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Aus aller Welt zu Gast im Vigezzo Tal am Lago Maggiore

Seit über 30 Jahren treffen sich im Vigezzo Tal Schornsteinfeger, denn aus diesem Tal gingen sie schon im 16. Jahrhundert in die ganze Welt. Heute werden sie mit einem Umzug gefeiert, bei dem die Männer mit Ruß verschmiert und meist in ihrer typischen schwarzen Arbeitskleidung oder in historischer Kluft durch die Straßen ziehen.

Von Eva Firzlaff |
    Am ersten Sonntag im September, vormittags, sind die engen Straßen gedrängt voll und die Atmosphäre ähnelt einem Karneval. Dabei laufen im Umzug nur Schornsteinfeger mit. Doch es sind 800 oder mehr, die kommen aus ganz Europa, aus Amerika, sogar aus Japan nach Santa Maria Maggiore. Wie auch Steffen Fischer aus der Cottbuser Schornsteinfeger-Innung, der schon zum sechsten Mal.

    "Na das Flair, das Gemeinsame. Aus allen Ländern kommen sie her. Überall kommt man irgendwie ins Gespräch. Also das ist das Faszinierende. Am Sonnabend früh am Denkmal in Malesco werden Fotos gemacht, quatscht man miteinander. Dann der Umzug. Die Leute rechts und links. Also der Umzug ist für mich das Wichtigste eigentlich."

    Wo schon wird man so gefeiert und bejubelt? Manch einer der schwarzen Männer hat sich nicht nur selbst Ruß ins Gesicht geschmiert, nein, mit ihren rußigen Händen streicheln sie auch den Zuschauern die Gesichter. Seit über 30 Jahren schon treffen sich hier die Schornsteinfeger, denn aus diesem Tal gingen sie einst in die Welt, erzählt Anita Hofer, die das Treffen organisiert.

    "1548 hat der Chronist Johannes Stumpf aus Basel geschrieben: Alle Schornsteinfeger kommen aus dem Vigezzo Tal und gehen in die ganze Welt, um ihre Kinder und ihre Frauen zu ernähren, weil der Boden so karg ist, dass sie sonst nicht überleben können. Auch in den Landkarten, wenn Sie auf die Alpen sehen, da steht nicht Valle Vigezzo, sondern Kaemifaeger-Tal. Das war also um 1600 bekannt als Kaminfeger-Tal. Zum Beispiel, Sie haben die Holländer gesehen. 1836 ist ein 15-jähriger Schornsteinfeger hier von der Valle Vigezzo nach Amsterdam gekommen, hat gearbeitet und heute haben sie in Amsterdam die größte Schornsteinfeger-Fabrik oder wie man das nennen kann. Sie machen 160 Kamine am Tag. Und kommen jedes Jahr her, denn hier sind ihre Wurzeln."

    Der lange Zug zieht sich durch die Altstadt. Schornsteinfeger in ihrer typischen, meist schwarzen Arbeitskleidung, die Niederländer allerdings in Weiß, die Italiener in historischer Kluft, und die haben auch Kinder dabei, Sechs- bis Zwölfjährige. Das erinnert daran, dass einst Jungs aus dem Vigezzo Tal sozusagen als lebende Besen mit einer Kratze in der Hand durch die Schornsteine geklettert sind.

    "Im 18. Jahrhundert ist das dann so gewesen: Im Oktober ging ein älterer Schornsteinfeger durch die Dörfer und fragte die Familien, ob sie die Kinder für die Wintersaison in die großen Städte von Italien mitgeben wollen. Die hatten ja damals zwölf oder 13 Kinder, wenn da zwei Buben nicht am Tisch saßen von Oktober bis nach Ostern, das war für die Familien eine Erleichterung. Also die Mütter gaben die Kinder mit. Das war so ein bisschen wie die Schwabenkinder. Das war die traurigste Geschichte. Die Kinder wurden von diesem Patrone mitgenommen und vielleicht hat er abends nicht gekocht. Sie mussten in Ställen schlafen, es gab Krankheiten, Unfälle, die Kinder waren dreckig und hungrig. Bis endlich die Kirche eingetreten ist und der Kardinal Ratti, der später Papst wurde, hat gesagt, die Kinder müssen mindesten 14 Jahre alt sein, sonst dürfen sie nicht mehr mitgenommen werden. Aber hatten wir schon 1920. Und dann hat es langsam aufgehört."

    Wer sich heute im Vigezzo Tal umguckt, sieht keine Armut, sondern gepflegte Barock-Städtchen. Wie es dazu kam, ist eine Aschenputtel-Geschichte, aber kein Märchen. Einer der ausgewanderten Schornsteinfeger war mit seinem Kehrjungen in Paris, am Königshof. 1612.

    "Und einmal, als sie fertig waren, stieg der junge im falschen Kamin wieder runter. Er ist auf der Hälfte vom Abstieg und hört von einem Komplott."

