Im Januar 2019 rollt eine Trägerrakete auf die Startrampe im indischen Raumfahrtzentrum Satish Dhawan. Der Livestream zeigt Studenten und Schülerinnen auf den Besucherbänken im Kontrollraum. Ihr selbst gebauter CubeSat soll heute abheben. Ein Projekt, um die indische Jugend für den Weltraum zu begeistern und das Bewusstsein für eine Welt ohne Grenzen zu befördern.
Narendra Modi erwähnt Test zwei Monate später
Um 23:37 Uhr Ortszeit steigt die Trägerrakete planmäßig in den Nachthimmel. Die Schüler jubeln, als ihr Kleinsatellit nach 100 Minuten seinen Zielorbit erreicht. Lange davor aber hat sich die eigentliche Nutzlast ausgeklinkt: Microsat-R, angeblich ein militärischer Aufklärungssatellit. Erst zwei Monate und drei Tage später wird ihn Indiens Premierminister Narendra Modi in einer Ansprache erwähnen. Da hatte eine viel kleinere, ballistische Rakete den Satelliten gerade erfolgreich zerstört.
"Meine lieben indischen Mitbürger. Heute, am 27. März, hat Indien etwas Beispielloses erreicht. Indien hat sich heute eingereiht in die Riege der Weltraummächte."
Das Kill-Vehikel traf zielgenau auf zehn Zentimeter, sagen indische Militärangehörige. Es ist der erste Test einer Anti-Satelliten-Rakete seit über einem Jahrzehnt.
"Bis heute haben das drei Länder geschafft: Amerika, Russland und China; Indien ist die vierte Nation. Für jeden Inder ist dies ein großartiger Moment großen Stolzes. Unsere Wissenschaftler haben einen aktiven Satelliten im All zerstört, 300 Kilometer entfernt."
Kollision entwickelt unglaubliche Kräfte
Ein niedrig fliegender Satellit rast mit 28.000 Kilometern pro Stunde durchs All. Eine Kollision entwickelt hier unglaubliche Kräfte. Schon ein Objekt so schwer wie eine Murmel hat in der Umlaufbahn die Durchschlagkraft einer Gewehrkugel. Dennoch testete China 2007 eine Anti-Satelliten-Waffe in großer Bahnhöhe von 800 Kilometern. Brian Weeden von der Secure World Foundation beschrieb vor wenigen Jahren das Resultat.
"Das war eine Rakete, die vom Boden aus startete, mit einem kleinen Abfangjäger an der Spitze. Der kollidierte mit einem ihrer eigenen Satelliten und erzeugte ungefähr 3.000 Trümmerteile größer als zehn Zentimeter."
Holger Krag, der Verantwortliche für Weltraumrückstände bei der Europäischen Raumfahrtagentur rang darüber nach Worten.
"Das hat das Weltraumschrottproblem ganz dramatisch verschärft. Denn auch viele ESA-Satelliten sind in ähnlicher Höhe unterwegs. Wir mussten gegenüber den Fragmenten bereits mehrere Ausweichmanöver durchführen." Kein Betreiber von Satelliten denkt gerne über die vielen Gewehrkugeln im Orbit nach. "Also: Es ist absolut nicht ratsam, solche Tests durchzuführen."
Warum wird weiter im All gezündelt?
Der neue Test Indiens fand in einer Höhe statt, in der ein Großteil der Trümmer innerhalb von zwei Wochen in die Erdatmosphäre eintritt und verglüht. Dennoch stellt sich die Frage: Warum wird mehr als zehn Jahre nach Chinas riskantem Test weiter im All gezündelt? Und wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Es ist September 2019, als ich einen Experten für Weltraumsicherheit im Diplomatenviertel von Genf treffe. In der Stadt findet ein größerer Teil der internationalen Weltraumdiplomatie statt.
Wenn einer versteht, was im All vor sich geht, dann Daniel Porras, Forscher am UN-Institut für Abrüstungsforschung. Mit Blick auf den Genfer See erzählt er, warum der Weltraum im letzten Jahrhundert für Generäle kaum ein Thema war.
"In den 60er- und 70er-Jahren gab es nur zwei Staaten, die entsprechende Fähigkeiten entwickelten. Heute gibt es viele."
