Verbindlichkeit ist die graue Eminenz in demokratischen Gesellschaften. Sie verknüpft die Freiheit des Individuums mit den Notwendigkeiten des Kollektivs, das Ausleben mit dem Hinnehmen, die Gegenwart mit der Zukunft. „Schwach normativ“ nennt sie die Soziologie, und gerade deshalb wirkt sie besser als Gesetze: Wer sich selbst zu etwas verpflichtet, wird vom Strohfeuer der Medien nicht täglich für etwas Neues entzündet. Was Protest eigentlich benötigt, ist Verbindlichkeit: zwischen einem Problem, Lösungsvorschlägen und den einzelnen Akteuren der Demokratie, inklusive derjenigen, die man mit dem Protest als Übeltäter markiert. Das erfordert eine kompliziertere Ansprache, als medienkompatible Spektakel sie leisten können.
Eines Tages ist sie da: die ansteckende, tödliche, neue Krankheit. Es dauert ein bisschen, bis man ihr Ausmaß begriffen hat. Doch nach wenigen Wochen zeigt sich: Viele Menschen sterben an der von einem Virus zerstörten Leber, andere wiederum an plötzlichem Herzversagen. Bei Dritten sind die Nieren derart beschädigt, dass nach dem Infekt eine lebenslange Dialyse droht – oder unbehandelt ebenfalls der Tod.
Gedankenspiel.
Angesichts der lawinenartig wachsenden Zahl solcher Fälle empfiehlt eine interdisziplinär besetzte, wissenschaftliche Kommission, die Körper aller Verstorbenen mit dem Zeitpunkt des Hirntods zu verstaatlichen. Da immer nur ein Organ verfällt, bergen die Körper – nüchtern betrachtet: entseeltes Biomaterial – jene Transplantate, die Menschen wieder arbeitsfähig machen. Unter Hintanstellung religiöser, kultureller, sozialer Prägungen und Praktiken ist ein rascher, beherzter Zugriff des Staates notwendig.
Keine Sorge, es ist immer noch ein Gedankenspiel.
Den nachtodlich körperenteigneten Menschen schadet der Vorgang nicht, als Lebende profitieren sie dagegen sehr wohl davon: Da niemand weiß, ob die neue, ansteckende Krankheit auch ihn erwischt, kann er schon aus statistischem Kalkül nichts gegen ein Gesetz haben, das auch ihm Überlebensmöglichkeiten beschert. Es ist rechtlich und ethisch unbedenklich, medizinisch und ökonomisch sinnvoll.
Statistisches Kalkül allerdings ist keine Kernkompetenz der Bevölkerung.
Deswegen funktioniert der Plan nicht. Jedenfalls nicht reibungslos. Denn zwei Drittel der Bevölkerung lehnen den Gesetzesvorschlag ab. Gegen die Sachargumente bringen sie Glaubensempfindungen, Ängste, Misstrauen in Stellung. Wiederum konträr dazu steht das dritte Drittel der Bevölkerung, das diese Verweigerung, Blindheit, Sturheit nicht akzeptieren will. Die im Schnitt jüngeren Menschen fordern, den Plan unverzüglich zu verwirklichen. Sie starten eine nie gesehene Protestbewegung. Ziel: maximale Aufmerksamkeit, um maximalen politischen Druck zu erzeugen.
Ende des Gedankenspiels, Beginn der Wirklichkeit.
„Wir kreieren Aufmerksamkeit“, verteidigte sich vor Gericht eine Klima-Aktivistin, griff dabei aber in der Wortwahl daneben.
Richtig hätte der Satz lauten müssen: Wir verbrauchen Aufmerksamkeit.
Denn gewonnene Aufmerksamkeit zieht anderswo Aufmerksamkeit ab; das gebiert stärkere Aufmerksamkeitsgesten am Ort des Verlustes, die wiederum Aufmerksamkeit anderswo abziehen, was stärkere Gesten provoziert und so weiter und so fort. Die selbstreferenzielle Spirale der Aufmerksamkeit ist potenziell unendlich und führt zu – Nichts.
