Erdogan verfolge mit seinem Auftritt in Köln mehrere Interessen: Zunächst kämpfe er um die Stimmen der wahlberechtigten Türken in Deutschland, sagte Bülent Arslan, Vorsitzender des Deutsch-Türkischen Forums in der CDU NRW, im Deutschlandfunk. Nicht nur aus diesem Grund sei der Auftritt zu kritisieren. "Ich finde es falsch, dass wir aus deutscher Perspektive bislang versäumt haben, die hier lebenden Türkischstämmigen auch politisch stärker an Deutschland zu binden. Und diese Lücke nutzt Herr Erdogan jetzt aus." Ähnlich äußerte sich die SPD-Politikerin Lale Akgün im Deutschlandradio Kultur.
Trotz der vielen Proteste gegen Erdogan sei er nicht bei allen Türken unpopulär, sagte Arslan. "Man muss schon differenzieren: Er wird von etwa 50 Prozent der Türkischstämmigen in der Türkei - aber auch in Deutschland geliebt - und von etwa 50 Prozent quasi gehasst." Erdogan habe in seiner bisherigen Amtszeit einen "massiven wirtschaftlichen Wohlstand" geschaffen, für Bewohner von Slums Wohnungen gebaut. Auch die Türkischstämmigen in Deutschland "suchen natürlich nach Leitfiguren", sagte Arslan. "Und die haben diese Leitfiguren bisher nicht gefunden: Da haben sowohl die Migrantenverbände, aber auch die deutsche Politik etwas verpasst." Nötig seien "symbolische Gesten der Willkommenskultur", um "die Herzen dieser Menschen zu gewinnen".
Es sei fatal, dass "ein Ministerpräsident der Türkei so massiv unser Leben hier beeinflusst und diese Provokation, die man in der Türkei erlebt, dass die sozusagen eins zu eins auch hier rüberschwappt", sagte Arslan. In türkischen Kreisen in Deutschland gebe es nicht die nötige kritische Diskussion darüber. Das liege auch daran, dass keine ernsthaften Interessenverbände hierzulande aufgebaut worden seien - ein weiteres Versäumnis der deutschen Politik.
Das Interview mit Bülent Arslan in voller Länge:
Christine Heuer: Über den erwarteten Auftritt von Erdogan hier in Köln möchte ich mit Bülent Arslan sprechen, er ist Vorsitzender des Deutsch-Türkischen Forums in der nordrhein-westfälischen CDU. Guten Morgen, Herr Arslan!
Bülent Arslan: Guten Morgen, Frau Heuer!
Heuer: Gehen Sie heute in die Kölner Lanxess-Arena und hören Erdogan zu?
Arslan: Nein, ich gehe nicht hin, aber ich werde das natürlich aufmerksam beobachten, weil die Rede und der Auftritt schon ganz wichtige Auswirkungen auf das Zusammenleben von Deutschen und Türken in Deutschland haben wird.
Heuer: Wenn Sie nicht hingehen, finden Sie es vermutlich falsch, dass Herr Erdogan diesen Auftritt hat.
Arslan: Ich finde es falsch. Man muss jetzt natürlich sehen aus seiner Interessenslage her: Er befindet sich quasi im Wahlkampf und zielt ab auf die 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland. Ich finde es falsch, dass wir aus deutscher Perspektive bislang versäumt haben, die hier lebenden Türkischstämmigen auch politisch stärker an Deutschland zu binden, und diese Lücke nutzt Herr Erdogan jetzt aus.
Heuer: 30.000 wollen Erdogan in Köln hören, einen Politiker, der Demokratie und Menschenwürde mit Füßen tritt, der als korrupt gilt und als erbarmungslos mit den Opfern seiner Politik. Wieso, Herr Arslan – Sie haben die Sympathien der hier lebenden Türken für Erdogan angesprochen –, wieso ist ein solcher Politiker bei denen so populär?
"Geliebt oder gehasst"
Arslan: Ja, ich glaube, man muss schon differenzieren: Also er wird von etwa 50 Prozent der Türkischstämmigen in der Türkei, aber auch in Deutschland wird er geliebt, und von etwa 50 Prozent quasi gehasst. Und man muss sehen, er hat natürlich in den letzten zwölf Jahren einen massiven wirtschaftlichen Wohlstand für die Türkei gebracht, und diejenigen, die davon profitiert haben, die gehören zu denen, die ihn lieben. Man muss ein bisschen auch sehen: Wir haben hier gut reden: wenn Sie vor 20 Jahren in der Türkei unterwegs waren, da waren Menschen, die damals in Slums gelebt haben, und unter der Regierung Erdogan haben sie heute Wohnungen bekommen.
