Mario Dobovisek: Freiberg, eine Stadt in Sachsen, zwischen Dresden und Chemnitz gelegen. 42.000 Menschen leben dort; 2.000 von ihnen sind Geflüchtete. "Zu viel", sagen SPD und CDU im Stadtrat. Am Donnerstagabend hat dieser auf seiner Sitzung beschlossen, vier Jahre lang keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen. Damit ist Freiberg die erste Stadt in Sachsen mit einem Zuzugsstopp für Flüchtlinge. Orte wie Wilhelmshaven, Salzgitter und Delmenhorst haben bereits ein vorübergehendes Verbot erlassen. Auch Cottbus stoppte gerade bis auf Weiteres den Zuzug von Flüchtlingen in die Stadt. Dort gibt es heute auch wieder Demonstrationen. – Am Telefon begrüße ich Sven Krüger von der SPD. Er ist Oberbürgermeister von Freiberg. Guten Morgen, Herr Krüger.
Sven Krüger: Guten Morgen!
Dobovisek: Für den Familiennachzug hatte die SPD gerade erst bei den Koalitionsverhandlungen gekämpft: für Härtefallregeln. Fallen Sie Ihrer eigenen Partei in Freiberg in den Rücken?
Krüger: Nein! Man muss einfach sehen, dass die Stadt Freiberg in den letzten zwei Jahren sich sehr intensiv um die Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden gekümmert hat. Wir haben sehr viele Anstrengungen unternommen. Wir haben auch Geld investiert, Personal eingestellt. Aber schlussendlich war der Zuzug in den letzten zwölf Monaten so hoch, dass uns mittlerweile 300 Kitaplätze fehlen, dass uns Schulräume fehlen, dass wir schlussendlich an die Grenze des Machbaren gelangt sind, und das findet sich ja auch im Sondierungspapier wieder. Die Aufnahme von Flüchtlingen muss sich nach der Integrationsfähigkeit der Städte und Gemeinden richten, und die ist in Freiberg schlicht und einfach nicht mehr vorhanden.
"Wir brauchen eine Pause, um dann wieder Plätze vorzuglegen"
Dobovisek: Warum ist das bei Ihnen nicht mehr vorhanden, aber in anderen Gemeinden sehr wohl, die einen ähnlichen Zuzug zu verzeichnen hatten?
Krüger: Ich kann jetzt nur die Verhältnisse von Freiberg beschreiben. Hier ist es so, dass die Stadt 13 Prozent der Einwohner des Landkreises stellt, aber aktuell mehr als 70 Prozent der Flüchtlinge beheimatet. Wir hatten insbesondere im Bereich der Kinder und Jugendlichen einen großen Anstieg der zu betreuenden Kinder, und das führt einfach dazu, dass wir trotz, dass wir in den letzten Jahren fast 37 Millionen Euro in den Ausbau von Kindertagesstätten und Schulen investiert haben, im Moment feststellen müssen, wir brauchen eine Pause, ehe wir weitere drei Kitas zu Ende gebaut haben, um dann wieder Plätze vorlegen zu können.
Dobovisek: Und eine Kita zu bauen, dauert vier Jahre?
Krüger: Wir sind im Moment in Verhandlungen mit Grundstückseigentümern zum Erwerb von Grundstücken. Wir gehen davon aus, dass uns das im ersten Halbjahr 2018 gelingt. Danach müssen wir im Stadtrat uns die Mittel freigeben lassen. Wir gehen davon aus, dass wir Anfang 2019 bauen können, und bei Baumaßnahmen, die dann in den siebenstelligen Bereich gehen, und beim typisch erzgebirgischen Winter, der auch zu beachten ist, gehen wir davon aus, dass wir zwei, zweieinhalb Jahre dann auch brauchen, ehe die Kita vollständig eingerichtet und damit bezogen werden kann.
"Ich glaube nicht, dass wir in Freiberg was versäumt haben"
Dobovisek: Kommen wir noch mal zurück zu den Zahlen und zu den Kapazitäten. Wir sprechen über 42.000 Einwohner bei Ihnen, 2.000 davon sind Geflüchtete, sind ungefähr fünf Prozent. Der Kölner Vorort, in dem ich hier lebe, hat 9.500 Einwohner, rund 500 davon sind Flüchtlinge, das sind auch ungefähr fünf Prozent wie bei Ihnen. Von den drastischen Problemen, von denen Sie berichten, sehe ich aber kaum etwas, nicht in den Kitas, nicht in der Grundschule. Was haben Sie in Freiberg versäumt, wenn es denn bei anderen nicht so quietscht und knarzt wie bei Ihnen?
Krüger: Ich glaube nicht, dass wir in Freiberg, was versäumt haben. Wir haben gerade in den letzten Jahren seit 2009 planvoll und auch mit Reserven Kindertagesstätten-Plätze und Schulkapazitäten aufgebaut.
Dobovisek: Dann frage ich mal anders herum, Herr Krüger. Was machen denn die anderen Gemeinden besser?