Ein Großteil der Satelliten diente anfangs der militärischen Aufklärung. Abrüstungsverträge zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion setzten auf Satelliten, die das Vertrauen zwischen Ost und West erst herstellten. Denn sie konnten vertragswidrige Aufrüstung oder eine Attacke am Boden jederzeit erkennen. Anti-Satelliten-Waffen einzusetzen, hätte das nukleare Gleichgewicht belastet. Satelliten waren die Lebensversicherung der Supermächte.
"Nach dem Kalten Krieg sahen wir beinahe so etwas wie ein Moratorium für die Entwicklung dieser Technologien, hauptsächlich weil Russland kein Geld übrig hatte und die Vereinigten Staaten keine anderen Rivalen im All sahen, die es wert gewesen wären, diese Technologien weiterzuentwickeln. Und sie nahmen einfach ihren Fuß vom Gas."
"Für das Militär ist der Weltraum ein großes Ding"
2001 wurde vielen Staaten das Ungleichgewicht bewusst. Die USA wurden am 11. September terroristisch angegriffen, doch militärisch konnte ihnen keine Streitmacht beikommen. Die folgenden Feldzüge in Afghanistan und dem Irak waren echte High-Tech-Kriege: Wieder waren Satelliten eine Lebensversicherung, dieses Mal aber zementierten sie fast ausschließlich die Überlegenheit des US-Militärs: Schon 2001 in Afghanistan waren 60 Prozent der abgefeuerten Munition zielgesteuert.
"Für das Militär ist der Weltraum ein großes Ding. Und die Abhängigkeit wächst weiter."
Ohne Satelliten keine Dominanz. Diese Erkenntnis hat inzwischen auch die Militärs außerhalb der USA erreicht. Im Januar 2007 schießt China einen eigenen defekten Wettersatelliten mit einem Killvehikel ab. Im Mai 2013 folgt ein suborbitales Forschungsexperiment, wie China verlauten lässt.
Eine US-Studie kommt dagegen zu dem Schluss, dass es sich um eine Waffe gehandelt hat, die Satelliten noch im geostationären Orbit, 35.000 Kilometer von der Erde entfernt, erreichen kann.
Im September 2015 nähert sich der russische Satellit Luch Olymp-K dem kommerziellen US-Kommunikationssatelliten Intelsat 905 bis auf zehn Kilometer.
Empfindlich nah am Kommunikationssatelliten Athena-Fidus
Drei Jahre später manövriert Luch empfindlich nah an den militärischen Kommunikationssatelliten Athena-Fidus heran, der von Frankreich und Italien betrieben wird.
Im Januar 2018 wird durch manipulierte GPS-Daten in Syrien einen Geschwader aus 13 bewaffneten Drohnen zur vorzeitigen Landung gezwungen. Den Störsender lokalisieren Forscher später im größten russischen Militärstützpunkt in Syrien. Die Antwort der Vereinigten Staaten war absehbar.
"Marines, sailers and families, please join me in welcoming our commander in chief, the President of the United States, Donald J. Trump."
Es ist März 2018, als Donald Trump vor eine Gruppe gut gelaunter Marines tritt: "Meine neue nationale Strategie begreift das All als Kampfgebiet, genau wie die Luft und das Meer. Wir könnten auch eine Space Force haben, die wäre zu entwickeln.
Die Space Force soll eine eigene Teilstreitkraft werden. Auf einer Sitzung des National Space Council im August 2018 sagt Vizepräsident Mike Pence auch, gegen wen sich diese Politik richtet.
"Das Pentagon hat einen Bericht veröffentlicht, der zeigt, dass China aggressiv Waffen im All stationiert. Auch Russland entwickelt und testet neue und gefährliche Waffen und Technologien, um den amerikanischen Raumfahrtkapazitäten entgegenzuwirken. Ich versichere Ihnen, meine amerikanischen Mitbürger, dass unsere Regierung dafür sorgen wird, dass Amerika in diesem kritischen Bereich seinen Vorsprung hält."
Neue Tonlage der US-Regierung
Es ist eine neue Tonlage, die die US-Regierung hier anstimmt. 30 Jahre nach Ende des kalten Kriegs werden nun wieder reale Gegner benannt. Allen voran China, sagt Brian Weeden, vom Think Tank Secure World Foundation in Washington D.C.
"In den USA wird viel über einen möglichen Konflikt mit China diskutiert. Ein hypothetisches Beispiel ist eine Krise über Taiwan. Aus Sicht von China wäre die Präsenz von US-Flugzeugträgern oder Kampftruppen in dieser Gegend ziemlich besorgniserregend."
