Marion Lesney aus Peine leidet an einer sogenannten "Syringomyelie", einer sehr seltene Rückenmarkserkrankung. Statistisch gesehen sind nur acht von 100.000 Menschen betroffen.
"Bei mir waren es anfangs Halbseitenlähmungen teilweise, mal links mal rechts, oder es fällt einem alles aus der Hand. Man kann also eine Flasche nicht öffnen. Dann waren übelste Kopfschmerzen – migräneartig. Ich habe die Symptome so seit meinem 16. Lebensjahr. Die Diagnosestellung war aber erst vor zweieinhalb Jahren. Also ich bin mittlerweile fast 53 Jahre alt, also es hat ein paar Jahre länger gedauert. Die Ärzte haben aber die Hinweise nicht ernst genommen, und dann hat man einfach mal gekämpft über Jahre und eine Odyssee hinter sich."
Das Schicksal von Marion Lesney ist typisch für Patienten mit einer seltenen Erkrankung. Ärzte und auch Kliniken sind hoffnungslos überfordert. Weil sie so einen Fall noch nie gesehen haben, können sie mit den vielen, scheinbar widersprüchlichen Symptomen kaum etwas anfangen. Ist die Diagnose endlich klar, erleben die Patienten den nächsten Schock: Die Mehrzahl der seltenen Erkrankungen ist bis heute unheilbar.
"Allianz chronischer seltener Erkrankungen. Guten Tag. Ja!"
Berlin, das Büro der "Achse e.V.", der "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen".
"Ich werde das für Sie raussuchen und werde Ihnen eine E-Mail schicken, ja?"
Elisabeth Watermeier ist die Patientenberaterin der "Achse". Pro Jahr sind es mehr als 2000 Menschen, die anrufen, viele verzweifelt.
"Und zwar rufen uns zunehmend Menschen an, die keine Diagnose haben. Die also häufig seit vielen Jahren mit Beeinträchtigungen, Beschwerden, Symptomen verschiedene Ärzte aufgesucht haben. Wir sprechen da häufig von einer Klinik- und Ärzte-Odyssee, und die keine Diagnose oder eine unklare Diagnose bekommen haben oder denen gesagt wird, und das ist manchmal nur eine Frage der Zeit, dass keine somatischen Befunde vorliegen, und es müsste sich um eine psychosomatische oder psychische Erkrankung, eine Somatisierungsstörung oder dergleichen mehr handeln. Und weil wir wissen, dass die Diagnose-Suche bei seltenen Erkrankungen häufig sehr langwierig ist, sehen wir uns da auch in der Verpflichtung, im Rahmen unserer Möglichkeiten da Unterstützung anzubieten."
Da ist zum Beispiel der "Achse-Lotse für seltene Erkrankungen". Die Idee dazu entstand vor drei Jahren. Zusammen mit der Charité in Berlin wurde sie umgesetzt, als Anlaufstelle für Patienten, vor allem aber für niedergelassene Ärzte und Kliniken, die mit seltenen Krankheiten konfrontiert sind. Der Lotse für seltene Erkrankungen ist Dr. Christine Mundlos. Gerade öffnet Sie den Brief eines Arztes, der seine Praxis auf einer Nordseeinsel hat.
"Also ich hatte jetzt heute die Anfrage zu einer Patientin mit einem Crest-Syndrom. Und der hat auch so nett geschrieben, weil er gesagt hat, ich sitze auf dieser Insel hier, betreue diese Patientin, brauche jetzt aber für die weitere gute Betreuung einen Experten. Wie können Sie mir helfen?"
Schwieriger wird es, wenn die Diagnose unbekannt ist. Christine Mundlos lässt sich dann mit dem Einverständnis der Patienten die Behandlungsakte schicken, recherchiert anhand der aufgelisteten Symptome erste Verdachtsdiagnosen, schaltet Experten ein oder Laboratorien. Für einige ganz seltene Erkrankungen gibt es europaweit nur ein einziges Labor, das entsprechende Analysen anbietet, etwa in Frankreich oder Spanien. Nur leider, so Christine Mundlos, griffen noch immer sehr wenige Ärzte auf ihren Sachverstand zurück. Ganze 60 Anfragen gab es in den vergangenen zweieinhalb Jahren:
"Ich glaube auch, dass aus einer Klinik, gerade aus einer Uniklinik heraus es den Ärzten eher schwerer fallen würde, an jemanden wie mich heranzutreten, weil man sich ja dabei auch eingestehen muss, dass man etwas nicht weiß. Und nicht kann. Und nicht weiter kommt."
