesen Abstand hinzukriegen, noch finde ich es ganz schwer, vielleicht gelingt's mir irgendwann, über die Sachen zu schreiben, die im Moment ganz nah dran sind."

    "Streumen", der Titel ihres zweiten Gedichtbandes, ist nicht nur der Name eines Stadtteils von Riesa. Er klingt auch wie eine Symbiose aus den Wörtern Träumen und Streunen und ist insofern eine exakte Beschreibung des Standorts, von dem aus Ulrike Almut Sandig erzählt. Ihre Syntax ist sparsam, fast karg, ihr Sprachfluss ruhig und dezent, fast sachlich. Sentimentalität kommt nicht auf in ihren Geschichten, obwohl sie von Gefühlen erzählen und von Melancholie umhüllt sind. Es sind keine Erzählungen, die auf einen Höhepunkt oder eine Pointe zusteuern, sondern sprachliche Verdichtungen eines spezifischen Augenblicks oder Verhältnisses durch seine Überdehnung ins Fantastische, Märchenhafte.

    Sie mache aus Erfahrungen Erfindungen, hat Ulla Hahn einmal über die Gedichte Ulrike Almut Sandigs gesagt. Und das gilt in gleicher Weise für die Geschichten, die auf der Grenze zwischen Trivialem und Hohem mit Leichtigkeit jonglieren. Wohltuend heben sie sich von vielen der psychologisch grundierten, oft allzu selbstreferenziellen Prosaexerzitien der jungen zeitgenössischen Literatur ab. Ulrike Almut Sandig hat sich auf den Weg in dichterisches Terrain gemacht und wird, so ist zu hoffen, auch weiterhin kürzere oder längere Prosa vorlegen, vielleicht auch einmal einen Roman.

    Ulrike Almut Sandig: "Flamingos. Geschichten". Schöffling & Co., Frankfurt/Main 2010, 171 Seiten, 17,90 Euro.