    Der junge König Ludwig der 13., gerade 15 Jahre alt, soll ermordet werden. Seinen Vater Heinrich den VI. hatte man schon beseitigt. Durch den Kehrjungen wird das Komplott aufgedeckt. Und die Königsmutter Maria de Medici dankt nicht nur ihm, sondern gleich allen Schornsteinfegern aus dem Valle Vigezzo mit einem Erlass:

    "Dass alle Schornsteinfeger aus diesem Tal freien Handel in Frankreich treiben dürfen. Die sind also Ofenbauer geworden und sogar Goldschmiede. Heute noch gibt es in Paris einen Goldschmied, dessen Vorfahren aus Craveggia kamen und über drei Generationen die Königsfamilie beliefert haben, also steinreich geworden sind. Dann kam die Revolution und sie mussten wählen, wieder ins Vigezzo Tal zurück oder in den Krieg für Frankreich. Die meisten kommen also zurück, haben aber sehr viel Geld und bauen ihre schönen Häuser, jede Familie baut eine Kapelle. Die Kirchen sind wunderschön. Deshalb haben wir es heute unseren Auswanderern zu verdanken, dass Valle Vigezzo so schön ist."

    Immer am ersten September-Wochenende feiert das Tal seine Schornsteinfeger und die von weit her. Ein herrliches Spektakel.

    Wir fahren mit der Schmalspurbahn nach Domodossola. 1923 wurde die Strecke fertig von Locarno am Lago Maggiore durch die Berge nach Domodossola. Es sind 52 Kilometer, über 83 Brücken, durch 24 Tunnel und war damals auch schon elektrisch betrieben. Domodossola und Locarno liegen jeweils auf etwa 200 m Höhe. Dazwischen ist Santa Maria Maggiore auf 838 Meter der höchste Bahnhof.

    Von Domodossola führt ein steiler Weg hoch zum Heiligen Berg. Sacro Monte. Es gibt mehrere in Norditalien nahe der Schweizer Grenze. Einige, auch der am Rand von Domodossola, gehören zum Weltkulturerbe, erzählt Pia, sie ist Wander- und Natur-Führerin.

    "Die Heiligen Berge, die Sacri Monti. Das ist ein typisches Phänomen von Norditalien. Wir haben verschiedene in der Lombardei, im Piemont an der Grenze zur Schweiz. Der allererste wurde 1491 gebaut. Das war die Idee von einem Kapuziner, nachdem Jerusalem von den Türken erobert wurde und die Wallfahrer nicht mehr nach Jerusalem fahren konnten. Er hatte die Idee, einen Ersatz für Wallfahrten zu schaffen und ein neues Jerusalem hier in Italien zu bauen. "

    Die meisten entstanden dann im 16./17. Jahrhundert, gefördert von der Gegenreformation, um protestantisches Gedankengut aus der Schweiz abzuwehren. Der Weg von der Stadt hoch zum Kloster ist ähnlich wie ein Kreuzweg, doch anstelle der Bildtafeln gibt es Kapellen mit Terrakotta-Statuen in Lebensgröße.

    "Gerade hier an diesem Heiligen Berg haben wir 15 Kapellen, die von der Leidensgeschichte Christi erzählen."

    An den Wänden geben Fresken mit Halbplastiken eine Theaterkulisse. Und vorne die Szene ist mit lebendig wirkenden lebensgroßen Figuren bestückt.

    "Damals konnten die Wallfahrer in die Kapellen rein gehen. Das wehr sehr emotional wie in einem echten Theater. Sie waren Analphabeten, sie konnten nicht lesen, aber durch diese Kapellen, in denen die verschiedenen Ereignisse aus dem Leben Jesu dargestellt sind, konnten sie die Geschichte von Jesus verstehen."

    Das Dorf Baceno ist sozusagen der Eingang in den Naturpark Alpe Devero. Die Stadt Domodossola, Hauptort im Ossola-Tal, haben wir hinter uns gelassen. Mitten in dem kleinen Baceno steht eine riesige Kirche auf einem Felsen. Neben dem Portal ein stattlicher Heiliger Christopherus. Denn hier verlief hoch in die Berge ein wichtiger Handelsweg. Und den Reisenden verdankt der Ort seine gewaltige Kirche.

    "Zwischen Ernen in der Schweiz und Baceno hier in Italien verlief im Mittelalter ein wichtiger Handelsweg. Und hier war eine Poststation. Viele Leute machten hier Rast und ließen Geld hier in der Kirche, damit unterwegs nichts passiert."

    Die jetzige Straße führt bis zur Alpe Devero, dann ist Schluss. Weiter geht es nur zu Fuß. Ein grandioses Fels-Panorama umgibt die weitläufige Alm wie ein Amphitheater, gekrönt vom roten Berg. Dahinter ist schon die Schweiz.

    "Das ist der Punta de la Rosa, wie eine versteinerte Welle. Also der Felsen, das ist Serpentin, ein sehr seltenes Gestein, das hier zu sehen ist, normalerweise findet man es tief unten in der Erde. Das Gestein enthält viel Eisen, mit dem Wasser hat es eine rote Farbe angenommen. Und man kann den Berg auch besteigen, es gibt Wege, aber nur für Kletterer."

