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Aufschrei gegen Kindesmissbrauch
Türkisch, Teenager und schwanger

Laut Oppositionspartei CHP soll der sexuelle Missbrauch an Kindern in der Türkei um 700 Prozent in den vergangenen zehn Jahren zugenommen haben. Ohne mutige Zeuginnen wie Icla Nergiz würden die meisten Fälle nicht bekannt. Sie hat Alarm geschlagen, nachdem allein in einem Krankenhaus innerhalb von fünf Monaten 115 minderjährige Mädchen entbunden hatten.

Von Gunnar Köhne |
    Eine türkische Flagge schwebt am 20.05.2017 beim Drachen-Festival in Istanbul
    Staatspräsident Erdogan drohte sogar schon mit Zwangskastration (Can Merey/dpa)
    Das städtische Krankenhaus im Istanbuler Vorort Kücükcekmece ist ein schmuckloser brauner Kasten mit in die Fassade eingelassenen verspiegelten Fensterreihen. Icla Nergiz hat dort bis Anfang des Jahres als Sozialarbeiterin gearbeitet. Inzwischen darf sie das Gebäude nicht mehr betreten: die Klinikleitung hat ihr ein Hausverbot erteilt und sie zwangsversetzt. Der Grund: Nergiz hat einen der größten Sozialskandale in der Türkei öffentlich gemacht. Im vergangenen Jahr hätten allein in der Geburtsstation dieses Krankenhauses hunderte minderjährige Mädchen entbunden:
    "In nur fünf Monaten kamen rund 300 Minderjährige in unsere Geburtsstation. 115 von ihnen wurden den Behörden nicht gemeldet, obwohl das Gesetz dies vorschreibt. Zwei Monate lang bin ich immer wieder zu der Klinikleitung gegangen und habe sie darauf hingewiesen, dass diese Fälle den Behörden gemeldet werden müssten. Aber die Chefin hat mich jedes Mal aus ihrem Büro geworfen und ich wurde gemobbt."
    Schwangerschaften von Minderjährigen müssen in der Türkei eigentlich von Staats wegen untersucht werden. In diesem Fall nahm die Istanbuler Staatsanwaltschaft aber erst Ermittlungen auf, nachdem Nergiz eine Liste mit 115 minderjährigen Wöchnerinnen der Presse übergeben hatte - die jüngste war gerade einmal 14 Jahre alt. Nun soll untersucht werden, ob die Mädchen missbraucht oder illegal verheiratet worden sind.
    Tatorte sind häufig Schulen und religiöse Internate
    Wieder und wieder machen Missbrauchsfälle in der Türkei Schlagzeilen. Tatorte sind häufig Schulen und religiöse Internate. Die größte Oppositionspartei CHP spricht gar von einer 700prozentigen Zunahme von Kindesmissbrauch in den vergangenen zehn Jahren. Die Regierung bestreitet das und spricht, im Gegenteil, von einem Rückgang der Missbrauchsanzeigen.
    Dennoch steht sie in der Öffentlichkeit unter Druck und hat verschärfte Strafen gegen Pädophile und Vergewaltiger angekündigt. Staatspräsident Erdogan drohte sogar mit Zwangskastration.
    "Unsere Kinder wurde in letzter Zeit Opfer niedrigster Übergriffe. Das darf nicht ungesühnt bleiben. So etwas zerstört die Grundlagen dieser Gesellschaft und muss mit den härtesten Strafen beantwortet werden, die möglich sind."
    Doch als Anfang des Jahres die Staatliche Religionsbehörde DIYANET in einem Interneteintrag schrieb, aus theologischer Sicht könnten auch neunjährige Mädchen schon verheiratet werden, kamen vielen Türken Zweifel am Willen der Regierung gegen Kindesmissbrauch und Kinderehen vorzugehen. Der umstrittene Artikel wurde nach Protesten wieder gelöscht.
    Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
    Icla Nergiz weiß zu gut, dass in der Türkei dennoch viele so denken. Dass sie die Teenagerschwangerschaften öffentlich gemacht hat, bereut sie nicht:
    "Ich weiß, dass der Gesundheitsminister nach meiner Veröffentlichung die Krankenhäuser aufgefordert hat, stärker auf Schwangerschaften von Mädchen unter 18 Jahren zu achten. Das heißt doch, dass es offensichtlich ein Problem gibt, das sie nicht mehr ignorieren können. Warum sollte ich also etwas bereuen?"
    Nicht wegsehen, wenn Kinder missbraucht oder zwangsverheiratet werden. Mit dieser Botschaft tritt Nergiz im ganzen Land auf Veranstaltungen auf, wie bei dieser Tagung angehender Krankenschwester und Sozialarbeiterinnen in Istanbul. Die zierliche 35jährige erklärt ihnen die Rechtslage und gibt Ratschläge, wie sie den Opfern helfen können. Unter den Zuhörerinnen machen einige die rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge für die vielen Teenagerschwangerschaften verantwortlich.
    Auch Nergiz hatte an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz viele Flüchtlingsmädchen getroffen - aber ebenso hoch sei der Anteil von Türkinnen gewesen. Überhaupt sei der Kampf gegen Kindesmissbrauch in der Türkei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die sie weiter Mitstreiterinnen suchen will:
    "Wenn auch nur eine von hundert hinterher sagt, dass sie sich dagegen wehren will, dann wäre das großartig. Ein einziger Mensch kann doch schon so viel verändern!"