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Aufregender Alltag

Die rumänische Hauptstadt Bukarest ist eine Stadt des permanenten Wandels. Nach dem Sturz des Diktators Ceausescu fanden sich die Rumänen plötzlich in einer kapitalistischen Gesellschaft wieder. Sie mussten darauf reagieren und sich dem neuen Mainstream anpassen. Die vielen Veränderungen in den letzten Jahren haben die Einwohner Bukarests beweglich gemacht - politisch, sozial und vor allem im Alltagsleben.

Von Elisabeth Nehring |
    "Im Moment ist es sehr aufregend, in Bukarest zu leben. Meine Generation, Leute zwischen 30 und 40 können diese rapiden Veränderungen unmittelbar in ihrem Alltag beobachten und erleben. In meiner Straße zum Beispiel haben alle Läden, die sich als kleine Bars oder Cafés versucht haben, in kürzester Zeit dicht gemacht und als Banken oder Mobiltelefonläden wieder aufgemacht. Was im Westen vielleicht 40, 50 Jahre gebraucht hat, passiert hier gerade in einer viel kürzeren Zeit. Man hat gar keine Zeit, um alle Veränderungen und Entwicklungen richtig zu analysieren und zu verarbeiten. Die Leute wollen einfach schnell einen bestimmten wirtschaftlichen Standard erreichen."

    Manuel Pelmus arbeitet als Tänzer und Choreograph und ist seit seiner Geburt in Bukarest zuhause. Wir treffen uns auf dem "Platz der Universität" - mitten im Herzen der rumänischen Hauptstadt. Zwischen dem monumentalen Universitätsgebäude aus dem 19. Jahrhundert, dem hoch aufragenden, sozialistischen Hotel Intercontinental und dem modernen Nationaltheater schlägt das Herz der Jugend von Bukarest; auf den Jugendstilbänken sitzen Studenten, Schauspieler und Tänzer mit ihren Fast-Food-Sandwiches und Coca-Cola-Dosen und besprechen ihre vergangenen Liebschaften oder ihre neuesten Projekte.

    Heute, inmitten des Verkehrschaos aus wimmelnden Fußgängerströmen, vollen Bussen, jaulenden Krankenwagen, knatternden Taxen und blitzenden Sportwagen kann man sich nur noch schwer vorstellen, dass dieser Ort während der Revolution 1989 das Zentrum der heftigsten Gefechte war. Heute ist genau hier die unglaubliche Dynamik der Stadt am stärksten zu spüren.
    Zusammen mit Manuel Pelmus überquere ich unter Lebensgefahr den sechsspurigen Boulevard Nicolae Balcescu Richtung Nationaltheater. Dort treffen wir Mihai Mihalcea, den jungen Direktor des neu gegründeten "Nationalen Zentrums für Tanz". Das Tanzhaus, wie es inoffiziell genannt wird, ist eine junge Institution für zeitgenössische rumänische Choreographen und Tänzer, die hier ihre Stücke produzieren und aufführen können. Während der Führung durch das Tanzhaus erzählt Mihai Mihalcea:

    "Ursprünglich wollten wir einfach einen Ort zum Proben, für unsere Kunst haben. Die erste Idee war gar nicht, ein wirkliches "Tanzhaus" zu eröffnen, wie du es jetzt hier siehst und wir es aus den westlichen Ländern kennen. Dann aber, nach vielen Jahren des Kampfes und unzähligen Gesprächen mit Politikern, wurde uns klar, dass sie eine unanhängige Szene niemals finanziell unterstützen würden, sondern dass sie eine richtige Institution wollen."

    Inzwischen hat sich das Tanzhaus eine ganze Etage im Gebäude des Nationaltheaters erobert: Studios und Bühne, Büros, weitläufige Hallen und eine Mediathek - alles ist noch spartanisch eingerichtet, aber belebt vom Geist der jungen Kreativen. Doch die vom Kulturministerium unterstützte Initiative stößt nicht überall auf Gegenliebe. Mit dem Widerstand politischer Entscheidungsträger hatten Mihai Mihalcea und seine Kollegen gerechnet, doch dass sie ihre schärfsten Gegner in den eigenen Reihen - unter den Künstlern - fanden, hat sie überrascht. Vor allem von den älteren Kollegen wurden sie heftig für ihre Initiative attackiert.