Heuer: Ja, aber wir sprechen über die 1,5 Millionen Wahlberechtigten, die in Deutschland leben und die jeden Tag erleben, was Demokratie bedeuten kann.
"Türkischstämmige in Deutschland suchen nach Leitfigur"
Arslan: Ganz genau, und bei den Türkischstämmigen in Deutschland ist das ein Stück anders: Sie suchen natürlich nach Leitfiguren, und sie haben bisher in Deutschland diese Leitfiguren nicht gefunden. Da haben sowohl die Migrantenverbände, aber insbesondere auch die deutsche Politik hat das verpasst. Und Erdogan füllt ganz klar diese Lücke aus. Und auch seine Vorgänger haben sich bislang um die Türkischstämmigen nicht gekümmert, und er macht das ganz dezidiert schon aber mit der Absicht, auch politisch davon zu profitieren. Man darf ja nicht vergessen: Kurzfristig geht es um die Wahl des Staatspräsidenten, nächstes Jahr stehen allerdings Parlamentswahlen in der Türkei an, und auch dafür ist das eine Investition von Erdogan.
Heuer: Ja, sein Interesse ist klar. Wenn Sie sagen, die deutsche Politik hat es versäumt, Leitfiguren zu beschreiben oder zu präsentieren, dann geben Sie ja uns tatsächlich eine Mitverantwortung für diese Popularität.
Arslan: Ihnen jetzt ...
Heuer: Nein, nein, nicht mir persönlich, aber der deutschen Politik.
"Symbolische Gesten" statt "eher problembehaftete Themen"
Arslan: Natürlich, natürlich! Also es ist ja so, dass wir, wenn Sie mal die letzten 40, 50 Jahre sich ansehen, lange Zeit wir uns gar nicht politisch mit diesem Thema und mit dieser Zielgruppe befasst haben. Das hat sich Mitte der 90er-Jahre verändert. Allerdings wird das sehr stark problematisierend getan. Also wenn man über Türkischstämmige in Deutschland redet, dann sind es in der Regel eher problembehaftete Themen, und wenn wir die Herzen dieser Menschen gewinnen wollen, dann geht das natürlich nicht so. Wir brauchen auch symbolische Gesten, Gesten der Willkommenskultur dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber, und das hat bislang die deutsche Politik versäumt. Das hat sich in den letzten Jahren ein Stück geändert, aber ich glaube, das reicht noch nicht aus.
Heuer: Gut. Jetzt haben wir die Situation, wie sie augenblicklich ist. Es werden viele Zuhörer erwartet, es werden fast genauso viele Demonstranten erwartet. Fürchten Sie Auseinandersetzungen heute in Köln?
Arslan: Das glaube ich persönlich nicht, aber es ist einfach auch fatal für die hier lebenden Türkischstämmigen, dass dieses Thema, ein Ministerpräsident der Türkei so massiv unser Leben hier beeinflusst und diese Provokation, die man in der Türkei erlebt, dass die sozusagen eins zu eins auch hier rüberschwappt. Das ist, glaube ich, ein ganz großes Problem, und ich bedaure, dass es auch in türkischstämmigen Kreisen keine kritische Diskussion darüber gibt.
Heuer: Wie hätte man das denn verhindern können?
Organisationen in Deutschland aufbauen
Arslan: Also ich glaube, zum einen wäre es wichtig gewesen, hier Organisationen aufzubauen, die sich viel stärker auf Deutschland richten. Wenn Sie mal die Selbstorganisation der Türkischstämmigen sehen, auch diejenige, die diese Veranstaltung heute organisiert – das sind zum größten Teil Organisationen, die aus der Türkei gesteuert werden. Und das muss einfach ein Ende haben. Das ist auch eine Verantwortung der Türkischstämmigen hier, aber da kann auf jeden Fall die Politik und der deutsche Staat auch positiv dazu beitragen. Das ist versäumt worden in den letzten Jahren.
Heuer: 2007 hat Erdogan die Parlamentswahlen in der Türkei gewonnen und der Westen war damals begeistert, dass ein so reformfreudiger und europafreundlicher Politiker weiterregieren konnte, Sie persönlich übrigens auch, Herr Arslan.
Arslan: Richtig.
Heuer: Wie sehr hat sich denn der türkische Ministerpräsident seit 2007 verändert?
"Erdogan heute unkontrollierbar"
Arslan: Er hat sich insbesondere in den letzten drei, vier Jahren massiv verändert. Er ist heute aus meiner Sicht unkontrollierbar, und das hat einfach mit dem Machtzuwachs zu tun. Er hatte zu der Zeit, in seinen ersten acht Jahren seiner Regierungszeit hatte er Gegenkräfte in der Türkei, und die haben ihn kontrolliert. Diese Gegenkräfte gibt es heute nicht mehr, und deswegen ist er heute unkontrollierbar. Er hat in seinem Umfeld aus meiner Sicht keine kritischen Stimmen mehr, und das führt dazu, dass er heute unberechenbar ist. Das ist natürlich aus Sicht einer Demokratie fatal.
