Christine Heuer: Ist Horst Seehofer nun weicher geworden, sanfter, oder bloß pragmatischer? Sicher ist: Derselbe christsoziale Innenminister, der Angela Merkels Flüchtlingspolitik weiland als Herrschaft des Unrechts stigmatisierte, macht sich jetzt stark für die Rettung von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer. Mit Italien, Frankreich und Malta hat er sich auf eine Quotenverteilung verständigt. Morgen will Seehofer beim Innenministerrat in Luxemburg weitere Staaten ins Boot holen. Der deutsche Minister hofft auf eine Blaupause, damit in der EU alle Flüchtlinge künftig fair auf alle Mitgliedsstaaten verteilt werden. Und er warnt: Wenn wir nichts tun, wenn wir vor allem auch der Türkei und Griechenland nicht helfen, dann rollt auf Europa eine Flüchtlingswelle zu, die 2015 noch in den Schatten stellen werde.
Kann Seehofers Strategie aufgehen? Schlägt er jetzt den richtigen Weg ein? – Darüber spreche ich jetzt mit Erik Marquardt, migrationspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, ein Mann, der selbst bei Sea Eye mitgearbeitet und Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet hat. Guten Morgen, Herr Marquardt.
Erik Marquardt: Guten Morgen!
Heuer: Fangen wir mal mit der jüngsten Warnung an von Horst Seehofer, dass eine Flüchtlingswelle auf Europa zurollt, die 2015 übertreffen könnte. Hat er recht damit?
Marquardt: Ja, man kann natürlich nicht unbegrenzt in die Zukunft schauen. Aber ich halte es für relativ gefährlich, jetzt Leuten Angst zu machen und sie mit irgendwelchen Horrorszenarien zu ärgern. Momentan ist die Zahl der Menschen, die nach Europa kommt, sehr gering. Wir haben in diesem Jahr etwas unter 100.000 Leute, die nach Europa gekommen sind, in den letzten beiden Jahren jeweils unter 200.000 Menschen. Es gibt eigentlich keine Anzeichen dafür, dass momentan irgendeine Katastrophe existiert, die wir nicht gemerkt haben.
"Richtig, dass Horst Seehofer jetzt die Türkei besucht hat"
Heuer: Aber wir haben jetzt jüngst gerade eine neue Zahl bekommen, dass aus der Türkei in den ersten neun Monaten dieses Jahres 23 Prozent mehr Flüchtlinge nach Griechenland gekommen sind. In der Türkei ist ohnehin jetzt einiges in Bewegung. Auch die jüngsten Meldungen von heute sagen das. Kann es nicht doch sein, dass da viele Menschen, viele Flüchtlinge versuchen, nach Europa zu kommen, weiter in den Westen vorzustoßen?
Marquardt: Ich fand richtig, dass Horst Seehofer jetzt die Türkei besucht hat und dass man sich auch die Situation auf den griechischen Inseln genau anschaut. Es ist durchaus so, dass die Zahlen dort angestiegen sind, aber immer noch auf relativ niedrigem Niveau. Aber das große Problem, was wir dort in der Ägäis haben, auf den griechischen Inseln, ist, dass die Menschen diese Inseln ja nicht verlassen dürfen. Auch für das Asylverfahren dürfen sie sich nicht frei in Griechenland bewegen, sondern werden auf wirklich kleinen Inseln unter unmenschlichen Bedingungen dann dazu gezwungen, teilweise jahrelang auf Asylverfahren zu warten. Dort gibt es, muss man so sagen, wirklich eine humanitäre Notlage auf Lesbos und Samos, um die man sich jetzt kümmern muss. Das Problem sind weniger die Zahlen, wenn man das aus europäischer Sicht sieht, sondern die Menschenwürde, die dort momentan nicht sichergestellt ist.
Heuer: Ich bleibe trotzdem noch mal bei neuen Bewegungen von Flüchtlingen. Präsident Erdogan droht ja damit seit langem, mehr Flüchtlinge in die EU zu lassen, wenn er nicht mehr Geld bekommt. Sollte die EU der Türkei nachgeben in diesem Punkt?
Marquardt: Ich glaube, eines der Grundprobleme dieses EU-Türkei-Deals ist ja, dass das Geld nicht richtig verfolgt werden kann. Man weiß nicht genau, was mit dem Geld passiert, und es schien mir damals 2016 auch so, als ginge es vor allem darum, Erdogan mit Geld davon zu überzeugen, dass er jetzt mehr Menschen in der Türkei festhält, dass er Schleppernetze auflöst und Schlauchbootfabriken schließt. Ich glaube, dass das einfach keine nachhaltige Strategie ist, wenn man versucht, jemanden, der in der Vergangenheit nicht als besonders seriöser Verhandlungspartner aufgetreten ist, jetzt mit immer mehr Geld davon zu überzeugen, dass er die eigenen Interessen umsetzt. Ich denke, es ist schon richtig, dass man schaut, wie kann man denn die Situation der vielen Geflüchteten in der Türkei verbessern, wie kann man dort dann gezielt Geld hingeben und auch wenn man Geld in die Türkei gibt schauen, kann man das überwachen, wie kann man da Transparenz sicherstellen, dass das Geld dann auch ankommt. Aber ich denke, dass wir jetzt gerade sehen, dass man sich in einer Form von Erdogan abhängig gemacht hat, die eigentlich gefährlich ist. Er kann relativ viel Einfluss auf die Europäische Union ausüben und man hat im Gegenzug nicht allzu viel dafür bekommen.
