Hartz IV-Empfänger, Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter. Sie gelten oft als die Verlierer in unserer Gesellschaft. Journalisten schreiben vor allem über sie. Und auch in Talkshows wird meistens über sie gesprochen. Aber ihre Stimme wird selten gehört. Dabei zeigt die Statistik, dass die Armut in Deutschland in den vergangenen Jahren gewachsen ist und sich die soziale Spaltung vertieft hat. Die Autorin Undine Zimmer hat aufgeschrieben, wie sich so ein Leben am Rande der Normalität aus der Perspektive eines Kindes anfühlte:
"Meine Eltern waren, solange ich denken kann, Langzeitarbeitslose: eine alleinerziehende Mutter und ein geschiedener Vater und Aufstocker, der als Taxifahrer weniger verdiente, als ich mit meinen schlecht bezahlten Studentenjobs. Für mich gehören meine Eltern zu jenen unsichtbaren Helden, die in unserem Land jeden Tag um ihr soziales Überleben kämpfen. Im Vergleich zur Mehrheit haben sie in diesem Kampf eine schlechte Ausgangsposition. Sie haben sich, obwohl sie sich oft erniedrigt fühlten, ihre Würde bewahrt. Trotzdem beeinflusst die Sozialhilfe bis heute ihr Leben und damit auch meins."
Es ist keine laute Anklageschrift, die Undine Zimmer verfasst hat. Vielmehr erzählt die Autorin vorsichtig in zahlreichen Episoden aus ihrem Leben. Das ist an vielen Stellen klug und bietet erstaunliche Einblicke. Denn Armut im reichen Deutschland ist nicht primär durch Hunger, Krankheit und Trinkwasserknappheit gekennzeichnet, wie Zimmer richtig beschreibt. Vielmehr ist es eine Armut im Sozialen, im Wissen um den Umgang mit Geld oder über gesunde Ernährung, aber auch der verloren gegangene Glaube an Bildungs- und Aufstiegschancen. Die Autorin verdeutlicht, dass es vielfältige Faktoren sind, die zur sozialen Entmutigung beitragen. In Zimmers Kindheit spielte eine zentrale Rolle, dass ihre alleinerziehende Mutter den Job als Krankenschwester aufgab. Die ganze Welt bestand für beide zeitweise nur noch aus Mutter und Kind, wie Zimmer eindringlich beschreibt:
"Es hat mir wehgetan, mich zu fragen, ob meine Mutter depressiv ist. Aber andere Mütter waren so viel fröhlicher und freundlicher – das fiel mir schon im Kindergarten auf. Dass es ihr nicht besonders gut ging in meinen ersten Lebensjahren, dass ihre Lebenslust und ihr Lebensmut klein waren in meinen frühen Schuljahren, das hat sie in vielen unserer Gespräche zugegeben. Aber dennoch: Meine Mutter hat sich nie gehen lassen, sie ist nie liegen geblieben, sie hat mich oder die Wohnung nie vernachlässigt. Innerlich hat sie immer gekämpft. Das ist schwer, wenn man mit seinen Gedanken, Problemen, Wünschen und Hoffnungen ganz allein ist. Niemand hat ihr praktisch geholfen, niemand hat sie ermutigt oder dafür gesorgt, dass sie sich mal entspannen kann. Es gab keine Studien- oder Arbeitskollegen, keine Groß- oder Schwiegereltern, die mit anpackten oder ein Stück Geselligkeit in unser Alltagsleben brachten. In unserem Universum gab es nur uns."
Es sind vor allem Schilderungen wie diese, die die große Qualität des Buches ausmachen. Leser, die Ähnliches erlebt haben, dürften sich in vielem wiederfinden. Wer das Buch als Ergänzung zu den zahlreichen Armutsstudien der letzten Jahre eher aus sachlichem Interesse liest, findet darin sehr viel Diskussionsstoff. Gerade mit Blick auf die sozialpolitische Debatte über den Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten macht diese Erzählung deutlich, dass eine Ganztagsschule das Leben der Mutter sicher entlastet hätte und das Leben des Kindes hätte bereichern können. Zwar klingt an, dass es vereinzelt hilfsbereite Klassenlehrerinnen gab, aber Schule als zentraler sozialer Ort und Alternative zur Enge der Familie existierte hier nicht. Vielmehr war es die Kirchengemeinde, die ihrem Leben neue Perspektiven eröffnete, erinnert sich die Autorin im Gespräch:
"Allerdings war für mich die Kirche so ein Familienersatz, weil da auf ganz andere Art und Weise so ein Wir-Gefühl hergestellt wird und so ein Wir-haben-gleiche-Werte-Gefühl. So eine Gruppenzugehörigkeit, die für mich natürlich sehr attraktiv war und eben auch dieses familiäre Sonntagsleben. Als ich ein bisschen größer war, durfte ich alleine zur Kirche gehen. Meine Mutter hält nichts von Kirche. Da bin ich dann sonntags in den Gottesdienst und mit irgendeiner Freundin nach Hause zu denen. Da gab es dann das Sonntagsessen nach dem Gottesdienst, wo alle am Tisch sitzen und sich austauschen. Und das war für mich sehr, sehr spannend. Dann gab´s auch manchmal Pizza vom Italiener nebenan. Das war dann noch mal extra spannend."