Es gibt seltene Erkrankungen, die nur ganz wenige Menschen betreffen. Einzelfälle! Bei anderen Leiden wiederum sind es mehrere Hundert oder gar zigtausend Betroffene. Von einer seltenen Erkrankung wird immer dann gesprochen, wenn weniger als ein Fall auf 2000 Menschen kommt. Bei 80 Millionen Einwohnern in Deutschland können das rein statistisch 40.000 Patienten sein. Da es 8000 Krankheiten mit dem Attribut "selten" gibt, trifft es insgesamt sehr viele Menschen: In Deutschland allein vier Millionen, europaweit 30 Millionen. Doch die "Seltenen" – wie die Geschäftsführerin der "Achse e.V.", Mirjam Mann sagt – haben hierzulande bislang keine große Rolle gespielt.
"In anderen Ländern Europas gab es schon länger eine Bewegung der Selbsthilfe der Seltenen. Es gibt Nord in Amerika, es gibt die Alliance Maladies Rares, auch in Dänemark gibt es eine starke Allianz für seltene Erkrankungen, und das ist etwas, was in Deutschland gefehlt hat. Es gibt so eine starke Selbsthilfebewegung in Deutschland. Aber eine klare Stimme für die Gruppe der Seltenen, die sich da klar positioniert, die gab es nicht. Und mittlerweile sind wir echt bei vielen Gruppen angekommen. Auch bei Forschern, bei Ärzten, in der Politik. Und das ist sehr schön."
Es ist viel passiert, besonders in diesem Jahr. Am 8. März wurde in Berlin das "Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen" – kurz Namse – gegründet: Bundesgesundheitsministerium, Bundesministerium für Bildung und Forschung und die "Achse" bilden den Kern dieses Bündnisses, das aus insgesamt 18 Partnern besteht. Im Oktober werden die Mitglieder der Namse einen "Nationalplan" für seltene Erkrankungen schmieden.
Ute Kühn lebt in Hamburg. Sie leidet an einer Dystonie, äußerlich erkennbar an unkontrollierbaren Muskelverkrampfungen. Bei ihr sind besonders die Augen betroffen. Manchmal steht sie mitten auf dem Zebrastreifen und kommt keinen Schritt weiter, weil die Augen zu sind. Doch wie viele Patienten mit seltenen Erkrankungen musste sie lange gegen das Vorurteil der Ärzte kämpfen:
"Die Augenringmuskulatur krampft, die Augen krampfen zu. Man kann sie willentlich nicht öffnen. Und es ist ganz schwierig, sich zu orientieren, auch das Sehen, obwohl das Sehorgan intakt ist. Dann heißt es: Ach, das ist psychosomatisch, schauen Sie, dass Sie Ihre Probleme beseitigt kriegen, dann sind Ihre Muskelzuckungen auch weg. Dann können Sie auch wieder Ihre Augen öffnen. Und ich hab es selbst auch erfahren in dieser Form. Die Patienten laufen von einem Arzt zum anderen, bis sie endlich eine Diagnose haben."
Am Klinikum der Universität Tübingen nimmt Professor Olaf Rieß gerne die Treppen – aus Zeitgründen. Der Fahrstuhl ist ihm viel zu langsam. Immerhin verteilt sich sein "Institut für medizinische Genetik" in dem Hochhaus auf drei Etagen. Olaf Rieß ist der Sprecher des "Forschungs- und Behandlungszentrums für seltene Erkrankungen" der Uni Tübingen. Es wurde gerade erst gegründet.
"Vordergründig ist eher noch vor der Forschung die Betreuung der Patienten."
Gerade kommt der Genetiker von einer kurzfristig einberufenen Besprechung. Es ging um ein Neugeborenes mit einer seltenen Krankheit:
"Das Kind ist hier geboren worden mit einer sogenannten Osteogenesis imperfecta – das ist die Glasknochenkrankheit, bei der die Stabilität der Knochen sehr brüchig ist. Das heißt, die Knochen brechen. Und bei diesem Kind leider eben schon vor der Geburt sind zwei Knochen gebrochen. Und wir haben halt jetzt im Team diskutiert zwischen den Kinderärzten, den Neonatologen, den Genetikern und den Hämatologen, ein Team von 15 Leuten, eine Dreiviertel Stunde diskutiert – was tun wir oder was bieten wir den Eltern an für eine Therapie."
