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Tove Ditlevsen: "Gesichter"
Aus dem Inneren einer seelenwunden Frau

Dänemark 1968: Eine erfolgreiche Kinderbuchautorin hört Stimmen, nimmt eine Überdosis Schlaftabletten und landet in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Meisterlich präzise und schonungslos berichtet Tove Ditlevsen aus dem Inneren einer Psychose.

Von Bettina Baltschev | 21.02.2022
Ein Portrait der Schriftstellerin Tove Ditlevsen und das Buchcover ihres Romans "Gesicher"
Wahnsinn und Wirklichkeit enden in dem Roman mit einer Überdosis Schlaftabletten (Buchcover Aufbau Verlag / Portrait Tove Ditlevsen (c) Antjé Uggla)
Wenn Sie sich in einer Lebenskrise befinden, haben Sie jederzeit die Möglichkeit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schnell und unkompliziert (auf Wunsch auch anonym) bietet das z.B. die Telefonseelsorge an (Telefon: 0800-1110111 oder 0800-1110222).  
Bei konkreten Suizidgedanken kann auch die 112 oder der ärztliche Bereitschaftsdienst (Tel: 116 117) angerufen werden. In vielen Städten gibt es zudem Krankenhäuser mit Krisen- oder speziellen Depressionsambulanzen.
Es sind nicht nur die Wasserleitungen und Heizungsrohre, aus denen die Stimmen zu Lise Mundus dringen. Da ist auch ein kleines Mikrofon in ihrem Kissen, das unablässig Nachrichten übermittelt. Doch weil sie an ihr Klinikbett gefesselt ist, kann sie ihnen nicht entfliehen und muss anhören, wie die Stimmen sie verführen, bedrohen, ihr nach dem Leben trachten. Dabei liegt sie in der geschlossenen Abteilung doch auch, weil sie nach einer Überdosis Schlaftabletten dem Tod nur knapp entronnen ist. Auf den ersten Blick ist ihr Suizidversuch ein unverständlicher Akt, denn Lise Mundus hat scheinbar alles, was sie braucht. Sie ist eine berühmte Kinderbuchautorin, sie hat zwei Söhne und eine Tochter, ihr Mann ist Staatssekretär und eine Haushälterin kümmert sich ums Alltägliche. Lises Seelenleben ist jedoch beherrscht von Schmerz und Angst, von Stimmen und einer Obsession für Gesichter. Nach ihnen hat Tove Ditlevsen ihren Roman benannt.
„Augen, Nase, Mund, wie konnte dieses schlichte Dreieck bloß so unendlich viele Variationen enthalten? Lise war schon lange nicht mehr auf die Straße gegangen, weil ihr die vielen Gesichter Angst einjagten. Sie wagte es nicht, sich neue aufzubürden, und fürchtete ein Wiedersehen mit den alten, die nicht mehr in ihrer Erinnerung passten, wo sie sich zu den Toten gelegt hatten, vor denen man anders geschützt war.“