Aber die Subjektivität der Erzählung wird leider zu wenig durch analytische Passagen ergänzt. Zeitweise ist die Lektüre dadurch etwas banal und langatmig. An einigen Stellen hätten Kürzungen die Schilderung vermutlich besser verdichtet und Erkenntnisse stärker auf den Punkt gebracht. Doch trotz solcher Schwächen hat Undine Zimmer ein wichtiges Buch geschrieben. Und man wünscht sich, es wäre nicht so exotisch, dass ein Kind aus einer Hartz-IV-Familie seine Stimme erhebt. Die Autorin ist sich darüber in Klaren, dass sie mit ihrer Veröffentlichung exemplarisch für viele andere steht.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich so eine Stimme sein könnte oder so ein Repräsentant sein könnte. Ich glaube, da gibt es auch Kinder, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben, viel, viel, viel extremere, als ich sie gemacht habe. Aber vielleicht gibt es doch gemeinsame Nenner. Und wenn mein Buch, meine Stimme und meine Art, zu erzählen, so ein bisschen für diese Leute stehen kann, die sonst einfach eben nicht so gehört werden, dann wäre das natürlich sehr schön."
Zimmers Lebensweg ist trotz aller beschriebenen Widrigkeiten ermutigend weitergegangen. Sie studierte Skandinavistik und ist Journalistin geworden. Allerdings übt sie den Beruf nicht mehr aus, sondern hat jüngst bei einem Jobcenter in Reutlingen als Arbeitsberaterin angefangen. Sie möchte ihre Erfahrungen auch hier weitergeben.
Buchinfos:
Undine Zimmer: "Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie", S. Fischer Verlag, 256 Seiten, 18,99 Euro, ISBN: 978-3-100-92592-3
"Meine Eltern waren, solange ich denken kann, Langzeitarbeitslose: eine alleinerziehende Mutter und ein geschiedener Vater und Aufstocker, der als Taxifahrer weniger verdiente, als ich mit meinen schlecht bezahlten Studentenjobs. Für mich gehören meine Eltern zu jenen unsichtbaren Helden, die in unserem Land jeden Tag um ihr soziales Überleben kämpfen. Im Vergleich zur Mehrheit haben sie in diesem Kampf eine schlechte Ausgangsposition. Sie haben sich, obwohl sie sich oft erniedrigt fühlten, ihre Würde bewahrt. Trotzdem beeinflusst die Sozialhilfe bis heute ihr Leben und damit auch meins."
Es ist keine laute Anklageschrift, die Undine Zimmer verfasst hat. Vielmehr erzählt die Autorin vorsichtig in zahlreichen Episoden aus ihrem Leben. Das ist an vielen Stellen klug und bietet erstaunliche Einblicke. Denn Armut im reichen Deutschland ist nicht primär durch Hunger, Krankheit und Trinkwasserknappheit gekennzeichnet, wie Zimmer richtig beschreibt. Vielmehr ist es eine Armut im Sozialen, im Wissen um den Umgang mit Geld oder über gesunde Ernährung, aber auch der verloren gegangene Glaube an Bildungs- und Aufstiegschancen. Die Autorin verdeutlicht, dass es vielfältige Faktoren sind, die zur sozialen Entmutigung beitragen. In Zimmers Kindheit spielte eine zentrale Rolle, dass ihre alleinerziehende Mutter den Job als Krankenschwester aufgab. Die ganze Welt bestand für beide zeitweise nur noch aus Mutter und Kind, wie Zimmer eindringlich beschreibt:
"Es hat mir wehgetan, mich zu fragen, ob meine Mutter depressiv ist. Aber andere Mütter waren so viel fröhlicher und freundlicher – das fiel mir schon im Kindergarten auf. Dass es ihr nicht besonders gut ging in meinen ersten Lebensjahren, dass ihre Lebenslust und ihr Lebensmut klein waren in meinen frühen Schuljahren, das hat sie in vielen unserer Gespräche zugegeben. Aber dennoch: Meine Mutter hat sich nie gehen lassen, sie ist nie liegen geblieben, sie hat mich oder die Wohnung nie vernachlässigt. Innerlich hat sie immer gekämpft. Das ist schwer, wenn man mit seinen Gedanken, Problemen, Wünschen und Hoffnungen ganz allein ist. Niemand hat ihr praktisch geholfen, niemand hat sie ermutigt oder dafür gesorgt, dass sie sich mal entspannen kann. Es gab keine Studien- oder Arbeitskollegen, keine Groß- oder Schwiegereltern, die mit anpackten oder ein Stück Geselligkeit in unser Alltagsleben brachten. In unserem Universum gab es nur uns."