    Doch auch für Wanderer gibt es viele und gut ausgeschilderte Wege. An plätschernden Bergbächen entlang, durch Alpenrosen-Haine. Und die alte Handelsstraße, der Baceno seine große Kirche verdankt, ist hier ein Eselspfad.

    "Wir sind im Naturpark Veglia Devero. Hier ein Hochplateau mit Weideland. Es gibt noch Senner, die hier herkommen. Und hier ist der Arbola, der ist 3200 m hoch. Und der Albrun-Pass, Passo d`Arbola, das war hier ein wichtiger mittelalterlicher Maultierpfad. Hier waren Pilger und Händler durch gegangen, um Waren zu transportieren. Von Süden nach Norden: Getreide, Salz, Gewürze und Reis. Und aus dem Norden nach Süden war meist Käse, Leder, also Tierprodukte."

    Auf den Bergwiesen pfeift ab und zu ein Murmeltier, Adler kreisen. Manche alte Almhütte wurde zur Schutzhütte für Wanderer. Am Brunnen plätschert Trinkwasser. Nur selten trifft man jemanden. Ja früher – heißt es – da weideten viele Kühe auf jeder Wiese. Doch schon um 1900, als in der Nähe der Simplon-Tunnel gebaut wurde, verdienten viele Bauern lieber dort sicheres Geld. Später zog der Bau der Linea Cadorna Tausende Arbeitskräfte an.

    "Die Linea Cadorna ist als Befestigungsanlage während des Ersten Weltkrieges gebaut worden, weil man mit einem Angriff von Österreich/Ungarn rechnete, durch die neutrale Schweiz. Davor wollte man sich schützen und hat eben diese Befestigungslinie errichtet."

    Sie wurde nie genutzt. Doch beim Wandern in den Bergen kann man auf Reste treffen, Wege, Schützengräben, Unterstände. Die letzten Bauern haben dann in den 1960er-Jahren die Berge verlassen, als in Norditalien die Industrie wuchs. Und doch gibt es wieder Kühe. Mit den Wanderern wagen sich auch junge Leute zurück in die Berge, um traditionelle Landwirtschaft oder eine Pension zu betreiben.

    "Der Naturpark fördert das. Durch den Käse, durch die kleinen Gasthäuser, wo man schlafen und die typischen Produkte essen kann. Und die Hirten sehen, die Leute möchten gerne ihren Käse."

    Mario ist so einer. In Oira – im Ossola-Tal - macht er Wein und Käse. Seine Spezialität ist "betrunkener Käse". Um den Käse bekannter zu machen, hatte er die Idee, die Käselaibe 8 Wochen in Weintrester zu lagern. Prünent – eine uralte regionale Rebsorte. Das Aroma zieht in den Käse ein. Das schmeckt! Im Naturpark Devero gibt es keine großen Hotels. Alte Bauernhäuser auf den Almen sind jetzt stilvolle Herbergen und Ferienhäuser.

    "Das ist nicht für einen Massentourismus geeignet, aber das wollen wir auch nicht. Wir wollen einen sanften Tourismus."

    Auch im Ossola-Tal, am Berghang weit oberhalb der Stadt Domodossola ist ein ganzer alter Ort – Tensa - sozusagen wieder auferstanden. Es war ein kleines Dorf, gar nicht reich. Man hat hier etwas Vieh gehalten. Nachdem das Dorf lange verlassen war und verfallen, hat sich eine Genossenschaft gebildet und auf den alten Fundamenten mit den alten Steinen die Häuser, so wie sie waren - dicht an dicht - wieder aufgebaut. Es sind nun Ferienzimmer und ein Restaurant, Maura ist dessen Wirtin. Wer unter dem Dach "Agriturismo" arbeiten will, muss auch etwas Landwirtschaftliches bieten. Sie ernten ihr eigens Gemüse, Obst und ein paar Hühner liefern die Frühstückseier.

    Weit geht der Blick übers Tal. Und direkt an der kleinen Siedlung kommt ein Wanderweg vorbei. In das nächste Dorf: Anzuno. Genauso klein und verwinkelt wie die Agriturismo-Herberge Tensa. Die kleinen Häuser sind nun private Sommer-Häuser, nur Angelo Franchini wohnt noch richtig hier. Fast so, wie in grauer Vorzeit, als der Name des Ortes entstand.

    "Nach einer Epidemie ist der Name entstanden. Fast alle sind gestorben, nur einer überlebte, der hatte sich mit seiner Ziege ins Haus zurückgezogen und hatte sich von der Milch der Ziege ernährt. Man sagt im Dialekt 'avanz`ün', also 'es ist einer übrig geblieben'."

    Der Weg geht durch die Jahrhunderte alten landwirtschaftlichen Terrassen, die werden schon lange nicht mehr genutzt, doch man erkennt sie noch am Berghang. Ähnlich angelegt wie Terrassen-Weinberge, doch wurde hier neben Wein auch Hanf angebaut, Gemüse und sogar Roggen.