"Das ist natürlich das erste Stück Musiktheater der Aufklärung. Und warum heißt das Aufklärung, für mich weil auf einem Male individuelle Gefühle eine Rolle spielten."
Der Niederländer Johan Simons hat in der zweiten Spielzeit seines Dreijahresturnus als Intendant der Ruhrtriennale "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" an die alten Zechen und Fabrikhallen plakatieren lassen. Es geht um den großen demokratischen Aufbruch, ausgerechnet in diesem Jahr, in dem freiheitliche Werte überall so massiv attackiert werden wie seit langem nicht mehr.
Musik: Gluck, Alceste
Den programmatischen Auftakt hat Johan Simons in einer Oper von 1767 gefunden: der "Alceste" von Christoph Willibald Gluck. In der Jahrhunderthalle in Bochum, wo einmal Stahl produziert worden ist, erklingt die erste, italienische Fassung des Werks. Am Pult des jungen B'Rock Orchestra steht René Jacobs, ein Fachmann für die Musik des 18. Jahrhunderts. Es singt der Chor MusicAeterna, der im sibirischen Perm zum inzwischen weltbekannten Projekt des Dirigenten Teodor Currentzis gehört.
Packende Wiederentdeckung
Aufrüttelnd direkt, plastisch, farbig und ausdrucksstark lassen diese Ensembles unter der Leitung von René Jacobs die Musik von Gluck erklingen. Mit den ersten Takten wird klar: dieses Werk ist eine packende Wiederentdeckung. Die Faszination hält über einen dreieinhalbstündigen Abend, an dem sich so gut wie nichts ereignet: außer einem großen Seelendrama. Für Johan Simons der Beginn einer neuen Zeitrechnung: Ein Mensch, eine Frau, tritt aus allen Bindungen heraus und wagt eine freie Entscheidung.
"Es gibt zwei große Szenen in diesem Stück, die viel zu tun haben mit sich frei kämpfen einfach, eigene Wahl machen - mit seinen eigenen Gefühlen, sein eigenes Herz ist am wichtigsten."
Musik: Gluck, Alceste
Die Oper "Alceste" beruht auf einem Drama von Euripides. Es ist die Geschichte einer Frau, die den Tod wählt, um dadurch das Leben ihres Mannes zu retten. Es geht einzig und allein um die Auslotung all der widersprüchlichen Gefühle, die diese ungeheuerliche Entscheidung auslöst: Liebe und Zärtlichkeit, Mitleid und Mut, Angst und Verzweiflung erfährt Alceste in all ihren Facetten und Durchmischungen. Die norwegische Sopranistin Birgitte Christensen verwandelt sich mit beängstigender Konsequenz in diese Frau auf Messers Schneide: Ihr dunkel timbrierter Sopran und ihre furiose schauspielerische Identifikationskraft lassen keine Seelenwindung unerforscht.
Persönliche Sicht im Dienst der Musik
Johan Simons Regie stellt sich ganz in den Dienst von Gluck. Farbiges Licht und vor allem die Führung der Figuren im Raum auf der riesigen, wohl an die 20 Meter tiefen Spielfläche in der leeren Halle verdeutlichen den emotionalen Ausdruck der Musik. Und am Ende merkt man, dass der Regisseur doch eine ganz persönliche Sicht auf diese Geschichte vermittelt hat: Die autonome, absolute Entscheidung kann die falsche sein, weil sie unmenschlich ist, weil sie die soziale Welt zerstört - Dialektik der Aufklärung.
Musik: Gluck, Alceste
Auf der Zeche Zollverein machen sich am nächsten Abend des Eröffnungswochenendes die Insassen des Fegefeuers auf den Weg ins Paradies. Der amerikanische Choreograf Richard Siegal zeigt dort den zweiten Teil seiner Auseinandersetzung mit Dantes "Göttlicher Komödie".
Hölle als Tanzspektakel
Das Purgatorium ist in Siegals Tanzperformance ein aus der Zeit gefallenes Restaurant. Das beflissene Personal hat auch noch einiges andere zu tun außer dem Service: Einer fühlt sich gezwungen, in endlosen Wiederholungen einen Klumpen Ton auf den Boden zu schmettern, zwei weitere bewegen sich zuckend und automatenhaft, als kämen sie aus der Hölle der Maschinenmenschen, die Siegal bei der letzten Ruhrtriennale als Dantes Inferno präsentiert hat. Nicht immer erschließen sich Deutungsmöglichkeiten für Siegals Bilder, zu denen auch Video, Lichtkunst und Projektion auf der Bühne gehören. Aber immer ist es faszinierend und unterhaltsam, den großartigen Tänzern zuzuschauen.
Ausschnitt "Urban Prayers Ruhr"
Das ist ein krasser Szenenwechsel: aus den Fabrikhallen der ersten Premieren unter die blau-golden strahlende Kuppel der Merkez-Moschee im Duisburger Stadtteil Marxloh. Dort steht eines der größten islamischen Gebetshäuser in Deutschland und auf dem dicken roten Teppichboden sitzt an diesem Sonntagnachmittag ein bunt gemischtes Publikum, das zu "Urban Prayers Ruhr" gekommen ist. So heißt das wohl ungewöhnlichste Projekt in dieser Festspielsaison der Ruhrtriennale. Es geht um das Thema Religion, also um das heißeste Eisen in den Debatten dieses Sommers. Der Autor Björn Bicker hat recherchiert bei unterschiedlichen Religionsgemeinschaften:
"Wenn ich durchs Ruhrgebiet laufe, treffe ich unendlich viele Religionen, Hindus, Buddhisten, Christen, Pfingstler, evangelikale Gemeinden, Adventisten, unglaublich viele muslimische. Gemeinden, die sind alle gleichzeitig hier, leben ihre Religion, das versuch ich den Leuten zu vermitteln, diese Vielfalt könnte auch schön sein."
Gotteshäuser als Konzertorte
Zwischen den einzelnen Kapiteln des Texts erklingen religiöse Lieder verschiedener Glaubensgemeinschaften. Das Ensemble Chorwerk Ruhr hat sie für das Projekt "Urban Prayers Ruhr" zusammengetragen und einstudiert. Nun wird die Ruhrtriennale an den nächsten Sonntagen in sechs Partnergemeinden zu Gast sein und das Stück aufführen. Dazu gehören neben einer evangelischen Kirche u.a. auch ein Sikh-Tempel, eine Synagoge und ein serbisch-orthodoxes Gotteshaus. Chorleiter Florian Helgath empfindet das schon fast als ein kleines Wunder.
"Man muss sich vorstellen, wenn man hier in der Moschee Palestrina singt, oder in einer Freikirche singt man ein tamilisches Stück, das ist eigentlich unglaublich."
Intendant Johan Simons, der sich nach "Urban Prayers Ruhr" keine 48 Stunden nach der "Alceste"-Premiere schon zum zweiten Mal als künstlerischer Leiter für begeisterten Applaus bedanken konnte, sah zufrieden aus. Er kann es sein, der Start dieser 15. Ausgabe der Ruhrtriennale ist gelungen.