Krüger: Vielleicht sind die anderen Gemeinden nicht in dem Maße und in dem kurzfristigen Zeitraum von Zuzug betroffen gewesen, wie beispielsweise die Stadt Freiberg. Wir hatten in den vergangenen Jahren einen Anstieg der Kinder zwischen null und 10,5 Jahren. Das lag immer so bei 100 Köpfen. Damit können Sie natürlich relativ vorausschauend Ihre Kitabedarfsplanung aufbauen. Wenn allerdings der Zuzug in den letzten zwölf Monaten von rund 100 auf über 500 oder knapp 500 steigt, dann bleiben Ihnen zwei Möglichkeiten. Sie können jetzt versuchen, mit Container-Lösungen vorübergehende Lösungen zu schaffen. Das haben wir teilweise auch schon gemacht. Das ist aber für alle Beteiligten nicht schön. Oder Sie nehmen auch andere Gemeinden in die Pflicht. Wir haben die Situation, ich sagte es eingangs: Wir stellen 13 Prozent der Einwohner des Landkreises, beherbergen aber im Moment 70 Prozent der Flüchtlinge. Und gerade im Nachbarort von Freiberg steht eine Flüchtlingsunterkunft leer, die erst im letzten Jahr mit zwei Millionen Euro Geldern saniert wurde, die aber uns als Stadt Freiberg entlasten würde, weil in diesem Ort auch Schule, Gymnasium, Kindertagesstätten und Wohnungen zur Verfügung stehen.
Dobovisek: Da zeigen Sie jetzt mit dem Finger auf andere. Bei der Bundestagswahl wurde die AfD bei Ihnen in Freiberg stärkste Partei mit gut 30 Prozent. Jetzt verhängen Sie diesen Zuwanderungsstopp. Knicken Sie ein vor der AfD?
Krüger: Nein! Ich habe mir aber den Blick für die Realität bewahrt und wenn Plätze fehlen, wenn Schulräume nicht zur Verfügung stehen, dann kann man ideologisch ganz viel sagen, aber schlussendlich sind sie einfach nicht da und die müssen aufgebaut werden.
Dobovisek: Ist die Bundes-SPD dann zu ideologisch, zu verkopft und hat den Blick für die Realität bei Ihnen in den Gemeinden verloren?
Krüger: Das ist jetzt schwierig zu beurteilen. Dafür bin ich einfach zu weit weg, was die Bundespolitik angeht.
"Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe"
Dobovisek: Vielleicht ist ja die Bundespolitik auch zu weit weg von Ihnen.
Krüger: Meine Aufgabe als Oberbürgermeister ist, für die Menschen unserer Stadt, für alle Freibergerinnen und Freiberger, egal wo sie herkommen, Bedingungen zu schaffen, in denen ein friedvolles Leben möglich ist. Das ist uns in den letzten Jahren sehr gut gelungen. Es hat wenig Vorfälle gegeben und diesen Weg würden wir gerne weiter beschreiten, mit großem Engagement. Wenn Sie schauen: Wir sind eine Stadt, die zum 1. August letzten Jahres einem syrischen Flüchtling einen Ausbildungsplatz zum Verwaltungsfachangestellten hier bei uns in der Verwaltung angeboten haben, weil wir meinen, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Dobovisek: Es ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Flüchtlinge insgesamt aufzunehmen. Geflüchtete wurden bisher nach einem Schlüssel verteilt. Das System bricht aber völlig auseinander, wenn zuerst einzelne und vielleicht später immer mehr Gemeinden nicht mehr mitmachen wollen, sich verweigern, so wie Sie es jetzt gerade tun. Wie soll es dann damit weitergehen?
Krüger: Ich gebe Ihnen recht. Je besser man die Last oder die Herausforderungen verteilt, desto besser kann sie gelingen. Es gab im Landkreis Mittelsachsen die Vereinbarung zwischen Landrat und sächsischem Städte- und Gemeindeverband, 18 Flüchtlinge pro tausend Einwohner soll jede Kommune aufnehmen. Das wären für Freiberg 750 gewesen. Wir hätten sicherlich auch 1.000 oder 1.200 mit der Infrastruktur, die in Freiberg vorhanden ist, ganz gut geschafft und gut integriert. Aber wenn 750 das ist, was alle leisten sollen im Schnitt, und wir sind jetzt bei 2.000, also fast dem Dreifachen, dann ist der Punkt, dass man eben nicht alle in die Pflicht nimmt, sondern einzelne Wenige mit der Aufgabe allein lässt.
Dobovisek: Wer muss sicherstellen, dass tatsächlich alle in die Pflicht genommen werden?
Krüger: Es gibt in Sachsen sehr gute Beispiele von anderen Landkreisen. Es gibt in Bayern sehr gute Beispiele von Landkreisen, die alle Kommunen in die Pflicht genommen haben und wo eine Überforderung von einzelnen Kommunen gar nicht aufgetreten ist.
"Auch andere Kommumen müssen sich beteiligen"
Dobovisek: Was bedeutet das jetzt für Sie, für Ihr konkretes Beispiel? Das heißt, der Landkreis hat versagt und dementsprechend darüber auch das Ministerium?
Krüger: Das ist jetzt immer relativ schnell mit harten Worten gesagt. Ja, wir kämpfen seit über einem Jahr darum, dass auch andere Kommunen im Landkreis Mittelsachsen sich an der Aufgabe beteiligen, nicht nur einige Wenige. Ja, und wir kämpfen insbesondere seit einem halben Jahr, seitdem wir merken, dass uns die Plätze ausgehen und mittlerweile sogar fehlen, dass uns die Klassenzimmer ausgehen und mittlerweile fehlen, dass Lösungen gesucht werden, wo diese Plätze da sind, weil das würde im Endeffekt allen guttun.
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