"Der Vergleich mit 2015 hinkt sehr stark"
Heuer: Was heißt denn das konkret politisch jetzt aus Sicht der Grünen? Wollen Sie den EU-Türkei-Deal aufkündigen? Oder sagen Sie uns gerade, eigentlich sind wir darin gefangen?
Marquardt: Ich glaube, dass der Vergleich, den wir vorhin versucht haben anzustellen mit 2015, wirklich sehr stark hinkt. Es ist so, dass man momentan Zahlen hat von Menschen, die nach Europa kommen – die können sich natürlich verändern -, die wirklich so gering sind, dass es eigentlich vor allem um eine Verteilungsfrage geht in Europa, wo es auch darum geht, wie können die Menschen denn jetzt die Inseln erst mal vielleicht verlassen. Ich glaube schon, dass man natürlich an diesem Deal nicht festhalten kann auf Dauer, der ja Europa völlig abhängig gemacht hat von Erdogan. Ich denke aber, dass es jetzt kurzfristig erst mal darum geht, sich diese wirklichen Probleme anzuschauen. Eines der Probleme ist, die Menschen sind auf den griechischen Inseln gefangen, können dort nicht weg. Das zweite ist, sie müssen im Asylverfahren ja auch unheimlich lange darauf warten, überhaupt eine Entscheidung zu bekommen, und jetzt auch nicht nachweisen, dass sie zum Beispiel in Syrien verfolgt sind, sondern dass sie in der Türkei verfolgt sind, und da gibt es auch viel politischen Druck auf diese Asylverfahren. Da wünsche ich mir jetzt eigentlich auch, dass man wieder mehr zu rechtsstaatlicheren Mitteln zurückkehrt.
Heuer: Aber sind wir nicht trotzdem an diesen Deal mit der Türkei gebunden? Ich sage noch einmal, da steht ein Einmarsch in Nordsyrien offenbar stündlich bevor. Die USA – wir haben das gerade im Bericht aus Washington gehört – ziehen ihr Militär in der Region zurück. Da ist einiges in Bewegung und in der Türkei leben derzeit dreieinhalb Millionen Flüchtlinge. Kommen die nicht nach Europa und wie sollen wir die aufnehmen, wenn sie kommen?
Marquardt: Es ist eigentlich jetzt nicht absehbar, dass irgendwie momentan viele Millionen Menschen auf dem Weg nach Europa wären. Es ist einfach, könnte man sagen, eine Parallelwelt, wenn man jetzt versucht, den Eindruck zu erzeugen, dass alle Geflüchteten aus der Türkei auf dem Weg nach Europa sind. Wir erleben ja seit Monaten Drohungen von Erdogan.
Heuer: Vielleicht nicht alle, aber viele.
Marquardt: Ja, es sind natürlich einige auf dem Weg nach Europa. Das muss man auch gar nicht verhehlen. Und es ist auch so, dass die Menschen, die jetzt Angst haben in der Türkei, vielleicht sich auch potenziell in den nächsten Monaten auf den Weg machen. Aber Erdogan hat ja schon seit einigen Monaten gedroht, Menschen nach Syrien wieder abzuschieben. Es gibt wohl ja auch erste Abschiebungen nach Syrien und das passiert schon einige Monate. Wir sehen aber keinen massiven Anstieg der Zahlen von Syrern auf die griechischen Inseln, also nichts, was jetzt einen in Panik geraten lassen sollte. Deswegen glaube ich wirklich nicht, wenn man sich die Zahlen anschaut, wenn man sich auch die Bewegungen anschaut, dass man jetzt einfach nur mit Angst agieren kann und sagen kann, oh nein, 2015 droht, wir müssen sofort die Grenzen schließen. Ich glaube eher, dass wir uns mal anschauen müssen, ist es nicht so, wenn ein Krieg in Syrien droht und in der Türkei es den Leuten so schlecht geht, dass wir gezielt schauen müssen, wie können wir dort die Lebensbedingungen verbessern, wie können wir auch darauf hinwirken, dass es nicht neue massive Kampfhandlungen in Syrien gibt, damit sich nicht Menschen auf den Weg machen. Es ist ja nicht so, dass wir verhindern können, dass Menschen, die in Not sind, irgendwie in Sicherheit sein wollen, und es ist wahrscheinlich auch nicht so, dass wir als Europa das jetzt ausblenden können, dass es durchaus auch den europäischen Werten entspricht, wenn dort ein Krieg ist, wenn dort Menschen leiden und sie einige Kilometer übers Wasser in Sicherheit wollen, dass wir dann auch in gewisser Weise eine Verantwortung dafür haben, diesen Menschen zu helfen. An dem Punkt, wo sie auf einem Schlauchboot sind, ist es aber eigentlich schon zu spät. Wir müssen frühzeitiger politisch agieren.