    "Die Vorwürfe waren sehr schmutzig, sie haben uns Homosexualität vorgeworfen, uns der "Zerstörung der Kultur" bezichtigt und uns "Kultur-Viren" genannt - man kann sich vorstellen, dass es für Künstler, die sich einfach nur ihren eigenen Ort schaffen wollen, sehr hart ist mit solchen Vorwürfen konfrontiert zu werden."

    Trotz der zahlreichen Widerstände, hat sich das Tanzhaus ein Jahr nach seiner Eröffnung zu einem beliebten Ort entwickelt. Zahlreiche junge Leute kommen am Abend in die Vorstellungen. Mihai Mihalcea möchte es vor allem zu einem kommunikativen Zentrum machen:

    "Als ich Direktor geworden bin, habe ich zum Beispiel den Schlüssel zu dem Zentrum allen Beteiligten angeboten. Sie sollten immer kommen können, tags, nachts, um sich zu treffen, zum proben, zum reden, zum trinken, zum diskutieren. Ich wollte eine offene Tür für jedermann, aber natürlich konnte man die so nicht aufrechterhalten. Es sind einige blöde Sachen passiert, Diebstähle, und so weiter. Ich weiß jetzt, dass ich besser auf diesen Ort und seine Ausstattung aufpassen muss, aber ich wünsche mir sehr, dass sich alle Leute integriert fühlen. Das hier soll kein exklusiver Ort für wenige Leute sein, keine Kultur-Institution, die ausgrenzt und - wie es sehr oft in Rumänien ist - etwas Verschlossenes ausstrahlt."

    Ich verlasse das Tanzhaus und schlendere über den Boulevard Regina Elisabeta Richtung Calea Victoriei. Auch hier gibt es die von Manuel Pelmus beschriebenen zahlreichen Mobilfunkläden, daneben Kaffeehausketten und Fast-Food-Shops, grellbunte Werbung für Casinos, aber auch fliegende Händler, die selbst produzierte Waren wie Haushaltsgeräte aus Holz auf der Strasse ausbreiten oder alte Mütterchen mit Blumen aus den Vorgärten ihrer halb verfallenen Häuser.

    Biegt man in die alte Prachtstraße Calea Victoriei ein, versteht man, warum Bukarest den Titel "Paris des Balkan" trägt: zahlreiche Gebäude aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert mit imposanten Fassaden und filigranen Ornamenten säumen die schmale Strasse. Jugendstil, Klassizismus und Eklektizismus - alle Baustile stehen hier nebeneinander und erinnern an jeder Ecke aufs neue an Frankreich.

    Ganz anders wirkt dagegen das alte Handelsviertel um die Strada Lipscani, die alte Leipziger Straße, die von der Calea Victoriei abzweigt. Hier sind die Häuser viel niedriger, weniger prachtvoll; billige Geschäfte wechseln sich ab mit Handwerksläden und Antiquitätenhändlern. Aber auch hier, mitten im Kiez der einfachen Leute, entdeckt man ein Stück des neuen kulturellen Bukarest, wenn auch in einer ziemlich seltsamen Ausprägung.

    Hinter einer Menschenansammlung entdecke ich einen am Boden knienden Transvestiten. Er trägt eine Langhaarperücke und hohe Schuhe und übergießt sich gerade mit roter Farbe. Während die Älteren auf seine lauten Ausrufe belustigt reagieren, schrecken die Kinder zurück. Erst als ihnen jemand erklärt, dies sei "Theater" und nicht die "Wirklichkeit", fangen sie an zu lachen und treiben ihren Schabernack mit den Resten der roten Farbe. Die Straßenperformance gehört zu einem Festival, das vom Tanzhaus organisiert wird und sich mit einigen seiner Vorstellungen auch direkt unter die Leute mischt.

    Einen drastischen Szenenwechsel gibt es einige Hundert Meter weiter.