Das allerdings ist eine These – die zentrale These dieses Essays. Sie lautet:
„Aufmerksamkeit war gestern – Verbindlichkeit ist heute.“
Sind Sie also – Hörerin, Hörer! – von gestern, wenn Sie dieser Sendung Ihre Aufmerksamkeit schenken? Lassen Sie sich nicht verunsichern! Aber seien Sie genau: Widmen Sie Ihre Aufmerksamkeit dem Verkehr, wenn Sie im Auto sitzen, Ihren Lieben, wenn Sie zusammen frühstücken, dem Boden unter Ihren Füßen, wenn Sie gerade joggen. Aufmerksamkeit ist Ihr Besitz, Sie bestimmen über die Wahrnehmung dessen, was in Ihr Leben eingreift. Allerdings bewegen Sie sich in einem Umfeld, das unaufhörlich sendet und davon ausgeht, dass Sie ohne Unterlass empfangen. Ist das so?
„In einer informationsgesättigten Welt bedeutet der Reichtum an Information (...) einen Mangel an dem, was die Information verbraucht: (...) Sie verbraucht die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger. Daher führt ein Reichtum an Information zu einem Mangel an Aufmerksamkeit und zur Notwendigkeit, diese Aufmerksamkeit effizient unter der Überfülle an Informationsquellen zu verteilen.“
Mit diesen Sätzen des späteren Wirtschaftsnobelpreisträgers Herbert A. Simon begann 1969 der Wandel des Begriffes „Aufmerksamkeit“ von einer philosophischen und psychologischen Fragestellung zu einer ökonomischen Metapher. Im deutschsprachigen Raum hat sie 30 Jahre später Georg Franck mit seiner Ökonomie der Aufmerksamkeit populär gemacht. Interessant ist der Bruch, der sich schon 1969 vollzog: Aufmerksamkeit verwandelte sich von der Beschäftigung mit einer Person und ihrem sensorischen Apparat in eine Art magische Stofflichkeit – so, als schwirre sie herum und lasse sich einfangen, wiegen, unterteilen, portionieren, bepreisen, an- und verkaufen. Ursprünglich beschrieb Aufmerksamkeit einen leib-seelischen Wirkzusammenhang, kein Substrat. Der Philosoph Bernhard Waldenfels weist auf einen zentralen Satz der psychologisch-physiologischen Ursprungsdebatte hin:
„In Kapitel XI seiner 1890 erschienenen Principles of Psychology (...) behandelt [William] James die Aufmerksamkeit als seligierende Instanz des Bewußtseinsstroms. ‚My experience is what I agree to attend to‘, so startet dieses Kapitel.”
Den Satz kann man verschieden übersetzen. „Meine Erfahrung ist das, was ich mich zu beachten entscheide.“ Oder flüssiger: „Meine Erfahrung ist das, worauf ich mich einlasse.“ Wichtig dabei die Erfahrung: Identität beruht auf Erfahrung. Somit beeinflussen Aufmerksamkeitsvorgänge einerseits unser Weltbild und wirken sich auch auf unser Handeln aus, andererseits bleiben wir Herr des Verfahrens: Was zu uns durchdringt, bestimmen nicht andere, sondern wir selbst.