Es sind vor allem Schilderungen wie diese, die die große Qualität des Buches ausmachen. Leser, die Ähnliches erlebt haben, dürften sich in vielem wiederfinden. Wer das Buch als Ergänzung zu den zahlreichen Armutsstudien der letzten Jahre eher aus sachlichem Interesse liest, findet darin sehr viel Diskussionsstoff. Gerade mit Blick auf die sozialpolitische Debatte über den Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten macht diese Erzählung deutlich, dass eine Ganztagsschule das Leben der Mutter sicher entlastet hätte und das Leben des Kindes hätte bereichern können. Zwar klingt an, dass es vereinzelt hilfsbereite Klassenlehrerinnen gab, aber Schule als zentraler sozialer Ort und Alternative zur Enge der Familie existierte hier nicht. Vielmehr war es die Kirchengemeinde, die ihrem Leben neue Perspektiven eröffnete, erinnert sich die Autorin im Gespräch:
"Allerdings war für mich die Kirche so ein Familienersatz, weil da auf ganz andere Art und Weise so ein Wir-Gefühl hergestellt wird und so ein Wir-haben-gleiche-Werte-Gefühl. So eine Gruppenzugehörigkeit, die für mich natürlich sehr attraktiv war und eben auch dieses familiäre Sonntagsleben. Als ich ein bisschen größer war, durfte ich alleine zur Kirche gehen. Meine Mutter hält nichts von Kirche. Da bin ich dann sonntags in den Gottesdienst und mit irgendeiner Freundin nach Hause zu denen. Da gab es dann das Sonntagsessen nach dem Gottesdienst, wo alle am Tisch sitzen und sich austauschen. Und das war für mich sehr, sehr spannend. Dann gab´s auch manchmal Pizza vom Italiener nebenan. Das war dann noch mal extra spannend."
Aber die Subjektivität der Erzählung wird leider zu wenig durch analytische Passagen ergänzt. Zeitweise ist die Lektüre dadurch etwas banal und langatmig. An einigen Stellen hätten Kürzungen die Schilderung vermutlich besser verdichtet und Erkenntnisse stärker auf den Punkt gebracht. Doch trotz solcher Schwächen hat Undine Zimmer ein wichtiges Buch geschrieben. Und man wünscht sich, es wäre nicht so exotisch, dass ein Kind aus einer Hartz-IV-Familie seine Stimme erhebt. Die Autorin ist sich darüber in Klaren, dass sie mit ihrer Veröffentlichung exemplarisch für viele andere steht.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich so eine Stimme sein könnte oder so ein Repräsentant sein könnte. Ich glaube, da gibt es auch Kinder, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben, viel, viel, viel extremere, als ich sie gemacht habe. Aber vielleicht gibt es doch gemeinsame Nenner. Und wenn mein Buch, meine Stimme und meine Art, zu erzählen, so ein bisschen für diese Leute stehen kann, die sonst einfach eben nicht so gehört werden, dann wäre das natürlich sehr schön."
Zimmers Lebensweg ist trotz aller beschriebenen Widrigkeiten ermutigend weitergegangen. Sie studierte Skandinavistik und ist Journalistin geworden. Allerdings übt sie den Beruf nicht mehr aus, sondern hat jüngst bei einem Jobcenter in Reutlingen als Arbeitsberaterin angefangen. Sie möchte ihre Erfahrungen auch hier weitergeben.
Buchinfos:
Undine Zimmer: "Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie", S. Fischer Verlag, 256 Seiten, 18,99 Euro, ISBN: 978-3-100-92592-3