Ohne Therapie könnte das Kind niemals laufen, weil die Knochen sofort zerbrechen würden. Das Team entscheidet sich für eine Stammzelltherapie, die weltweit bislang nur viermal durchgeführt wurde: Zehn Jahre lang soll das Kind in regelmäßigen Abständen mit Blutstammzellen versorgt werden. Die frischen Zellen sollen die Knochen festigen. Rieß:
"Professor Hand Krietinger, der das hier vor Ort macht, hat selbst eine Patientin damit in Amerika behandelt. Da ist das Kind überhaupt erst in die Lage versetzt worden, laufen zu können, weil sonst wäre das Körpergewicht zu schwer gewesen, dass die Knochen gebrochen wären bei dem Kind."
Das "Forschungs- und Behandlungszentrum für seltene Erkrankungen" der Universität Tübingen ist die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Andere Universitätskliniken, darunter die Medizinische Hochschule Hannover und die Charité in Berlin, stehen in den Startlöchern. Bei so vielen verschiedenen seltenen Erkrankungen – so Professor Olaf Rieß – könne sich jede Klinik nur auf wenige Erkrankungen beschränken. In Tübingen sind es Haut- und Augenkrankheiten, bestimmte Nervenleiden und Mukoviszidose:
"Generell gilt für die allermeisten dieser Erkrankungen, dass es komplexe Erkrankungen sind. Das heißt, dass unterschiedliche Organsysteme betroffen sind, was schon wieder bedingt, dass man unterschiedliche Spezialisten braucht. Und dort setzen wir an. Wir möchten, dass eben nicht ein Patient überall in Deutschland rumreist, um den Herzspezialisten in Berlin, den Augenarzt für diese Erkrankung in Hannover oder jemand in München, sondern wir möchten, dass diese Patienten hierher kommen. Hier von den Spezialisten, die genau von dieser Erkrankung etwas verstehen, betreut werden, und dass diese Spezialisten dann in idealer Weise auch noch an diesem Tag Zeit haben für diesen Patienten."
Gerda Hoppe leidet an einer Hypoglykämie – einer Erkrankung durch permanente Unterzuckerung. Betroffene sind fortwährend müde, leiden unter Kopfschmerzen. Für Ärzte ein schwieriger Fall, denn solche Symptome sind sehr verbreitet, und sie können vieles bedeuten. Die heute 80-Jährige leitet eine Selbsthilfeorganisation mit Sitz in Hamburg.
"Wir werden ja meistens in die Psyche abgeschoben. Sie können das gerne wissen: Man hat mich süchtig gemacht. Ich bin zu meinem 36. Lebensjahr mit Psychopharmaka behandelt worden. Und dann kamen die ganzen Therapien. Und mit 47 Jahren bin ich dahinter gekommen, dass ich Unterzuckerung habe. Und seit dieser Zeit kämpfe ich eigentlich darum, habe mich auch in Amerika um Literatur bemüht. Habe vieles von dort gekriegt. Unsere Ärztekammer hat die erste Literatur von uns gekriegt, trotzdem es in Deutschland schon Veröffentlichungen gegeben hat. Die Ärzte sind vollkommen uninformiert. Die haben keine Ahnung davon."
Glasflaschen, Pipetten und Messzylinder stehen auf den gekachelten Tischen - Beiwerk im Genlabor des Instituts für medizinische Genetik. Die Stars hier sind vier weiße Kästen von der Größe eines Kühlschranks, nur mit deutlich mehr Sound. Es sind "Gensequenzierer", mit denen das Erbgut des Menschen analysiert werden kann. Olaf Rieß:
"Also diese großen Maschinen, die Sie hier sehen, mit denen entziffert man den Code der DNA – sprich unseren genetischen Code. Und da kann man winzige Veränderungen, bis auf den einzelnen Basenbaustein erkennen. Wir vervielfältigen dann gezielt einen Bereich, wo wir wissen, dass Veränderungen vorkommen sollen. Also wir können durchaus am nächsten Tag eine Diagnose haben. Aber wohlgemerkt wenn man vorher schon weiß, an welchem Punkt man schauen muss. Sonst können Analysen viele Wochen, unter Umständen viele Monate in Anspruch nehmen, bis wir einen Fall gelöst haben."
Wenn die Gene bekannt sind, ist schon viel gewonnen. Mehr als 80 Prozent aller seltenen Erkrankungen haben genetische Ursachen. Sogenannte Ataxien, Muskellähmungen, gehören dazu. Mit ihnen beschäftigt sich Ludger Schöls, Professor für klinische Neurogenetik der Universität Tübingen:
"Die Therapie ist unser Ziel. Bei diesen genetischen Erkrankungen haben wir eine sehr große Chance, nämlich dass wir die Ursache das Übels kennen. Wir können das Übel von der Wurzel her anpacken. Wir wissen, wo die Erkrankung beginnt. Eben in diesen genetischen Veränderungen."