Viel ist seither darüber nachgedacht worden, jedoch mit wenig eindeutigen Ergebnissen. So beginnt Bernhard Waldenfels seine Phänomenologie der Aufmerksamkeit noch 2004 mit den Worten:
„Die Aufmerksamkeit gehört zu den nomadischen Begriffen, die nirgends recht sesshaft werden. Sie hat mehr von einem Syndrom als von einer Synthese.“
Teil des „Syndroms“ ist seine Spontanheilung, denn Aufmerksamkeit erlischt durch ihren eigenen Vollzug. In einer Monografie zur Geschichte der Wahrnehmung verweist der Kunsthistoriker Jonathan Crary auf die
„Möglichkeit ihres eigenen Übermaßes, an die wir immer erinnert werden, wenn wir etwas zu lange zu betrachten oder wenn wir zu lange zu lauschen versuchen. Die Aufmerksamkeit kommt, auf welchem Weg auch immer, unvermeidlich an eine Schwelle, an der sie zusammenbricht.“
Demnach wird, wer nach Aufmerksamkeit von anderen giert, stets in eine Eskalationsspirale gedrängt. Nichts kann ausreichend laut, grell, störend sein, um die Schwelle des Zusammenbruchs weit genug nach hinten zu verschieben. Ja, schon lange vorher hadert der Aufmerksamkeitserwecker mit einem weiteren Phänomen, das laut Bernhard Pörksen der modernen Mediennutzung zugrunde liegt:
„Die Normalform ist nicht die fokussierte, sondern die fluktuierende Aufmerksamkeit. Unser Interesse springt.“
Natürlich: Aufmerksamkeitsgesten funktionieren. Für einen kleinen Wirkmoment. Um dauerhaft mit einem Zweck verbunden zu werden, vergeht dieser Wirkmoment allerdings zu rasch. Verbindlichkeit dagegen – der andere Pol – Verbindlichkeit ist nicht zu entfachen wie ein Augenblick der Aufmerksamkeit, aber sie hätte Sinn, weil sie länger andauert als ein Augenblick.
Was ist Verbindlichkeit?
„Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.“
Immanuel Kant. Über das innewohnende Paradox dieses Satzes ist schon mancher gestolpert: Frei soll die Handlung sein, zugleich aber ist sie notwendig. Über die Entscheidung zur Tat wölbt sich die einschränkende Pflicht zur Vernunft: Natürlich kannst du machen, was du willst. Aber es darf nicht dumm sein! In modernen Worten könnte man sagen: Dieser Satz aus Kants Metaphysik der Sitten kommt ganz schön passiv-aggressiv daher.
Und rettet uns nicht vor der Erkenntnis, dass „Verbindlichkeit“ ein nicht minder unpräziser Begriff ist als jener der Aufmerksamkeit. Mindestens vier Facetten entdeckt der Philosoph Christian Berner in Abgrenzung zur scharf umrissenen Rechtsnorm, die man befolgen muss.
„Verbindlichkeit betrifft erstens den Charakter und meint dann eine Tugend; zweitens verweist unser Verständnis von Verbindlichkeit auf die Verpflichtung eines Schuldners gegenüber dem Gläubiger. (...) Drittens sprechen wir von Verbindlichkeiten, wenn Regeln im Spiel sind und Spiele regelgemäß praktiziert bzw. verstanden werden. (...) Und viertens schließlich beanspruchen bestimmte Überzeugungen Verbindlichkeit.“
Wir sortieren: Verbindlichkeiten im Geschäftsleben sind etwa anderes – nämlich einklagbare Schulden – als die parallel vorkommenden, flatterhaften Zusagen im sozialen Leben, die Berner als „schwach normativ“ bezeichnet, weil sie unverbindliche Verbindlichkeiten darstellen. In modernen Gesellschaften kann man sich von vielerlei an einen herangetragenen Pflichten entbinden, ohne dabei ins Nichts der Isolation gestoßen zu werden: versäumte Verabredungen, gebrochene Zusagen, vernachlässigte Freundschaften. Leicht lässt sich irgendwo anders andocken. Das war nicht immer so. Die Zugehörigkeit zu einer Kirche setzte früher Verhaltensnormen, die mindestens so stark wie weltliche Rechtsnormen wirkten. Wer dagegen verstieß, war verloren. Inzwischen gehört ein Gefühl fraglosen Verbundenseins wie in einer Kirchengemeinde zum versunkenen Kulturgut. Wann wäre ich in meiner heutigen Lebensrealität überhaupt noch mit jemandem so verknüpft, dass er – wie selbstverständlich! – auf Verbindlichkeit pochen könnte?
