Die Staats- und Regierungschefs der 28 Nato-Staaten kommen heute in Warschau zusammen. Auf dem Gipfeltreffen sollen unter anderem weitere Abschreckungsmaßnahmen beschlossen werden, die Russland von einem Angriff auf die baltischen Staaten und Polen abhalten sollen. Die Nato will hierfür sogenannte multinationale Kampftruppen mit insgesamt 4000 Soldaten nach Polen, Estland, Litauen und Lettland verlegen.
Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, bezweifelte, dass diese Maßnahme tatsächlich mehr Sicherheit schafft für die osteuropäischen Staaten, die sich von Russland bedroht fühlen. Vielmehr befänden sich die Nato und Russland bereits in einer schwer aufzuhaltenden Aufrüstungsspirale. "Da ist die Politik gefordert", sagte Erler im DLF. "Was wir jetzt bräuchten, ist eine Art Stoppsignal." Gespräche mit Russland fänden allerdings nicht ausreichend statt, kritisierte Erler.
Das Interview in voller Länge:
Doris Simon: In Warschau treffen sich ab heute die Staats- und Regierungschefs der NATO zum Gipfel. Das ist ein symbolträchtiger Ort, denn in Warschau wurde 1955 der Warschauer Pakt, damals das Bündnis der Sowjetunion mit ihren Satelliten gegründet.
Gernot Erler, der Staatssekretär im Außenministerium und Russland-Beauftragte der Bundesregierung, hat schon mitgehört. Guten Morgen, Herr Erler!
Gernot Erler: Guten Morgen, Frau Simon. Staatsminister bin ich nicht mehr; der bin ich gewesen.
Simon: Richtig! Aber der Russland-Beauftragte der Bundesregierung. Das ist mir jetzt durchgegangen.
Erler: Ja.
Simon: 4000 rotierende Soldaten - das hätte ich ein bisschen ausführlicher mit Annette Riedel besprochen - sollen an der Grenze zu Russland stationiert werden. Balten und Polen finden das viel zu wenig, Symbolpolitik. Andere auch in Deutschland, die halten die 4.000, die da kommen, eine multinationale Truppe, die rotieren soll, für eine unnötige Provokation Moskaus. Nichts Halbes, nichts Ganzes, was die NATO da macht?
"Dann befinden wir uns munter drin in einer schwer aufhaltbaren Aufrüstungsspirale"
Erler: Das ist ein Versuch, eine symbolische Stationierung vorzunehmen, denn es handelt sich um jeweils tausend Soldaten. Das ist eigentlich eher nichts, was eine besondere Bedrohung auslösen sollte. Es soll aber als Rückversicherung wirken, dass die baltischen Staaten und Polen wissen: Wenn wir tatsächlich angegriffen werden, dann ist das ein Angriff auch gleichzeitig auf das westliche Bündnis, und dann wird das westliche Bündnis reagieren. Das Problem ist bloß: Die Reaktion ist schon angekündigt von der russischen Seite, und zwar hat schon der russische NATO-Botschafter Gruschko gesagt, eine andere als militärische Reaktion werden wir nicht machen können. Das heißt, es wird eine weitere Aufrüstung direkt an den Grenzen geben, und dann ist die Frage, ob dann nicht die nächsten Forderungen nachkommen, wie sich das jetzt schon andeutet, diese ganzen Kontingente weiter zu erhöhen, und dann befinden wir uns munter drin in einer schwer aufhaltbaren Aufrüstungsspirale.
Simon: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Erler, dann sagen Sie doch, dann sollten wir noch nicht mal was Symbolisches machen, weil ist ja ganz klar, die Russen werden protestieren, das können wir nicht wollen, dann wird der Dialog gestört. Das heißt, dann machen wir gar nichts mehr?
"Wir bräuchten eine Art Stoppsignal"
Erler: Nein. Ich frage mich, was diese Verbindung von Abschreckung und Dialog, die die Bundeskanzlerin gestern auch im Deutschen Bundestag angesprochen hat, eigentlich bedeuten soll. Denn was wir jetzt eigentlich bräuchten, wäre eine Art Stoppsignal, eine vereinbarte Beendigung von dieser Aufrüstungsspirale, und das ist natürlich nur in Gesprächen möglich zu erreichen. Aber die finden gar nicht ausreichend statt. Der NATO-Russland-Rat hat fast zwei Jahre gar nicht getagt, hat dann zum ersten Mal wieder am 20. April zusammengefunden, wo Statements der Botschafter abgegeben wurden. Am nächsten Mittwoch trifft er sich wieder. Aber was steht denn da eigentlich auf dem Programm? Werden wir da deutlich machen, dass wir jetzt dringend ein Bedürfnis daran haben, mit Russland auch auf anderen politischen Ebenen zu reden, um ein solches Stoppsignal zu senden und zu sagen, so geht es nicht weiter, denn wir haben auch noch andere Ebenen, wo es gefährlich zugeht, bei den Übungen, bei den Manövern und auch im Alltag mit den Überflügen von Kampfflugzeugen in der Luft und den Beinahe-Zusammenstößen, die wir schon mehrfach jetzt hatten.