    Auf einer Anhöhe nahe des modernen Unirii-Platzes steht die Kathedrale des orthodoxen Patriachats. Das Ziegelstein-Gebäude mit seinen beiden Türmen aus dem 17. Jahrhundert nimmt sich angesichts seiner Funktion als Hauptkirche bescheiden aus. Eine lange Schlange von Gläubigen windet sich vor dem Eingang; die Messe wird nach draußen übertragen, weil längst nicht alle Gläubigen in der Kirche Platz finden. Im regen Kommen und Gehen versucht jeder, einen Blick auf den Patriarchen zu erhaschen oder eines der Heiligenbilder zu berühren.
    Hier auf dem Vorplatz der Hauptkirche begegne ich Constantin Stoica, Mönch und Pressesprecher des Rumänisch-Orthodoxen Patriarchats. Er erzählt von den Plänen seiner Kirche, eine gigantische Kathedrale mitten in Bukarest zu bauen. Deren Ausmaße sind schwindelerregend: einhundert Meter hoch und etwa neunzig Meter lang und breit soll sie werden mit Platz für vier- bis fünftausend Gläubige.

    "Ich muss Ihnen sagen, dass es die größte Kathedrale in Rumänien werden wird. Und das hat seinen Grund. Sie sehen hinter meinem Rücken unsere jetzige Hauptkirche. Sie ist sehr klein und umfasst nur vier- bis fünfhundert Gläubige. Heute, wie an jedem Sonntag, können viele Gläubige die Kirche nicht betreten, weil sie zu voll ist und müssen die heilige Liturgie draußen miterleben. Im Sommer ist es sehr, sehr heiß, im Winter sehr kalt, das ist schwierig für viele Leute. Stellen Sie sich vor, Bukarest ist die einzige Hauptstadt Europas, die keine wirkliche Kathedrale hat. Die rumänisch-orthodoxe Kirche ist eine wichtige Kirche und hat fast 20 Millionen Gläubige, allein in Rumänien, aber in Bukarest haben wir keine einzige repräsentative Kathedrale. Das ist unser Argument, warum ein solches Gebäude notwendig ist."

    Selbst unter den Gläubigen finden die aufwändigen Pläne des rumänisch-orthodoxen Patriarchats mindestens ebenso viele Gegner wie Anhänger. Umstrittener jedoch als das Bauprojekt selbst ist der Ort, an dem es errichtet werden soll: mitten in der Stadt, auf der großen Brachfläche neben dem ehemaligen Palast des Diktators Ceausescu, dem heutigen Sitz des Parlaments. Über den Boulevard Unirii ist das Gelände zu erreichen.

    Ceausescus von hohen sozialistischen Wohnblocks, Springbrunnen und Bäumen gesäumte, aber unbelebte Prachtstrasse zieht sich ewig in die Länge. Schon von ferne leuchtet mir die monumentale Fassade des riesigen Palastes entgegen, doch ist es kein einladendes Leuchten, sondern ein kaltes, abweisendes. Etwas erhöht auf einem Hügel gelegen und umgeben von einer Mauer wirkt das zweitgrößte Gebäude der Welt monströs und völlig isoliert von der Stadt. Mit dem Anblick drängt sich zugleich die erschütternde Geschichte der Umgebung auf.

    Für den Palast des Diktators und die umliegenden sozialistischen Bebauung wurde in den achtziger Jahren ein Fünftel des alten Stadtkerns mit zahlreichen historisch bedeutenden Bauwerken, Kirchen und Klöstern zerstört; rund 70.000 Menschen wurden innerhalb weniger Tage aus ihren Häusern vertrieben und in halbfertige Wohneinheiten verfrachtet. Während die Menschen in den harten rumänischen Wintern hungerten und froren, ließ Ceausescu im Inneren des Palastes teuerste Edelmaterialien verbauen: Wände und Fußboden aus weißem und rosafarbenen Marmor, schwere Eichentüren mit edlen Intarsien, vergoldete Heizungsgitter, riesige, aus Gold- und Silberfäden gewirkte Teppiche, bis zu 250 Kilo schwere Samtvorhänge und insgesamt 2.000 Kristallleuchter, die auch heute noch die Stromversorgung der Stadt lahm legen könnten. Alles zu 100 Prozent aus Rumänien - so pries der Conducator seine angebliche Liebe zum Volk.