„Verbindlichkeit beziehungsweise Verbindlichsein ist die Konsequenz, gefühlt und gehandelt, mit der eine Person gegenüber einer anderen zu einer verbal oder non‑verbal vermittelten Zusage steht, die innerhalb der Beziehung als erwartbar erscheint.“
Wie bei Kant basiert auch diese Definition der Soziologin Rabea Krätschmer-Hahn auf einem Paradox: Erwartbar ist etwas nur, wenn schon eine Form von Verbindlichkeit besteht; also kann die Verbindlichkeit nicht aus der Erwartung abgeleitet werden. Am Ende muss sie – gleich der Aufmerksamkeit – als metaphorischer Äther irgendwie feinstofflich herumschwirren. Wir atmen ihn ein und sagen dann: Ich bin nicht allein auf der Welt, deswegen kann ich mich auch nicht so verhalten, als sei ich es.
Existiert solch ein Altruismus? Wenn ja, dann wohnt auch ihm ein Selbstwiderspruch inne: Wäre die Menschheit so altruistisch, wie es zur Bewältigung der meisten Bedrohungslagen notwendig erscheint, hätten sich viele dieser Lagen kaum so bedrohlich entwickelt. Verständlicherweise ist Altruismus sozial erwünscht. Der Wunsch freilich drückt als Last auf unser Gewissen, und in Vermeidung von entsprechenden Taten weichen die Menschen oft lieber auf Worte aus.
Wir erleben das mit der „Betroffenheit“: Stets lässt sich Betroffenheit äußern, ohne dass daraus die leiseste Konsequenz zu Handlungen erwüchse; Politiker lieben diese Worthülse deswegen. Auch in der Floskel vom „verbindlichen Beileid“ steckt die Flucht ins Unverbindliche. Jeder weiß: Nach Kranzabwurf und Trauerfeier bin ich erlöst! Verbindlichkeitsformeln füllen seit Jahrhunderten das Massengrab gebrochener Beistandsversprechen.
Drehen wir das Konzept deswegen um 180 Grad auf radikalen Egoismus! Vernachlässigen wir den anderen und betrachten nur uns selbst. Dann gilt: Verbindlichkeit entsteht, wenn ich von anderen etwas – Vorschläge, Anregungen, vielleicht sogar Kritik – in mein Wohlbefinden einbauen kann.
Im Zweierspiel zwischen dem einen, der Verbindlichkeit anmahnt, und dem anderen, der die Forderung als Einmischung empfindet, schleicht sich somit eine ähnliche Machtverschiebung ein wie bei der Aufmerksamkeit. Denn Wohlbefinden lässt sich nicht erzwingen. Der, den man erreichen will, bleibt Herr der Lage. Passiv-aggressive Moralität im Kant’schen Sinne bewirkt allenfalls trotzige Abwehr: Ich lasse mir nicht sagen, Herr Kant, wie ich mein Leben zu führen habe! Reaktanz nennt das die Psychologie.
Wie eigentlich – Hörerin, Hörer! – stelle ich seit geraumer Zeit die Verbindung zu Ihnen her? Ich hoffe, das zu schaffen, indem ich etwas entwickle, das Sie betrifft. Zugegeben, das ist schwierig, weil ich Sie nicht kenne. Ich muss Ihr Ich irgendwo in meinem nachfühlen und nachbauen. Würde ich beispielsweise als Veränderungsaktivist welchen Anliegens auch immer sagen: „Du musst handeln, dein Verhalten zählt!“, müsste ich eine Vorstellung davon haben, wie sich dieses Du in mir als Ich anfühlt. Im Grunde eine simple Sache; man nennt sie Empathie. Interessanterweise scheint diese Empathie bei den aufmerksamkeitszentrierten Protestformen der Gegenwart einseitig verteilt: Wer apokalyptisch protestiert, fordert, dass man seine Zukunftsängste übernimmt. Kann das funktionieren?