Bei den Ataxien sind mehr als 100 Genveränderungen bekannt. Entsprechend vielschichtig sind die Symptome: Ataxien zeigen sich beim Gehen, Betroffene brauchen einen Rollator. Andere können kaum sprechen, weil die Zunge gelähmt ist. Schöls:
"Im Vergleich zu vor zehn Jahren haben sich vor allen Dingen die Diagnostikmöglichkeiten verbessert. Wir können viel mehr Ataxie-Patienten sagen, was die Ursache ihrer Erkrankung ist. Und wir haben die Voraussetzungen geschaffen, dass wir Therapiestudien machen können. Dort sind wir für nur ganz wenige Ataxie-Formen bisher angelangt, die aus ihren Stoffwechselveränderungen heraus gleich die Idee mitgegeben haben, wie man dort eingreifen könnte."
Zum Beispiel mit Vitamin E. Immerhin bei jener Ataxie-Form, die sich durch chronischen Vitamin E-Mangel auszeichnet, kann eine Hochdosis-Therapie mit Vitamin E zumindest eine Linderung der Symptome bewirken. Ein seltener Glücksfall.
An der Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover spielen Krankenhausmusiker auf Station. Viele Kinder bleiben hier über Wochen, man bemüht sich um ein wenig Ablenkung.
"Die Patienten kommen aus der ganzen Welt. Wir haben natürlich auch Patienten aus Deutschland behandelt. Aber eben auch Patienten aus anderen Ländern: Wir haben zwei deutsche Patienten dabei. Wir haben zwei Patienten aus Russland. Einen Patienten aus Ungarn. Einen aus den USA. Einen aus Australien, der demnächst zu uns kommt."
Die Patienten von Professor Christoph Klein leiden unter dem Wiskott-Aldrich-Syndrom. Der Fall könnte zu einer weiteren Erfolgsgeschichte werden, denn als eines der wenigen Zentren weltweit erprobt die Klinik für pädiatrische Hämatologie und Onkologie eine Gentherapie gegen das Wiskott-Aldrich-Syndrom. In Deutschland sind pro Jahr nur drei Neugeborene betroffen. Nur Jungen, weil das defekte Gen auf einem Geschlechtschromosom liegt. Klein:
"Die betroffenen Kinder leiden an immer wiederkehrenden Infektionen. An einer Neigung, Ekzeme auszubilden. Darüber hinaus haben sie eine Blutungsneigung aufgrund einer verringerten Zahl von Blutplättchen. Und schließlich prädisponiert diese Erkrankung auch für eine bestimmte Art von Lymphknoten-Krebserkrankungen. Das heißt, es ist eine sehr komplexe Erkrankung, die aus diesem Immundefekt resultiert, der dadurch entsteht, dass ein einziges Gen – das nennen wir WASP – nicht richtig funktioniert."
Nach vorklinischen Studien in Boston, USA, entschloss sich Christoph Klein, ein gesundes WASP-Gen mit Hilfe von Viren in die Blutstammzellen von Patienten einzuschleusen. Die eigentliche Gentherapie findet außerhalb des Körpers statt. Dazu werden die Stammzellen über fünf Tage im Labor manipuliert und immer wieder überprüft, ob sich zum Beispiel Krankheitserreger eingenistet haben. Am Ende sind es rund 200 Milliliter Blut, die in den Körper zurückgeführt werden. 2006 startete Christoph Klein die Behandlung bei zwei Kindern – damals eine Weltpremiere:
"Beide Kinder betrachten wir nun drei Jahre nach diesem Eingriff als geheilt. Müssen aber dennoch vorsichtig sein, denn hier und heute kann niemand sagen, ob diese Heilung zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch für die nächsten Jahre und Jahrzehnte stabil bleibt."
Barbara Kleffmann aus Bielefeld leidet unter dem Ehlers-Danlos-Syndrom. Das ist eine erblich bedingte Bindegewebsschwäche, die auch die Gefäßwände betrifft. Das kann zu lebensgefährlichen Einblutungen führen.
"Wenn ich mich oben im Brustbereich stoße, kann es passieren, dass sich das Blut einen Weg sucht und ich das Hämatom irgendwo im Oberschenkel habe, weil sich das Blut da ganz durchwuselt, um irgendwo Platz zu kriegen, wo es sich festsetzt. Dadurch, dass die Gefäßwände zu labil sind, können diese Wände reißen. Das kann schon passieren, sagen wir mal, Sie helfen Ihrer Nachbarin, tragen den Kinderwagen ein, zwei Treppen hoch. Der Griff vom Kinderwagen berührt Sie im Grunde nur sehr leicht in der Bauchgegend. Sie merken im ersten Moment nichts, und es kann passieren, dass Sie dann nach einer Stunde umkippen, sind tot und keiner weiß, warum."