Simon: Ja das sind Probleme, die die NATO mit Russland hat. Sie selber sprechen von einem Stoppsignal. Reden ist gut, das hat man ja auch lange gemacht. Aber muss nach der Ukraine-Krise jetzt nicht auch mal ganz deutlich ein Signal gesetzt werden, und wenn es auch nur symbolisch ist?
"Es gibt eine gefährliche Entwicklung, die so nicht weitergehen kann"
Erler: Ich meine, die Versuche, aus dem Ukraine-Konflikt herauszukommen, sind ja zum Glück politischer Natur. Es war auch Deutschland, was sich dafür eingesetzt hat, eine Festlegung zu machen, dass wir nur eine politische Lösung für diesen Konflikt sehen, und Deutschland hat sehr viel investiert. Die OSZE spielt hier eine wichtige Rolle und das Normandie-Format. Darauf haben wir uns verständigt. Was natürlich die Frage nicht löst, wie man diese Rückversicherungen an die sich bedroht fühlenden Staaten machen kann. Aber wenn das diese Folgen hat, die ich eben gesagt habe, dann ist ja die Frage, ob man eigentlich, wenn man weiter fortschreitet auf diesem Weg, mehr Sicherheit oder weniger Sicherheit schafft. Deswegen müssen wir jetzt konkretisieren, was eigentlich Dialog heißt und was wir uns eigentlich erwarten von diesem Dialog, und müssen, glaube ich, auch deutlich machen - und das hat der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier getan -, dass es hier eine gefährliche Entwicklung gibt, die so nicht weitergehen kann. Sigmar Gabriel hat gesagt, wir brauchen eine neue Abrüstungsinitiative. Ich kann da nur zustimmen.
Simon: Aber das Engagement Deutschlands in allen Ehren. In der Ukraine-Krise ist man ja in der Sache nicht viel weiter gekommen. Und halten Sie es wirklich für sinnvoll, wenn vor so einem Gipfel, wo einige Länder wirklich die Angst haben, seit zwei Jahren Beistand brauchen, wenn dann der Außenminister sagt, Säbelrasseln zu dem, was die NATO plant?
"Es muss jetzt mal auf der politischen Seite etwas gemacht werden"
Erler: Das bezog sich ja auf ganz bestimmte Manöver, die durchgeführt wurden. Ich meine, es ist wirklich so, dass beide Seiten, was zum Beispiel Manöver angeht, immer mehr machen und immer größere Übungen veranstalten. Die russische Seite etwa im letzten Jahr eine mit 95.000 Mann Beteiligung. Aber wir haben zum Beispiel auch eine NATO-Manöverserie, die "Saber Strike", also Säbelschlag heißt, die noch 2012 mit 2.000 Mann auskam. In diesem Jahr üben dort 10.000 Mann und auch mit einer entsprechenden verbalen Begleitmusik. Das sind Dinge, die einem schon Sorgen machen, und ich meine, da zeigt sich, dass wechselseitig das sich hier das aufschaukelt, auch wenn natürlich die Zahlen, sage ich mal, zwischen dem, was Russland da bewegt und was der Westen macht, nicht vergleichbar sind. Aber trotzdem ist das eine offenbar nicht zu stoppende Aufwärtsbewegung und da ist Politik gefordert. Da müssen wir sagen, hier muss jetzt mal auf der politischen Seite etwas gemacht werden im Sinne eines Aufhaltens dieser reflexartigen unkontrollierten Eskalationsentwicklung.
Simon: Reflexartig und unkontrolliert, sagen Sie. Andere sagen, Russland versteht hier nur eine ganz klare Sprache und deswegen müssen wir bei unseren Manövern, zu denen übrigens immer auch russische Militärbeobachter eingeladen sind - das ist auf der anderen Seite nicht so -, müssen wir hier auch sagen, dass man mit uns nicht alles machen kann und aus dieser Position heraus verhandeln. Was spricht dagegen?