„Die neuen Angstthemen haben vor allem eine neue Eigenschaft: Man braucht keine Angst zu haben, Angst zu zeigen. Sie sind dadurch verbreitungsfähig. Es fällt kein negatives Licht auf den, der in ‚Krisen‘ oder vor ökologischen Entwicklungen, Technologiefolgen und dergleichen Angst hat; denn es gibt keine individuelle Tüchtigkeit, die man der Gefahr entgegensetzen könnte.“
Niklas Luhmann 1986 in seiner Ökologischen Kommunikation. Das ist 37 Jahre her – und liest sich doch wie ein zeitgenössischer Kommentar:
„Wenn Angst kommuniziert wird und im Kommunikationsprozess nicht bestritten werden kann, gewinnt sie eine moralische Existenz. Sie macht es zur Pflicht, sich Sorgen zu machen, und zum Recht, Anteilnahme an Befürchtungen zu erwarten und Maßnahmen zur Abwendung der Gefahren zu fordern.“
In Luhmanns Systemtheorie nimmt der Begriff der „Anschlussfähigkeit“ eine prominente Stellung ein. Weil es in der Moderne keine geschlossene, von oben nach unten durchregierbare Gesellschaft mehr gibt, müssen ihre Teile bis hinunter zu einzelnen Individuen so in Kontakt miteinander treten, dass sie noch gemeinsame Lösungen für Probleme finden können. Doch schon die Problemwahrnehmung der einen Gruppe muss irgendwie anschlussfähig an die andere sein – also für sie mindestens auch als Problem wahrnehmbar.
Angst ist nur anschlussfähig an Angst; Wut nicht anschlussfähig außer an gleichartige Erregung. Ja, Gefühle an sich sind kaum anschlussfähig an Vernunft, deren zivilisatorische Leistung gerade darin besteht, Emotionen gebändigt zu haben. Vor dem Hintergrund dieser Theorie –
Ich bekenne: Mit zunehmendem Lebensalter leuchtet sie mir gerade wegen ihrer Utopiekargheit immer mehr ein.
Vor dem Hintergrund dieser Theorie hieße Verbindlichkeit vor allem, nach Anschlussfähigkeiten zu suchen.
Gedankenspiel, Wiederaufnahme: Weil die Seuche voranschreitet, das Körperenteignungsgesetz aber auf sich warten lässt, radikalisieren sich die Pro‑Transplant-Aktivisten. Sie üben zivilen Ungehorsam, indem sie Friedhöfe erst zu Protestcamps umwidmen, dann verwüsten. Danach besetzen sie Bestattungsunternehmen, um schließlich Leichenhallen zu stürmen und Tote auf die Straße zu befördern. Das ist der Umkipppunkt: Die Politik knickt ein, die Gegner des Körperenteignungsgesetzes geben auf: Sie wurden überzeugt.
Nein. Solcher Protest überzeugt niemanden, sondern ruft Strategien der Protestvereitelung hervor: politische Ablenkungsmanöver, Finten, im schlechtesten Fall staatliche Dauerrepression. Dem Anliegen nützt das nichts. Korrigieren wir an dieser Stelle auch eine begriffliche Schieflage: In westlichen Demokratien verkörpert Protest kein „Ungehorsam“. Dieser sprachliche Kunstgriff ist ein wohlüberlegter PR-Kniff, weil er dem Rechtsstaat die Aura einer autoritären Herrschaft überstülpt; einer Herrschaft, die kann, wenn sie nur will, ohne auf Anschlussfähigkeit achten zu müssen. So wie Max Weber das einst auf den Punkt brachte:
„Herrschaft soll die Chance heißen, für spezifische oder für alle Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden.“
Ist es nötig zu sagen, dass es solch wilhelminische Unterwerfungsstrukturen im Verhältnis zwischen Staat und Bürger glücklicherweise längst nicht mehr gibt? Man übt keinen Gehorsam, wenn man demokratisch aufgestellte Regeln und Gesetze beachtet, sondern man zeigt sich normativ einsichtig. Und Zusammenleben funktioniert nur, solange die normativ Uneinsichtigen eine kleine Minderheit bleiben.