    Ich muss daran denken, dass es in Bukarest noch immer Tausende von Menschen gibt, die den Verlust ihres Stadtviertels betrauern und die mit ihren Häusern ihr vertrautes Leben und ihre Träume begraben lassen mussten. Und ich erinnere mich an schlimme Gerüchte, wie zum Beispiel dass Ceausescu persönlich Morde an Arbeitern angeordnet haben soll, damit diese nichts über Geheimgänge und -kammern preisgeben konnten. Selbst wenn von alledem nur die Hälfte wahr wäre: Dass dieser Palast auf den Köpfen der Menschen errichtet wurde, wie man in Rumänien zu sagen pflegt, ist nicht nur eine Metapher.

    Ich bin erleichtert, als ich Dan Perjovschi treffe, den bekanntesten Künstler und Karikaturisten des Landes. Er gilt nicht nur als engagierter Kämpfer, Liebhaber und Verteidiger seines Landes, sondern auch als eine der kritischsten Stimmen. Auch heute noch fragt er immer wieder aufs Neue nach der Geschichte des Palastes.

    "Wie wurde es möglich, dass wir, die Rumänen, solch ein Monstrum errichtet haben.
    Wir sind von der Bevölkerungsdichte her ein kleines Land und wenn man in unsere historischen Museen geht, bekommt man den Eindruck einer eher bescheidenen, bäuerlichen Kultur. Wie wurde es also möglich, dass rumänische Künstler ihre Überzeugungen und ihren Glauben einfach weggeworfen haben und mit ihrer Kunst dem Diktator gedient haben? Wie?"

    Er selbst findet keine Antwort auf diese Frage. Wir nähern uns dem monströsen Gebäude, das umso erschreckender erscheint, je näher man kommt. Das unheimlichste ist, dass es nirgendwo einen Eingang zu entdecken gibt; der Palast wird umsäumt von mehrspurigen Stichstraßen, Brachland und gescheiterten Parkanlagen und hat auch über zwanzig Jahre nach seiner Entstehung noch immer überhaupt keinen Bezug zu seiner Umgebung. Seit Mitte der neunziger Jahre residiert in dem größten Teil des Gebäudes das Parlament, erzählt Dan Perjovschi empört.

    "Dieses Gebäude ist ein Verbrechen. Jeder Bürger in diesem Land hat dafür bezahlt, einige mit ihrem Leben, einige mit ihren Häusern, andere mit ihren Hoffnungen. Wie kann eine politische Macht dieses Gebäude erneut besetzen? Dass das Parlament eingezogen ist - damit bin ich nicht einverstanden. Weil es überhaupt keinen Bruch gab zwischen der Demokratie und der Diktatur. Es ist wieder dasselbe Gebäude, das die Macht repräsentiert."

    Während der mühsamen Umrundung des Gebäudes fällt auf, das der vom Zentrum abgewandte Teil immer noch einer Baustelle gleicht, während es an der vorderen Seite schon wieder zu verfallen beginnt. Doch auch hier, an dem Ort des sichtbarsten Schreckens der Vergangenheit, wächst etwas Neues durch die Kultur.

    "Die Frage ist: Wollen wir für immer mit der Erinnerung an das totalitäre Regime leben oder wollen wir - ganz besonders die junge Generation - diese Vergangenheit endlich vergessen? Das heißt, wir wollen uns schon darüber bewusst sein, was geschehen ist, aber doch etwas Neues, Zukunftsweisendes errichten - direkt an diesem Ort, der ein Symbol für Macht darstellt."

    Die junge Rumänin Ruxandra Balaci arbeitet im Museum für zeitgenössische rumänische Kunst, das seit zwei Jahren im hinteren Teil des Palastes zuhause ist. Zusammen mit ihrem Partner, dem Direktor des Museums Mihai Oroveanu, treffen wir sie vor dem Haupteingang. Den muss man lange suchen, kein Schild weist den Weg, auf der Auffahrt von der Straße liegen Bauschutt und Schrottteile. Bevor man das Museum betreten darf, muss man sich durchsuchen lassen wie am Flughafen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die den Ärger des Museumsdirektors erregt.