"Gut, dass diese vier Staaten vorangegangen sind"
Heuer: Das wäre der eine Strang. Dann sprechen wir über die Verteilung von Flüchtlingen. Sie haben gesagt, das ist das, was man kurzfristig tun kann. Horst Seehofer ist ja jetzt bereit, mit dieser Verteilquote für Bootsflüchtlinge vor Italien und Malta sich da selber in die Pflicht zu nehmen, und er hat an seiner Seite drei Staaten bisher, die da mitmachen. Er wird in seiner eigenen Partei dafür heftig kritisiert. Wie sehen Sie das denn? Loben Sie als Grüner den deutschen Innenminister in diesem Punkt?
Marquardt: Ja. Man muss sich natürlich den Deal genau anschauen, der dort geschlossen wird. Aber wenn man so will und das auch mehr herauskristallisieren will, dann lobe ich in dem Punkt den deutschen Innenminister dafür, dass er vorangegangen ist. Das war so nicht zu erwarten. Er hat dort, glaube ich, eine konstruktive Rolle gespielt und es ist gut, dass diese vier Staaten vorangegangen sind. Denn das Problem, was es hier zu lösen galt, war ja zum einen, dass diese Hafenblockaden vor Malta, vor Italien dazu geführt haben, dass Menschen in Not tage-, oft wochenlang nicht an Land konnten, dort herumgeschaukelt sind auf dem Mittelmeer in ganz widerlichen Situationen. Das war eigentlich auch eine beschämende Situation für Europa, wo man sich, glaube ich, einfach anschauen muss, dass dieser Knoten gelöst werden musste, und ich hoffe, dass nun morgen bei dem Innenministertreffen in Luxemburg da auch mehr Staaten mitziehen.
Heuer: Sie hoffen das. Glauben Sie das auch?
Marquardt: Ja, es gibt Anzeichen dafür, dass einige Staaten dort mitziehen werden. Es ist so, dass wahrscheinlich am Ende nicht die Mehrheit der europäischen Staaten an dieser Verteilung beteiligt ist, aber es ist auch so, dass jetzt dieser Anteil von einem Viertel der Menschen, die nach Deutschland kommen, wahrscheinlich deutlich geringer sein wird morgen, und dass ich auch die Kritik der CDU gegen die CDU/CSU-Bundestagsfraktion oder gegen Horst Seehofer nicht wirklich nachvollziehen kann. Ich glaube, das hängt auch mit dem Wahlkampf in Thüringen zusammen, dass man versucht, dort kurzfristig Stimmen zu gewinnen.
Nicht wirklich langfristige Lösung
Heuer: Taugt denn die Vereinbarung über die Bootsflüchtlinge auch als Blaupause für die Verteilung von Flüchtlingen in der gesamten EU, auch von allen Flüchtlingen, nicht nur von denen, die übers Meer kommen?
Marquardt: Ich glaube, wenn wir uns anschauen, wo wir in den letzten Jahren waren, wie sich die Situation entwickelt hat, muss man erst mal sagen, vor anderthalb Jahren gab es dieses Problem, was jetzt gelöst werden muss, noch gar nicht, dass es diese harten Blockaden gab. Es ist aber gut, wenn man die letzten anderthalb Jahre anschaut, wo schon viel Unsinn passiert ist, wenn man so sagen will, dass es jetzt mal einen Schritt in die richtige Richtung gibt.
Es ist aber auch so, dass diese auf sechs Monate begrenzte Regelung, die da morgen verabschiedet werden soll, nicht wirklich eine langfristige Lösung bietet und dass auch eigentlich, wenn man sich das etwas genauer anschaut, den Ton mitnimmt, der dort in diesem Papier steht, immer noch viel Druck auf Hilfsorganisationen ausgeübt wird, um Menschen zu retten, aber …
Heuer: Herr Marquardt! Ich wollte Sie noch gefragt haben, ob Sie glauben, dass das der Einstieg in eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik ist mit einer fairen Verteilung.
Marquardt: Ich glaube, das müssen die nächsten Monate zeigen. Wenn es weiter so Anstrengungen gibt, dass mehrere Staaten zusammenarbeiten können, dann kann ich mir zum Beispiel vorstellen, dass man von europäischer Ebene ein System entwickelt, in dem die Staaten, die dann helfen wollen, und auch die Bundesländer in Deutschland, die helfen wollen, dann finanziell gefördert werden. Das wäre in der Tat dann ein guter Einstieg in eine gemeinsame europäische Asylpolitik, dass man schaut, wie können denn die Menschen unterstützt werden, die helfen wollen, und wie können die anderen, die sich dieser Solidarität entziehen, dann auch entsprechend dafür bezahlen.
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