Die Anti-Satellitenwaffen der Vereinigten Staaten existieren seit dem Kalten Krieg und gelten als jederzeit einsatzbereit.
"Stellen Sie sich jetzt vor, Sie wären der US-Commander für den Pazifikraum. An Bord Ihres Flugzeugträgers befinden sich vier- bis fünftausend Menschen und die sind kriegsentscheidend. Und Sie wüssten, dass Chinas Fähigkeit, diese Flugzeugträger zu orten, wiederum entscheidend von deren Satelliten abhängt: Dann wollen die USA in der Lage sein, diese Satelliten zu zerstören."
Noch trumpft die US-Regierung nicht mit neuen Waffensystemen für das All auf. Die offizielle Strategie lautet bislang: Kommunikation, Navigation oder Aufklärung nicht über wenige große, sondern zukünftig über viele kleine Satelliten zu verteilen. Aber dass im Geheimen durchaus an taktischen Fähigkeiten im All geforscht wird, zeigt das Beispiel von X-37.
Ein unbemanntes Spionage-Spaceshuttle, von dem keiner weiß, welchen Aufgabe es hat. Am 27. Oktober 2019 landete X-37 im Kennedy Space Center. Es war bereits die fünfte Mission. Was hat das Shuttle während seiner 25 Monate im All genau gemacht?
"Die allgemeine Vermutung ist, dass es sich um eine Art Technologie-Testanlage handelt, um wahrscheinlich die Kommunikation anderer Leute abzuhören. Und das wäre nicht unähnlich zu dem, was dem russischen Luch vorgeworfen wurde."
Geht nicht mehr nur um die eigene Sicherheit im All
Xavier Pasco vom Pariser Think Tank Fondation pour la Recherche Stratégique geht davon aus, dass die USA derzeit ihre Doktrin weiterentwickeln: Es gehe vermutlich längst nicht mehr darum, nur die eigene Sicherheit im All zu gewährleisten.
"Die Idee ist, zu zeigen, dass sie im Weltraum sehr mächtig und widerstandsfähig sind und dass es sehr schwer wäre, ihnen einen Schaden zuzufügen; dass sie in gewissem Maße über Waffen verfügen, die jedem möglichen Feind schaden, der die Vereinigten Staaten ins Visier nehmen könnte."
Amerika soll auch in der Umlaufbahn verteidigt werden. Und obwohl die US-Regierung neue Weltraumwaffen und orbitale Manöver Chinas und Russlands verurteilt: Internationale Verträge werden abgelehnt – und das längst nicht nur von der derzeit amtierenden US-Regierung.
"Einerseits ist da die Gruppe von Ländern, die von Russland und China geführt werden. Sie haben einen Vertrag vorgeschlagen, der die Platzierung von Waffen im Weltraum verhindern soll. Diese Idee hatte sich seit dem Jahr 2000 mehr oder weniger herumgesprochen, wurde dann weiterentwickelt und der UNO im Jahr 2008 vorgestellt."
Die Vereinigten Staaten und mit ihnen ihre Verbündeten stellen sich seither gegen diese Vorstöße.
"Die Vereinigten Staaten, viele europäische Länder, aber auch Australien, Japan und Kanada halten schon die Idee, speziell Waffen im All zu verbieten, für fehlerhaft, weil man nicht definieren kann, was eine Waffe ist."
Die Regulierung des Orbits ist bis heute ungelöst. Und so lange es keine Einigung gibt, nimmt die Zahl der Staaten, die ihre Satelliten wiederum mit eigenen Waffensystemen schützen wollen, weiter zu.
Auf Indien folgt Frankreich
Auf Indien folgt am 13. Juli 2019 Frankreich. Emmanuel Macron spricht, am Vorabend des Nationalfeiertags, im Hôtel de Brienne, dem Sitz des Verteidigungsministeriums.
"Die neue militärische Weltraumdoktrin wird unsere Verteidigung des Weltraums und die Verteidigung über den Weltraum gewährleisten. Wir werden unser Wissen über die Weltraumlage erweitern; wir werden unsere Satelliten auch aktiv besser schützen."
Die Pläne Macrons führte seine Verteidigungsministerin Florence Parly wenige Wochen später auf einer Konferenz französischer Militärangehöriger aus.
