Lindner: "Ich muss mal eben ein Foto von Ihnen machen."
Christian Lindner auf Wahlkampftour. Der Saal ist voll. Das Publikum auf seine Seite zu bringen, für den FDP-Chef in diesen Tagen so leicht wie lange nicht. Wäre am Sonntag Bundestagswahl, könnte seine Partei mit rund sechs Prozent ihr Dasein als außerparlamentarische Opposition beenden. Und auch in den drei Bundesländern, in denen am Sonntag gewählt wird, sieht es gut aus für die Liberalen. Laut Umfragen: Sieben Prozent in Baden-Württemberg, sechs in Rheinland-Pfalz, und sogar in Sachsen-Anhalt könnte der Sprung zurück in den Landtag gelingen.
Das Comeback der FDP als "Alternative für Demokraten", wie der baden-württembergische Landesvorsitzende Michael Theurer seine Partei anpreist?
Eine solche Alternative hätte die liberale Partei schon vor Jahren sein können, ist Frank Schäffler überzeugt. Bis zur Bundestagswahl 2013 saß er für die FDP im Bundestag. Bis zum letzten Tag kämpfte er gegen die Euro-Rettungspolitik der schwarz-gelben Bundesregierung. Heute sagt er über die letzten Monate der Liberalen im Bundestag:
"Wir haben die Europolitik eigentlich überhaupt nicht beeinflusst. Wir waren eigentlich immer außen vor. Der Finanzminister und die Kanzlerin, die haben die Europolitik in dieser Phase alleine bestimmt. Wir waren immer nur Erfüllungsgehilfen des großen Koalitionspartners."
"Wir hätten Wähler ansprechen können, die sich abgewandt hatten"
Schäffler schaut aus seinem Arbeitszimmer hinaus auf einen Berliner Hinterhof. Schön grün im Sommer, sagt er. Der 47-Jährige hat mit einem Partner einen Thinktank gegründet. "Prometheus - Das Freiheitsinstitut". Als er über die letzte Zeit im Bundestag erzählt, hält er manchmal inne und lächelt still in sich hinein. Er wurde zum Euro-Rebellen gekürt und zwang seine Partei zu einem Mitgliederentscheid zum Euro-Rettungskurs. Schäffler scheiterte:
"Die FDP ist und bleibt eine Partei klar ausgerichtet pro-europäisch mit der notwendigen ordnungspolitischen Vernunft," verkündete der damalige Parteivorsitzende Philipp Rösler Ende 2011. Damit habe die FDP ihren Untergang beschleunigt, analysiert Schäffler:
"Wir waren auch damals in den Umfragen schon ganz schlecht, und wir hatten keine Erfolge. Und das haben die Menschen gespürt. Da hätten wir, glaube ich, auch Wähler und Bürger ansprechen können, die sich zu diesem Zeitpunkt abgewandt haben von der FDP oder dabei waren, sich abzuwenden von der FDP."
Und sich nun einer neuen Partei zuwandten.
Aus einem Wahlwerbespot AfD von 2013: "Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum unser ganzes Geld nach Griechenland geht und nicht in unsere kaputten Straßen und Brücken?"
Mit 4,7 Prozent verpasste die neugegründete Alternative für Deutschland nur knapp den Einzug in den Bundestag. Etwa 430.000 Stimmen kamen damals von ehemaligen FDP-Wählern.
Heute profiliert sich die AfD mit dem Thema Flüchtlinge. Das Gründungsthema Euro: mit Ex-Chef Lucke in der Versenkung verschwunden. Aber damals, 2012/2013, sagt Schäffler, "da war ja der Euro und die Schuldenkrise in Europa das vorherrschende Thema. Und da bin ich sicher, hätte es die AfD in dieser Form nicht gegeben."
Hätte die FDP den Wählern als Alternative ausgereicht? Für Rainer Brüderle, den damaligen Fraktionsvorsitzenden, ist das Kaffeesatzleserei. Hätte die FDP gegen Angela Merkels Euro-Rettungskurs gestimmt, "das hätte auch Konsequenzen haben können bis hin zum Scheitern der Regierung, bis hin zum Auseinanderbrechen der Koalition."
Keine Abkehr von Europa, sondern eine Variation
Die Parteiführung habe einen alternativen Kurs nicht in Erwägung gezogen, erzählt der frühere Wirtschaftsminister. Auch er selbst hat für die Euro-Rettung geworben, denn mehr noch als ein wirtschaftliches Instrument ist der Euro für ihn ein politisches. Diskutiert hat er über den andern Weg schon. In der Partei und privat. Mit Freunden. Einer davon ist Wolfgang Gibowski. Mitbegründer der Forschungsgruppe Wahlen, früher Vize-Regierungssprecher. Er hat Brüderle - und hätte der FDP zur Kurskorrektur geraten:
"Um auch die Menschen abzuholen, die ein Problem sehen und nicht mit der manchmal naiv-romantischen Europabegeisterung übereinstimmen, die wir manchmal hier unter den deutschen politischen Eliten vorfinden."
Mit dem Schäffler-Kurs wäre die FDP wahrscheinlich nicht gut gefahren, schätzt Gibowski, denn letztlich profitiert die deutsche Wirtschaft vom Euro. Aber bis heute ist er überzeugt, dass es für die Liberale Partei eine Chance gewesen wäre, "den Wählern damals anzubieten, dass die FDP hier vielleicht nicht so streng an den vorgegeben Kurs der Vertiefung, der Zentralisierung, der Harmonisierung festhält, sondern hier Alternativen sieht."
Damit sei keine Abkehr von Europa gemeint, eher eine Variation. Für eine Debatte darüber sei damals aber keine Zeit gewesen, der Partei stand das Wasser bis zum Hals.
"Wenn wir jetzt mal beim Kaffeesatzlesen sind…" - hätte die FDP damals ernsthaft an einem alternativen Vorschlag für die Europäische Union gearbeitet - "das wäre bei dem knappen Ausgang der Bundestagswahl schon eine Chance gewesen, vielleicht eben doch über die Fünf-Prozenthürde zu kommen."
Mit rund 18 Monaten Vorlauf bis zur Bundestagswahl - könnte die FDP dieses Mal damit punkten? Denn es gibt sie ja, die potenziellen Wähler: pro-europäisch, aber unzufrieden mit der derzeitigen Entwicklung.
"Es geht ja immer darum, nicht nur dass ein Thema vorhanden ist, sondern dass es auch wichtig wird, bevor es wahlrelevant wird für den einzelnen Wähler, das ist im Moment, was Europa angeht, nicht der Fall."
Das Thema Flüchtlinge überlagere derzeit alles, sagt der Politikwissenschaftler.
"Aber es ist zum Beispiel klar zu erkennen bei den Anhängern der AfD in den Umfragen, dass für die das Thema Europa nach wie vor eine wichtige Dimension ist, an zweiter Stelle nach dem Flüchtlingsthema. Während bei den Anhängern der anderen Parteien eigentlich außer dem Flüchtlingsthema nicht mehr so arg viel vorhanden ist."
Das müsse aber nicht immer so bleiben:
"Hier schlummert ein Thema im Wartestand. Und die Frage ist, welche Partei das aufgreift."