Wer in einer Demokratie protestiert, ist somit kein heroischer Kämpfer. Er konsumiert politische Teilhabemöglichkeiten bloß anders als andere; anders als Parteimitglieder, Talkshowgäste, Wähler oder Nichtwähler. Aus dem demokratischen Angebot pickt er sich eine Handlungsmöglichkeit heraus, die keineswegs andere Optionen moralisch überragt. Deswegen stellt sich nicht die Frage nach der Rangposition, sondern nur die nach der Effizienz von Protest.
Dass einfache Demonstrationen im Tagesgeschehen untergehen, liegt auf der Hand; überall herrscht Überfülle. Kein Tag ohne „Aufzüge“ in der deutschen Hauptstadt; ein öffentliches Register der Berliner Polizei liest sich wie ein kultureller Veranstaltungskalender: für jeden etwas dabei! Also muss der, der wirkliche Beachtung finden will, mehr tun als bloß aufmarschieren. Er setzt, zum Beispiel, auf Polit-Happenings – auf Störungen. Und ja: Zunächst schafft jede Störung Fakten. In unserem Gedankenspiel muss der Staat handeln, um die Leichen wieder in die Leichenhallen zurückzubekommen. Insofern erweist sich die Störung als effizient, weil sie den Staat zu einer Reaktion zwingt. Allerdings nur zu jener, die Störung zu beseitigen. Das dahinterstehende, größere Anliegen bleibt davon unberührt, denn die Verbindung zwischen Störung und Anliegen ist rein kommunikativ, oft auch nur umständlich symbolhaft. Jetzt schlägt die Stunde der Medien.
Einordnen, aufbauschen, interpretieren, applaudieren, verurteilen, hochschreiben, niederschreiben, beleuchten, überzeichnen, erhellen, verdunkeln ... und auf den nächsten Coup warten. Doch wird nicht mit jeder Erregung die Öffentlichkeit ein wenig abmerksamer?
Nehmen wir dieses Wortspiel als konkretes Bild, als betrachteten wir das Auf und Ab einer Berglandschaft. Wo lebt man: auf dem Gipfel, den man mit viel Kraftaufwand erstürmt hat? Oder im Tal, in das man abends zurückkehrt?
Abmerksamkeit ist die Heimstatt unserer Weltwahrnehmung, somit die Regel; Aufmerksamkeit dagegen ein energieverzehrender Ausnahmezustand. Im Sinne des sozialen Friedens tun uns lange Phasen der Abmerksamkeit gut, während dauernd provozierte Aufmerksamkeit die Erregungstemperatur bei allen Beteiligten – freiwillig und unfreiwillig – in ungesunde Höhen treibt. Denn während Abmerksamkeit als Stadium von Entropie unendlich vorhanden ist, erzeugt das Knappheitsmanagement der Aufmerksamkeit Stress.
Jede Knappheit erzeugt Stress. Das ist eine anthropologische Konstante und gilt nicht minder für menschliche Handlungsenergie. Handeln zehrt Kraftreserven auf, und weil das so ist, bewegt sich Protest auf einem doppelt unergiebigen Feld. Sollen etwa Abgeordnete durch aufgebrachte Bürger zu Gesetzgebungen veranlasst werden, die dann wiederum aufs Verhalten aller Menschen zurückwirken, verbraucht dieses Über-Bande-Spiel viel Handlungsenergie. Und verlegen sich die angesprochenen Dritten ihrerseits auf Rückproteste, fließt weitere Energie ab. Im Extremfall wird enorme Kraft verzehrt, um keinerlei reale Handlung außerhalb des Protestzusammenhangs zu erzeugen.