    "Es ist wirklich nicht leicht, jeden Morgen den Eingang zu diesem Gebäude zu passieren. Eigentlich war es eine unserer Forderungen, einen eigenen Eingang zu bekommen. Das hat die Regierung aber nicht akzeptiert. In Rumänien ist es nicht so wie in anderen europäischen Ländern, wo die Regierung ein solches künstlerisches Projekt unterstützen würde. Nein, hier hassen die Regierenden uns geradezu, obwohl sie uns in dieses Gebäude rein gelassen haben. Unsere Präsenz hier bedeutet für sie grundsätzlich die Infragestellung ihrer eigenen Autorität. Deswegen war unsere Idee, einen eigenen, freundlichen Eingang zu haben, ohne Wände, mit Gärten, mit kleinen Ausstellungshallen, einem kleinen Laden, einer Cafeteria, mit Orten , wo Kinder spielen können, aber die Antwort war, dass sie in Zeiten des globalen Terrorismus einen besonders bewachten Eingang mit Sicherheitschecks bräuchten. "
    Mihai Oroveanu und sein Team sind angetreten, das Gebäude mit der schrecklichen Geschichte zu exorzieren, ihm - durch die Kunst - den Teufel auszutreiben. So gibt es neben Werken international bekannter Künstler auch immer wieder Ausstellungen, die sich mit dem Palast und seiner Geschichte beschäftigen. Auf Bildern junger rumänischer Maler wird der Palast spielerisch verkleinert, auf einer grünen Wiese von Kühen beschnuppert oder auf Wolken schwebend dargestellt. Die Generation der 30-40-Jährigen möchte mit Witz, Ironie und Provokation den Palast auf ein menschliches oder überhaupt fassbares Maß herunterholen, ihm den Schrecken nehmen, ohne dabei die Vergangenheit zu ignorieren.

    "Wir sind hier, weil wir das Gebäude hassen und wir versuchen hier etwas aufzubauen, was dem Geist dieses Gebäudes widerspricht. Wir sind hier, um eine neue Geisteshaltung zu provozieren und unseren Glauben an die zeitgenössische Kunst und den individuellen, freien Willen der Künstler auszudrücken."

    Ein Künstler, der sich mit dem Museumsprojekt im Palast nicht einverstanden erklärt, ist Dan Perjovschi. Er glaubt nicht an die Möglichkeit, dass durch die Kunst dem Palast der Teufel ausgetrieben werden kann und lehnt die Nähe der Kunst zur politischen Macht ab. Doch trotz aller Kritik gibt sich Dan Perjovschi am Ende versöhnlich.

    Nach unserem Gang durch das Museums stehen wir zusammen auf der großen Terrasse im obersten Stockwerk, lassen unsere Augen über die Dächer Bukarests wandern und die gewaltige Brachfläche, auf der in den nächsten Jahren die neue Kathedrale entstehen soll. Ein letztes Mal sprechen wir über diese vielfältige, auch widersprüchliche Stadt und das Leben in ihr.

    "Alles hat sich in den letzten Jahren in dem Leben der Menschen hier in Bukarest, in ganz Rumänien geändert. Die Menschen haben jetzt das Recht auf Meinungsfreiheit, sexuelle Freiheiten, Minderheitenrechte, den freien Markt. Sie dürfen nicht einmal mehr ihr eigenes Kind schlagen ohne dafür bestraft zu werden! Und das hat in Rumänien eine lange Tradition! Die Menschen hier haben so viele Veränderungen durchlebt und sie machen das ziemlich gut, sie sind nicht unbeweglich oder gelähmt. Man muss sich vorstellen, dass die Leute über vierzig Jahre wie in einem Gefängnis gelebt haben und plötzlich finden sie sich in einer turbo-kapitalistischen Gesellschaft wieder, in der sich alles verändert und in der sie überleben müssen. Die Preise ändern sich, plötzlich gibt es 35 Fernsehkanäle, 10.000 Fußballspiele. Und unter den Kommunisten konnten sie nicht einmal eines anschauen! Es ist nicht so, dass ich das nicht auch kritisieren würde, aber das sind ungeheure Veränderungen - politisch, sozial und vor allem im Alltagsleben. Ich möchte nicht allzu populistisch klingen. Das hier ist kein Märchen. Aber die Menschen verfolgen diesen Veränderungen sehr gut und viele von ihnen behalten trotzdem ihre alten Werte, wie zum Beispiel ihre Gastfreundschaft, ihre Wärme und dass sie immer Zeit füreinander haben."