"Frankreich ist heute eine der wenigen Nationen, die über eine eigene Weltraumüberwachung verfügen. Unsere erste Aufgabe ist es, sie zu schützen. Diese Fähigkeiten sind für unsere Operationen und für das Funktionieren unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft unerlässlich."
Der französische Plan umfasst neuartige kleine Bodyguardsatelliten, die sich langsam nähernde Spionagesatelliten frühzeitig erkennen und Frankreichs wertvollste Satelliten bewachen sollen. Im Notfall sollen Hochleistungslaser die Instrumente der Angreifer blenden – bei dieser Technik habe speziell Russland gegenüber Frankreich einen großen technischen Vorsprung. Außerdem wird Frankreich ein Weltraum-Oberkommando einführen. Sicherheitsexperte Xavier Pasco hält diese Politik für rational – und notwendig.
"Das hat Frankreich erkannt: Wenn man auf diesem Niveau mitspielen und beispielsweise in der Lage sein will, als erste Militärmacht in einer bestimmten Region im Ausland einzugreifen, muss man über alle militärischen Mittel verfügen. Und zu diesen Mitteln gehört der Weltraum dazu, ganz besonders auch die Erdbeobachtungssatelliten. Frankreich verfügt aber auch über sogenannte ELINT-Satelliten, also elektronische Nachrichtensatelliten, die sehr nützlich sind, um Funksignale abzufangen, um dann über die Luftabwehrsysteme und all dies Bescheid zu wissen. Dazu setzt Frankreich natürlich auch immer häufiger Drohnen ein, die über Satelliten gesteuert werden. Und sie müssen deren Daten an die Flugzeugträger übertragen können."
Besuch im führenden Forschungsinstitut der Bundeswehr
Die Zahl potenter Weltraumkrieger wächst also weiter. Zuletzt erklärte die NATO Mitte November, den Orbit zu einem eigenständigen Operationsgebiet. Möglicherweise kann dort ein Angriff in Zukunft den Bündnisfall auslösen. Frankreich wiederum zählt laut Florence Parly auf seine europäischen Partner - und speziell auf Deutschland.
Ich suche nach Anhaltspunkten für die deutschen Verteidigungsbemühungen im All – und besuche das führende Forschungsinstitut der Bundeswehr in Neubiberg bei München.
"Gebäude 35, Raum 1358, dazu gehen Sie jetzt die Straße entlang, biegen dann nach links ab dann kommen Sie irgendwann an einer deutschen Flagge vorbei, dann sind sie richtig."
Bekannt ist: Die Bundeswehr betreibt mehrere Radar- und Kommunikationssatelliten und seit zehn Jahren ein Weltraumlagezentrum, um Bedrohungen für diese Satelliten zu erkennen. Doch plant sie auch, ihre Satelliten im All aktiv zu schützen, wie Frankreich es vorhat? Eine Anfrage des Deutschlandfunks an das Ministerium von Annegret Kramp-Karrenbauer blieb unbeantwortet.
Ich treffe Roger Förstner. Er leitet das Institut für Raumfahrttechnik und Weltraumnutzung. Keine Uniform, sondern ein schwarzes Hemd. Auf seinem Schreibtisch steht ein Modell der Mondrakete Saturn 5.
"Die Raumfahrt innerhalb der Bundeswehr ist noch sehr klein. Sie ist vorhanden, es gibt ja zum Beispiel dieses Weltraumlagezentrum. Es ist ein Thema, aber es ist kein großes Thema im Vergleich zu der Luftfahrt."
Wahlfach Raumfahrt nicht aus taktischen Überlegungen
Weltraumstreitkräfte in der Bundeswehr scheinen derzeit noch ferne Zukunftsmusik zu sein, zumindest aus Sicht der Offiziersanwärter.
"Die meisten wählen Raumfahrt natürlich aus Interesse und nicht aus taktischen Überlegungen, was jetzt der Karriere dienlich ist, sondern weil sie wirklich Interesse an der Raumfahrt haben. Und das ist über die Jahre relativ konstant geblieben."
Raumfahrtingenieur Förstner befasst sich mit den normalen Herausforderungen, die sich beim Betrieb von Raumsonden und Satelliten ergeben. Das Vakuum des Alls selbst ist bedrohlich genug. Schon ein winziger Meteorit oder ein erbsengroßes Stück Weltraumschrott kann einem Satelliten - unglücklich getroffen - den Garaus machen. Dabei sei die Ursachenforschung oft schwierig.