In einem politisch offenen System liegt es daher näher, die für ein Ziel notwendigen Handlungen in der eigenen Gruppe umzusetzen. In unserem Gedankenspiel hieße das: Statt aufzubegehren und nach einem Gesetz zu rufen, könnte sich das fragliche Drittel der Bevölkerung zu freiwilligen Organspenden bekennen. Das wäre kein Maximalerfolg, aber ein Schritt in die erwünschte Richtung. Unumgänglich ist Protest erst dort, wo Handlungsmöglichkeiten in Alltag und Politik behindert oder sogar gekappt sind: in autoritären und totalitären Staaten.
Stopp! Entschärfen wir das Mittel des Protests im Kleinen, vor Ort nicht. Wo Entscheidungswege kurz sind, kann auch in der offenen Gesellschaft Protest von unten effizient sein: Man erreicht, wen man erreichen will, mit seiner Botschaft direkt. Die hier vorgebrachten Einwände gelten für die große Geste der Weltverbesserung – und für die reziproke Bekämpfung einer Weltuntergangsgefahr. Protestübungen aus regionalen Zusammenhängen auf Staats- oder gar Weltgröße zu skalieren, ignoriert die Tatsache, dass die Bindungskräfte parallel dazu negativ skalieren: Das Große berührt niemanden. Es ist zu groß. Wer diesem Umstand gegenüber nicht blind sein will, muss nach positiven Anknüpfungspunkten suchen. Und ja, es gibt sie. Sie heißen:
Generativität und Ethos.
„Ethos“ meint die kleine Münze von verinnerlichten, aber nicht ausformulierten Regeln, Maximen, Wertvorstellungen eines bestimmten gesellschaftlichen Milieus. Unser Zusammenleben funktioniert, weil jedes Milieu ein spezifisches Ethos ausgebildet hat, das Grauzonen und Unschärfen besitzt, aber eben auch einen unerschütterlichen Kern von Verlässlichkeit. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für die von ihnen geschaffenen Einrichtungen, wie die Politologin Lisa Herzog darlegt:
„Das Ethos von Institutionen enthält, wenn sie nicht völlig korrumpiert sind, immer auch eine Vorstellung davon, was der Sinn dieser Institution ist und an welchen Werten sich diejenigen, die in ihnen arbeiten, orientieren sollten. Der Sinn eines Krankenhauses besteht darin, Patienten zu versorgen – nicht, irgendwelche Budgets einzuhalten.“
Implizit enthält jedes Ethos jene „Anschlussfähigkeit“, von der die Systemtheorie spricht; gerade seine ausfransende Unbestimmtheit beschert Anknüpfungspunkte ans Ethos anderer Milieus. Man kann zuversichtlich davon ausgehen, dass fast überall Faktoren wie Sinnorientierung, Konsistenz, Fairness, Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit und so weiter zu den Säulen eines milieuspezifischen Ethos gehören. Damit stieße auch jeder Veränderungsimpuls auf empfangsbereite Rezeptoren – wenn dieser denn die dazu passenden Signale enthielte! Ignoriert Protest dagegen verbreitete Wertvorstellungen, verspielt er seine Chancen auf Gehör. Dinge zu beschädigen oder zu zerstören, verletzt etwa die grundlegende Empfindung von: „So etwas tut man nicht!“
Das wirkt umso verfehlter, als Aktivismus im Ergebnis genau an diese Schicht verlässlicher Tugenden anknüpfen will. Soll man dieses und jenes künftig nicht mehr tun – zu viel Fleisch essen, zu viel Energie verbrauchen, zu konsumextensiv leben –, so ließe sich dies gesetzlich kodifiziert nur mit enormem Aufwand überwachen. Es benötigt vielmehr eine zum Verhaltensautomatismus geronnene Verinnerlichung. Vulgo: ein Ethos.