"Objektiv sind die Maßnahmen jetzt außer Kontrolle geraten"
Erler: Nein! Das ist selbstverständlich, was Sie sagen. Aber wissen Sie, wenn man jetzt objektiv die Entwicklung betrachtet, dann begründet jede Seite das, was man selber tut, mit dem, was der andere vorher getan hat. Wir reagieren nur. Das ist die Sprache, die ich in Russland höre. Das ist die Sprache aber auch, die wir im Westen hören. Der NATO-Generalsekretär hat gesagt, wir reagieren nur auf das andere, was Russland macht, und hat gesagt, eine Reaktion darauf, was wir jetzt machen, wäre völlig unbegründet. Bloß die kommt trotzdem und insofern haben wir objektiv hier einen Prozess, wo es gar nicht mehr Sinn macht zu fragen, was ist denn eigentlich der Hintergrund dieser Maßnahmen, sondern objektiv sind die Maßnahmen jetzt außer Kontrolle geraten und ich befürchte, dass zumindest mal auf dem NATO-Gipfel hier ein sichtbares Signal, dass es so nicht weitergehen kann, nicht kommt. Dann muss es eben von der Politik an anderen Stellen kommen.
Simon: Aber, Herr Erler, in diesem Zusammenhang: Gibt Ihnen das nicht zu denken, dass Staaten wie Schweden und Finnland, die sich jahrzehntelang in den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges fern gehalten haben von der NATO, aus unterschiedlichen Gründen, dass diese Staaten jetzt in den letzten Monaten ganz massiv die Nähe der NATO gesucht haben, weil es so große Unsicherheit gibt, jetzt auch ein Abkommen geschlossen haben, das die Stationierung erlaubt?
"Es darf dabei keine Rüstungsspirale entstehen"
Erler: Ja, dafür habe ich großes Verständnis, und ich glaube, wir alle haben es wahrscheinlich nicht so leicht, uns in die Lage zu versetzen von baltischen Staaten - ich nenne mal jetzt namentlich Estland und Lettland, die zum Beispiel der eine 25, der andere 27 Prozent russischsprachige Bevölkerung hat -, eine verheerende Wirkung, die ausgegangen ist von der Art und Weise, wie Russland die Krim annektiert hat, mit dem Referendum, mit dem verdeckten militärischen Einsatz und mit all diesen Maßnahmen innerhalb von fünf Tagen diese Annexion durchgeführt. Dass diese Länder hoch besorgt sind, das ist wahrscheinlich von uns gar nicht so leicht nachzuvollziehen, weil wir in einer weitaus besseren Lage sind. Und deswegen ist Solidarität und Unterstützung alles hier richtig und auch das, was wir mit Reassurance, dieser Rückversicherung angehen, dass wir glaubwürdig machen, dass die NATO hier bereitsteht, dann ihre Garantien auch wirklich umzusetzen. Das ist alles notwendig. Aber objektiv darf dabei keine Rüstungsspirale entstehen, die aus den Fugen gerät und die im Grunde genommen einer politischen Rationalität nicht mehr folgt.
Simon: Aber selbst dieses Einstehen für Bündnispartner, von dem wir ja im Westen der Bundesrepublik sehr lange profitiert haben, das ist ja in Deutschland anscheinend nicht mehr selbstverständlich. Nach einer Umfrage von der Deutschen Presseagentur unterstützt nicht mal jeder zehnte Deutsche, dass deutsche Soldaten dabei sind in dem multinationalen neuen Bataillon für Polen und die baltischen Staaten. Dass man für Bündnispartner einsteht, das ist nur dann mehrheitsfähig, wenn wir geschützt werden?
"Die offizielle Politik kämpft um eine politische Lösung"
Erler: Das ist natürlich klar, dass unsere Bündnispartner auch solche Umfragen lesen. Es gibt auch eine Umfrage, die sagt, dass 67 Prozent der Deutschen gegen eine dauerhafte NATO-Präsenz in Osteuropa ist und dass 88 Prozent sagen, wir müssen unbedingt uns um einen Dialog mit Russland bemühen. Aber zum Glück gibt es ja auch eine offizielle Politik und die offizielle Politik kämpft darum, die deutsche, eine politische Lösung für die Ukraine-Krise zu finden. Die ist einverstanden gewesen und hat das unterstützt, dass diese Rückversicherungsmaßnahmen mit schneller Eingreiftruppe und jetzt auch diesem Bataillon gemacht werden, und die betont natürlich immer wieder, dass die Bündnisgarantie steht, dass wir an dieser nicht rütteln und dass man sich auf die verlassen kann. Das ist die offizielle Politik und die gilt und nichts anderes, keine Umfragen.
Simon: Gernot Erler war das, der Russland-Beauftragte der Bundesregierung (SPD), zu den Beschlüssen, die heute auf dem NATO-Gipfel in Sachen Abschreckung gegenüber Russland getroffen werden. Herr Erler, vielen Dank für das Gespräch.
Erler: Sehr gerne.
Simon: Auf Wiederhören!
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