Heuer: Ja, das ist die Frage: Ist er überhaupt noch ein Demokrat?
Arslan: Also Sie müssen ja sehen, er ist demokratisch gewählt worden. Auch bei den letzten Kommunalwahlen hat seine Partei 45 Prozent der Stimmen bekommen, und das waren demokratische Wahlen, und das zeigt, dass eben etwa die Hälfte der Menschen in der Türkei hinter ihm stehen. Insofern glaube ich, er ist demokratisch gewählt worden. Ob er ein Demokrat ist und bleibt, das wird sich zeigen. Insgesamt vertraue ich sehr stark auf die zivilgesellschaftlichen Strukturen in der Türkei. Es ist allerdings eine sehr wichtige Phase für die Türkei, übrigens auch für die europäische Perspektive der Türkei.
Heuer: Aber bei der Politik, die Erdogan macht und die wir seit Monaten beobachten können, kann man doch ein Urteil darüber abgeben, ob er heute noch eine demokratische Politik macht.
"Eher autokratische Züge"
Arslan: Tja, das ist natürlich schwierig zu beantworten. Ich glaube, dass gerade die letzten Initiativen, wo in Richtung Meinungsfreiheit, in Richtung Pressefreiheit massive Einschnitte vorgenommen wurden - die zeigen, dass er auf einem Weg ist, eher autokratische Züge anzunehmen. Ich würde aber nicht so weit gehen und sagen, dass die Demokratie heute in der Türkei in Gefahr ist. Aber ich glaube, nach dem Motto "Wehret den Anfängen", es wäre wichtig, dass die Türkischstämmigen, auch in Deutschland, diese Entwicklungen kritisch beobachten.
Heuer: Wird Erdogan im August türkischer Präsident?
Arslan: Auch das ist natürlich schwierig zu beantworten. Ich glaube, seine Anhängerschaft ist nach wie vor ganz, ganz stark. Es ist einfach verwunderlich, dass sehr viele, aus deutscher Perspektive eigentlich nicht haltbare Äußerungen nach wie vor auf wenig Kritik in der Türkei stoßen. Und insofern – wenn er heute zur Wahl stehen würde, meine ich, würde er die Wahl gewinnen. Das große Problem in der Türkei ist, dass es eben auch keine starken Gegenspieler gibt. Auch das, meine ich, kann sich eigentlich bis September nicht so schnell verändern. Allerdings könnte es sein, wenn er Staatspräsident wird und wenn dann der Ministerpräsident wechselt, dass die Lage sich verändert. Wenn Abdullah Gül dieses Amt bekommt, könnte es aus meiner Sicht sein, dass da auch wieder andere, reformerische Bewegungen stärker werden.
Heuer: Bülent Arslan, der Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Forums in der NRW-CDU. Herr Arslan, vielen Dank für das Gespräch!
Arslan: Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bülent Arslan, geboren am 17. Februar 1975 in Nevsehir (Türkei), ist Mitglied der CDU Nordrhein-Westfalen. Seit 1997 ist er Vorsitzender des Deutsch-Türkischen Forums der Landes-CDU. Arslan kam 1976 nach Deutschland und trat später im Alter von 21 Jahren in die CDU ein.
Festakt oder Wahlkampf?
Offiziell spricht der türkische Ministerpräsident bei einem Festakt zum Jubiläum der 2004 gegründeten Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Diese unterstützt Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP. Hinter Erdogans Rede wird jedoch schlichter Wahlkampf für die türkische Präsidentenwahl im August vermutet, weil die rund 1,5 Millionen türkischen Wähler in Deutschland zum ersten Mal in der Bundesrepublik ihre Stimme abgeben dürfen. Der 60 Jahre alte Ministerpräsident gilt als Favorit für die Wahl, auch wenn er seine Kandidatur noch nicht offiziell erklärt hat.
Offiziell spricht der türkische Ministerpräsident bei einem Festakt zum Jubiläum der 2004 gegründeten Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Diese unterstützt Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP. Hinter Erdogans Rede wird jedoch schlichter Wahlkampf für die türkische Präsidentenwahl im August vermutet, weil die rund 1,5 Millionen türkischen Wähler in Deutschland zum ersten Mal in der Bundesrepublik ihre Stimme abgeben dürfen. Der 60 Jahre alte Ministerpräsident gilt als Favorit für die Wahl, auch wenn er seine Kandidatur noch nicht offiziell erklärt hat.