Implosion einer hochsensiblen Frau

Anfangs versucht Lise trotz sich ihr aufdrängender Gesichter und nie verstummender Stimmen die Fassade des häuslichen Friedens aufrecht zu erhalten. Auch wenn sie ihren Mann Gert und die junge Haushälterin Gitte verdächtigt, sich gegen sie verschworen zu haben. Vor allem Gitte misstraut sie zutiefst, weil die in ihrer naiven Fröhlichkeit so ganz anders ist als sie selbst. Ein Hippiemädchen, das mit Lises Sohn gegen den Vietnamkrieg protestiert und am liebsten die ganze Welt retten würde. Lise erreicht diese äußere Welt jedoch kaum, zu bewegt ist ihre innere. Immer wieder wird sie von Bildern aus ihrer Vergangenheit eingeholt, aus einer Kindheit, die sie in ärmlichen Verhältnissen verbracht hatte. Mit Eltern, die ihr wenig zugetraut und damit ein Selbstbild implementiert haben, dass sie nicht mehr loslässt. Auch nicht, als sie für ihre Bücher gefeiert wird und einen Literaturpreis bekommt.
„Ihre Berühmtheit hatte brutal jenen Schleier weggerissen, der sie immer von der Wirklichkeit getrennt hatte. Sie hatte eine Dankesrede gehalten, die Gert für sie geschrieben hatte, und war währenddessen von der Angst ihre Kindheit eingeholt worden, man könnte sie enttarnen und herausfinden, dass sie etwas zu sein vorgab, was sie nicht war. Diese Angst hatte sie seither im Grunde nicht mehr verlassen. Wenn sie interviewt wurde, gab sie Gerts oder Asgers Meinungen wieder, als hätte sie nie einen eigenständigen Gedanken gehabt.“
Früh hat sich Lise in Ehen geflüchtet, in der Hoffnung, den Halt zu finden, der ihr zu Hause gefehlt hatte. Aber Asger, ihr erster Mann, hatte es lächerlich gefunden, dass sie Kinderbücher schreibt. Und Gert, mit dem sie nun lebt, geht notorisch fremd. Ende der 1960er Jahre muss sich weder der eine noch der andere für sein Verhalten rechtfertigen, während ihre Frau in aller Stille leidet. Wie in ihrer Kopenhagen-Trilogie berichtet Tove Ditlevsen auch in „Gesichter“ aus dem Leben einer hochtalentierten und hochsensiblen Frau, die in der ihr zugewiesene Rolle als Mutter und Ehefrau langsam implodiert. Statt sich zu wehren und das Feld mit großer emanzipierter Geste zu verlassen, rutscht sie immer mehr in sich zusammen. Den hämischen Stimmen in ihrem Kopf glaubt sie eher als denen ihrer ihr wohlgesonnenen Mitmenschen. Die Schlaftabletten nimmt sie schließlich auch, weil sie sich nach dem Frieden einer psychiatrischen Klinik sehnt. Allerdings wird diese Sehnsucht nicht erfüllt. Denn die Stimmen haben sich längst zum Wahn ausgewachsen, der sie komplett überwältigt und im wahrsten Sinne des Wortes ans Bett fesselt. 
„Die Hölle umgab sie, und sie verbarg den Kopf in den Händen. Tränen liefen ihr die Wangen herab; es fühlte sich an, als würde ihr Gesicht schmelzen und zwischen den Fingern hindurchrinnen.“

Überzeugende Neuübersetzung

Man muss das Leben der Schriftstellerin Tove Ditlevsen, dem auch dieser Roman wieder entlehnt ist, nicht kennen, um sich von der Geschichte erschüttern zu lassen. Mit großer Klarheit und Präzision wird hier aus dem Inneren einer Psychose erzählt. Schmerz und Angst werden so deutlich spürbar, dass die Lektüre dieses schmalen Bandes lange nachhallt. Das liegt nicht zuletzt an der eleganten neuen Übersetzung aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Denn legt man die alte Suhrkamp-Ausgabe von 1987 daneben, so glaubt man fast, ein anderes Buch zu lesen. Statt vom „Hindurchrinnen“ ist in der früheren Version ziemlich ungelenk vom „Herunterlaufen“ des Gesichts zwischen den Fingern die Rede. Statt von „wahnsinnig“ wird da einmal von „furchtbar“ gesprochen, was in diesem Falle kein unbedeutender Unterschied ist. Dass Tove Ditlevsen in Deutschland erst jetzt so viel Beachtung findet, mag am Trend zum autofiktionalen Erzählen liegen. Ganz sicher liegt es auch an der gelungenen Übertragung ihrer unverwechselbaren Erzählstimme, die immer wieder neue einprägsame Bilder für einen Zustand jenseits der Wirklichkeit findet. Aus dem schält sich Lise schließlich langsam heraus und nach drei Wochen verlässt sie die Psychiatrie. Ihr Mann Gert schwört ihr Treue, die Haushälterin ist entlassen, die Fassade steht wieder. Doch man ahnt und fürchtet, dass der vermeintliche Seelenfrieden nicht lange andauern wird. Mehr noch wenn man weiß, dass Tove Ditlevsen nur acht Jahre, nachdem sie diesen Roman geschrieben hat, den Suizid vollenden wird, vor dem sie Lise Mundus hier noch bewahrt.
Tove Ditlevsen: „Gesichter“
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Aufbau Verlag Berlin , 160 Seiten, 14,99 Euro