Bleibt die Frage: Woher soll dies in einer egoistischen Welt aus ichzentriertem Wohlbefinden kommen? Die Antwort liegt in den Befindlichkeiten des Ichs, das sich über den Lebenslauf hinweg entwickelt. Der Wohlbefinden-Egoismus verkörpert eine niedrige Entwicklungsstufe; im Idealfall entsteht im Erwachsenenleben ein Bedürfnis der Generativität.
Im Persönlichkeitsmodell des Psychoanalytikers Erik H. Erikson nimmt die von ihm so benannte Generativität die vorletzte Stufe der Persönlichkeitsreifung ein und meinte ursprünglich das „Interesse an der Stiftung und Erziehung der nächsten Generation“. Idee und Begriff wurden vom amerikanischen Biografieforscher John Kotre aufgegriffen und stehen bei ihm für die Erweiterung des eigenen Ichs auf eine über sich selbst hinauswachsende, posthume Perspektive:
„Ob wir an den Pool menschlicher Gene denken oder an den Pool von Kulturen, das kollektive Leben auf dieser Erde wird durch das Kommen und Gehen von Individuen gewährleistet. Man kann sich diese Pools beinahe ihrerseits als lebendige Teiche vorstellen, in die Individuen bei ihrer Geburt hineinfließen und aus dem sie bei ihrem Tod wieder austreten. (...) Daher die Notwendigkeit für alle möglichen Arten von Generativität.“
Und die Soziologin Vera King fasst den heutigen Stand bündig zusammen:
„Kern des Generativen ist (...) die Weitergabe und intergenerationale Gabe“.
Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Idee genialer Hinterlassenschaften, sondern die Verantwortungsübernahme für nachfolgende Generationen. Von Erikson über Kotre bis hin zu aktuellen Forschungen zeichnet sich ein positives Bedürfnis des Menschen ab, nicht mit einem Nach mir die Sintflut! auf den Lippen abzutreten, sondern lieber den Schlüssel zu einer Arche zu übergeben.
Das eigene Leben, Wirken und Werk wird als eingebettet in einen überindividuellen Ablauf betrachtet. Warum sollte die als veränderungsresistent gescholtene Babyboomer-Generation nicht erkennen, dass generatives Verhalten weniger altruistisch-aufopfernd denn egoistisch-lohnend sein kann? Eine Meta‑Studie über Generativität aus dem Jahr 2022 deckt genau diesen verblüffenden Effekt auf:
„Generativität trägt dazu bei, dass Menschen, die sich dem Ende ihres Lebens nähern, ein Gefühl der persönlichen Erfüllung und ein Empfinden der Unsterblichkeit entwickeln.“
Da ist sie dann doch, die Unsterblichkeit, der höchste Lebenslohn schlechthin. Allerdings nicht in der billigen Form des in Stein gemeißelten, eigenen Namens auf einem Denkmal, sondern als erfüllendes Bewusstsein, mit dem gelebten Leben zum Humus der Zivilisation beigetragen und möglicherweise ein paar brauchbare Hinterlassenschaften in deren Fundus gestellt zu haben. Mehr kann nicht sein. Daran ließe sich anknüpfen fürs Hier und Jetzt. Denn dieses erfüllende Bewusstsein setzt notwendig eine Nachwelt voraus, in der generatives Verhalten vorangegangener Jahrgänge noch wirksam werden kann. Darf die Botschaft also lauten, dass es die Menschheit bald nicht mehr gibt? Nein, das kündigt das Prinzip der Weitergabe auf und erstickt jede Motivation für die Gegenwart. Wenn eine Protestgruppe Generativität schon sprachlich ausklammert, indem sie sich als die letzte in der Menschheitsentwicklung markiert, ernten die Mitglieder vielleicht den Lohn der Störer-Prominenz, vergeuden aber Zeit und Energie, die besser in Verbindlichkeit angelegt wären – in Wirkungsdauer statt in Wimpernschläge.
Auch die 29 Minuten, die hier verstrichen, gehen über einen Wimpernschlag nicht hinaus. Wie und in welche Richtung sie wirken, bleibt Ihnen überlassen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.