"Möglicherweise war es ein Mikrometeorit, der irgendetwas getroffen hat. Das können wir aber gar nicht sagen, sondern wir sehen nur das Symptom, dass irgendwas kaputt ist oder nicht mehr so funktioniert, wie es soll. Warum es kaputt ist, können wir häufig gar nicht nachvollziehen."
Dennoch setzt nicht nur der Plan der französischen Ministerin genau hier an: Neben den vielen natürlichen Gefahren sollen militärisch genutzte Satelliten nun auch feststellen, ob sie angegriffen werden – und am besten auch von wo.
"Das wirklich zu beweisen, sozusagen zum Verursacher zurückzuverfolgen, ist mit Sicherheit eine schwierige Geschichte. Das hängt ein bisschen vom Angriff ab. Wenn ich vom Laser geblendet werde, dann kann ich relativ klar sagen, wo der Laser abgeschossen worden ist. Wenn ich gerade über ein Land fliege, bei dem ich weiß, es ist mir nicht wohlgesonnen, dann ist es wohl zu vermuten, dass es auch daher gekommen ist."
Umweltsatellit Envisat fällt ohne erkennbaren Grund aus
Beweise zu finden, wird in keinem Fall leicht werden: 2012 etwa fiel der europäische Umweltsatellit Envisat ohne erkennbaren Grund aus. Vermutlich ein technischer Defekt, sagt die ESA. Inzwischen ist das Nachfolgeprogramm Copernicus im All und das wird nicht mehr nur zivil, sondern auch militärisch genutzt. Was, wenn einen der sechs nagelneuen Copernicus-Satelliten ein ähnliches Schicksal ereilt, während er gerade über Russland oder China kreist? Die Situation könnte leicht eskalieren.
"Es ist für mein Empfinden schade drum, dass wir es nicht lassen können. Das liegt natürlich darin begründet, dass die Kritikalität der Raumfahrt-Infrastruktur mittlerweile so groß ist. Und deswegen kommt dieser Effekt zustande, dass man die Satelliten schützen möchte, vor allem in dem Maße, wie auch die Angriffsmöglichkeiten steigen. Also haben wir wieder diese unglückliche Spirale, die wir irgendwie schon kennen sollten."
"Die Frage ist nur ob die Spirale auf ein Gleichgewicht hinausläuft oder nicht."
"Da müsste man die Politiker fragen. Diese Spirale heißt ja, ich habe eine Angriffsmöglichkeit. Dann versuche ich eine Verteidigungsmöglichkeit zu finden. Dann versuche ich wieder eine neue Angriffsmöglichkeiten zu finden. Es werden sich immer neue Technologien entwickeln. Dass man die nutzt, das ist eine politische Entscheidung, die auf höchster Ebene und eigentlich global zu treffen ist. Da sollten sich also alle Nationen einig sein. Und man kann nur hoffen, dass man was aus der Vergangenheit gelernt hat, wobei diese Hoffnung momentan bei mir nicht so groß ist."
Seit sechs Jahrzehnten startet die Menschheit Satelliten ins All. Sie haben Wettervorhersagen stark verbessert. Jedes Smartphone kann heute dank Satelliten den Weg finden. Auch der internationale Bankenhandel wäre ohne hochgenaue Zeitgeber im All undenkbar. Eine Rüstungsspirale dort oben birgt erhebliche Risiken.
Der Genfer See schimmert in der Mittagssonne. Es ist Mitte September; vor gerade einmal zwei Monaten ist Frankreich in die Weltraumrüstung eingestiegen. Ich spreche Daniel Porras auf eine wissenschaftliche Arbeit an, über die ich ursprünglich auf ihn aufmerksam geworden bin. Darin entwirft er eine Vision vom Welterbe im Weltraum, zum Nutzen der Menschheit. 13 Jahre ist der Aufsatz mittlerweile alt. Glaubt Porras noch an das, was er damals geschrieben hat?
"Meine Position zu vielen dieser Ideen hat sich sicherlich weiterentwickelt. Die Idee eines gemeinsamen Erbes im All gibt es aber zumindest in dem Sinne noch, dass das All ein gemeinsamer Raum ist. Der Weltraum ist da, um von allen genutzt zu werden. Aus diesem Grund ergibt sich aber auch etwas, was wir die Tragödie des Allgemeinguts nennen: Leute fangen mit Dingen an, die es allen zusammen erschweren, dort oben noch zu operieren."
