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Aufregend cool

Starallüren sind in Cannes das Alltäglichste von der Welt. Wenn Elton John bei seinem Auftritt im Palais des Festivals, wo auch die Goldenen Palmen verliehen werden, hinter der Bühne keine Frauen in seiner Nähe dulden moechte, dann wird ihm dieser Wunsch natürlich erfüllt. Hier liegt es einfach in der Luft, sich divenhaft zu benehmen - und genau das tat die Tänzerin Sylvie Guillem dann auch. Die Französin ist eine der wenigen Ballerinen, die den nur von der Pariser Oper und zwar äußerst selten verliehenen Titel "Danseuse Etoile" tragen dürfen. Sylvie Guillem ist eine Art aus der Umlaufbahn gewöhnlicher Ballerinenschicksale herauskatapultierter Meteor, wenn sie einen ihrer seltenen Auftritte ankündigt, erregt das in Frankreich ähnliches Aufsehen wie eine Mondfinsternis. In Cannes trat die außergewöhnlich schöne und begabte Tänzerin mit dem Ballet de Lyon auf und tanzte die Carmen in einer modernen Version des schwedischen Choreographen Mats Ek. Zur Pressekonferenz jedoch war Madame Guillem nicht erschienen und die Fotografien, die auf der Bühne von ihr gemacht worden waren, gab sie nicht zum Abdruck frei.

Wiebke Hüster |
    Die Choreographin Cathérine Diverrès gibt sich weniger exzentrisch, aber dafür sind ihre Stücke von einer geheimnisvollen, dunkel-melancholischen Stimmung durchwirkt. Ihr Ensemble besteht aus hervorragenden Tänzern von großer Ausstrahlung, aber sie tanzen über die düstere Bühne, als gälte es, den Gral des modernen Tanzes zu finden. Unverstandene Metaphysik schwebt in ihrem Stück "Echo" wie eine Drohung über der Szene.

    Der gefühlsbetonte Bewegungsstil von Cathérine Diverrès hat seine Wurzeln im deutschen Expressionismus. Es ist interessant zu sehen, auf welche Weise sich der französische und der deutsche Tanz mehr und mehr gegenseitig beeinflussen. Frankreichs großes Interesse an der deutschen Moderne im Tanz schlug sich auch theoretisch nieder. Bei dem wissenschaftlichen Colloquium des Festivals "Les discours de la danse" waren mehrere Forschungsbeiträge zu Ausdruckstanz zu hören. Daneben zählten zu den Diskursen über Tanz auch die in Deutschland verbreiteten Reden über postkoloniale Deutungsmuster, Sexualität und Geschlechterverhältnisse im Handlungsballett des 18. Jahrhunderts und ähnliche aufschlußreiche Theorien. Hervé Robbes neue Choreographie ist in allen diesen Hinsichten höchst postmodern. Sie trägt als Titel das Zeichen der Rückspultaste, dazu passend verhält sich das tanzende Paar zueinander, als könnte es weder Gefühle noch Erinnerungen speichern.

    Beeindruckend ist die computerbearbeitete Videokunst auf der Leinwand hinter den Tänzern. Im Film werden verschiedene Selbstmorde erprobt, aber die Rücklauftaste macht es möglich, daß das Bühnenleben lange kein Ende findet.

    Diverrès und Robbe sind beide Direktoren von sogenannten "Centre national de la Danse", Choreographischen Zentren, wie man sie in ganz Frankreich findet, wo der zeitgenössische Bühnentanz als Kunst sehr beachtet wird. Derzeit allerdings sind jüngere Kritiker und Tänzer gegenüber der führenden Generation von Centre-Direktoren sehr mißtrauisch – sie zweifeln an den künstlerischen Ergebnissen der etablierten Künstler – nicht zu Unrecht, wie man in Cannes sehen konnte.

    Aber das Etikett etabliert heißt ja noch nichts schlimmes. Die schönsten und bedeutendsten Arbeiten dieses Festivals kamen schließlich von zwei Choreographen, die im fünften und sechsten Lebensjahrzehnt stehen: William Forsythe und Trisha Brown. Forsythes Ballett Frankfurt brachte das junge Publikum dazu, wie bei Rockkonzerten zu kreischen und zu jubeln, als könne es Zugaben erwirken.

    Der Höhepunkt aber war Browns zwanzigminütige Uraufführung "Present tense" zu Musik für präpariertes Klavier von John Cage.

    Auf der Rückwand leuchtet in Blau, Grasgrün und Orange ein Bild, das Erde, Himmel und Mensch zeigt wie von Sprayerhand aufgesprüht: Ein Mann in Gelb und Rot tanzt davor in Browns einzigartigem Stil: es wirkt inzwischen klassisch, so harmonisch und elegant sind die Bewegungen. Dabei sind alle Schritte, Hebungen und Sprünge so entspannt und souverän ausgeführt, weil der Atemrhythmus der Tänzer sie trägt. In "Present Tense" findet das Ensemble immer wieder zu hinreißenden Körperskulpturen zusammen. Vor der Uraufführung stand der Brown-Klassiker "Set and Reset" mit Filmen und Kostümen von Robert Rauschenberg, und den Abschluß bildete das Jazz-Stück "Grove and Countermove" – hier zeigt die Amerikanerin, wie weich, wie fließend und wie cool! Tanz sein kann.