"Es wird langsam voll da oben"
Die Tragödie des Allgemeinguts geht auf den britischen Ökonomen William Forster Llyod zurück: ein Dilemma, denn der Vorteil von Einzelnen steht im Widerspruch zum langfristigen Ziel der ganzen Gesellschaft.
"Bestimmte Länder, die nun schon etliche Jahre im Weltraum aktiv sind, sagen jetzt: Es wird langsam voll da oben, es gibt viel zu viel Verkehr. Und sie haben Angst davor, dass neue Akteure es noch schwerer machen werden, die Dinge zu tun, die sie selbst schon lange tun. Der erdnahe Weltraum als Allgemeingut ist zunehmend verstopft. Ich halte mich von dieser Schlussfolgerung aber eigentlich lieber fern, weil ich glaube, dass der größte Teil des Problems darin besteht, dass wir keine Regeln haben, um das meiste aus dem All herauszuholen."
Die Zahl von aktuell 2000 aktiven Satelliten im Erdorbit dürfte sich in den nächsten Jahren verzehnfachen. Megakonstellationen sind in Planung, vermutlich zehntausende neue Kommunikationssatelliten. Schon für all diese zivilen Satelliten sind allgemein anerkannte Regeln dringend gefragt. Doch mit militärischen Ambitionen verkomplizieren sich die Verhandlungen.
"Ich denke, allein dadurch, dass wir genauer wissen und es öffentlich machen, welche Objekte dort oben kreisen, können wir einige Grundregeln darüber etablieren, was gutes Verhalten im All bedeutet."
"Wir könnten über Sicherheitszonen nachdenken, bei denen wir sagen: Niemand darf näher als 50 Kilometer an meinen Satelliten heranfliegen. Und wenn er es doch tut, werde ich davon ausgehen, dass er etwas Falsches tut."
Besonders fatal für die Raumfahrt sind die testweise abgeschossenen Satelliten. Auch hier liegt ein Vorschlag auf dem Tisch.
"Letztes Jahr hat das Institut für Abrüstungsforschung eine Studie mit Empfehlungen herausgegeben. Drei Punkte sollten berücksichtigt werden, die sich in fünf Worten wiedergeben lassen: keine Trümmer, wenige Trümmer und Bekanntmachung."
So lange keine Regeln gelten, geht das Säbelrasseln weiter
Wer Waffen im All testet, sollte keinen neuen Weltraumschrott erzeugen. Wenn doch, soll er das wenigstens in geringer Höhe tun, wo der Müll bald wieder verglüht. In jedem Fall soll er alle Akteure vor einem Test informieren.
Es wäre ein erster zaghafter Schritt nach vorn: Zumindest Regeln für Waffentests festzulegen, die den Rest der Raumfahrttreibenden möglichst wenig beeinträchtigen. Der Widerstand dagegen kommt derzeit vor allem noch aus einer Richtung.
Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 21. Oktober 2019 zur Abwendung eines Wettrüstens im Weltraum. Zustimmungen: 175 Staaten. Ablehnungen: 2, Israel und die Vereinigten Staaten. Enthaltungen: Keine.
So lange im All keine Regeln gelten, geht das Säbelrasseln weiter. Und die Verantwortlichen können währenddessen ihre eigene Verantwortung abstreiten.
"Indien war immer gegen ein Wettrüsten im All – und wir ändern diese Politik nicht."
"Aktive Verteidigung ist keine offensive Strategie, sondern Selbstverteidigung."
"Das ist exakt meine Befürchtung, dass wir eine reagierende Spezies sind. Wir ergreifen eine Handlung erst, wenn es absolut notwendig ist und die Furcht uns dahin zwingt. Und ich habe Angst davor, dass dieses Ereignis, das uns letztlich aktiv werden, mit Weltraumschrott und einem Astronauten zu tun haben wird. Etwas könnte der Internationalen Raumstation zustoßen. Oder stellen Sie sich vor, es wäre ein touristisches Raumschiff in einem niedrigen Orbit – und ein Tourist kommt darin ums Leben. Das wäre eine solch prominente Tragödie, die Leute endlich zum Handeln bringt."