So wie das Ehlers-Danlos-Syndrom ist die Mehrzahl der seltenen Erkrankungen immer noch unheilbar. Bei vielen kennt man noch nicht einmal die genauen Ursachen, geschweige denn Möglichkeiten zur Linderung der Leiden. Entsprechend groß ist der Forschungsbedarf. In Deutschland beschäftigen sich Universitäten und andere Forschungseinrichtungen intensiv mit verschiedensten Erkrankungen. In einem Fall half ihnen ein Privatmann auf die Sprünge: Dr. Tom Wahlig aus Münster. Sein Sohn Henry war gerade sechs Jahre alt, als er an der HSP – der Hereditären Spastischen Spinalparalyse erkrankte. Wahlig:
"Die HSP ist eine fortschreitende Neurodegeneration des so genannten ersten Neurons. Das ist also das Nervensystem, das herunter geht in die Beine und die Befehle dort ankommen lässt. Und die Leute können mehr und mehr die Beine nicht mehr bewegen – bis hin zum Rollstuhl. Wenn sie lange genug leben, landen sie im Rollstuhl. Sie sterben nicht an der Krankheit, aber sie landen im Rollstuhl."
Als Dr. Tom Wahlig erstmals mit dem Leiden seines Sohnes konfrontiert war, gab es nicht einmal eine klare Vorstellung vom Auslöser der Erkrankung,
"und deshalb habe ich irgendwann die Idee gehabt, die Stiftung zu gründen, und mit dieser Geldstiftung, die ja immer ein Grundkapital hat, das drin bleiben muss, und den Erträgen Forschungsprojekte ins Leben zu rufen, die sich jetzt ganz speziell mit der HSP befassen. Und es ist mir wirklich gelungen, langsam aber sicher, die Leute dahin zu kriegen, in den Universitäten Forschung in Gang zu bringen. Und mein erstes Projekt war, das Gen zu finden, und das wurde auch gefunden mit unserer Hilfe – was die Krankheit verursacht."
Das war vor elf Jahren. Gegenwärtig stecken 500.000 Euro in der Stiftung. Das Fördervolumen beträgt 50.000 Euro im Jahr. Eine vergleichsweise kleine Summe, gewiss, doch Tom Wahlig konnte viel damit bewirken – bis heute:
"Das ist der entscheidende Punkt, dass wir sagen, wir geben Anschubfinanzierung. Dann kommt die DFG, dann kommt die Europäische Lalala und wie die alle heißen. Aber es muss erst einmal die Initialzündung kommen. Und da sagen wir, das ist unsere Aufgabe. Wir gehen da hin und sagen, hier sind 50.000, bezahle ein Jahr einen Doktoranden oder was weiß ich, und dann stelle ich die großen Anträge. Natürlich kann ich mit meinen 50.000, auch selbst mit den 100.000 mich nur lächerlich machen, aber dann kommt, und das hat die Erfahrung für elf Jahre jetzt bewiesen, dann kommen wirklich Projekte zustande, die einen großen Rahmen haben und wo auch wirklich was rauskommt."
Rund 2000 Menschen in Deutschland sind gegenwärtig von der HSP betroffen. Der auslösende Gendefekt ist zwar gefunden, von Heilung kann bis heute aber immer noch keine Rede sein, und so sieht es bei den meisten der insgesamt 8000 seltenen Krankheiten aus. Immerhin: Forschungsprojekte existieren, mit Erfolgen ist irgendwann zu rechnen. Was bislang vor allem gefehlt hat, sind fachübergreifende Netzwerke aus Kliniken, Spezialambulanzen und Praxen, um die Patienten schnellstmöglich zu erreichen und mit ihren sehr unterschiedlichen Erkrankungen quasi aus einer Hand zu betreuen. Netzwerke sind wichtig für den Fortschritt. Orpha.net zum Beispiel. Die Zentrale sitzt in Paris mit Niederlassungen in praktisch allen europäischen Ländern und darüber hinaus in der Türkei, Marokko und Tunesien. In Deutschland leitet Professor Manfred Stuhrmann-Spangenberg die Datenbank.
"Orpha.net wendet sich prinzipiell an jeden Menschen, der sich über seltene Erkrankungen informieren möchte. Aus unseren Nutzerbefragungen wissen wir, dass etwa die Hälfte der Nutzer Ärzte oder genetische Berater oder Fachpersonal – medizinisches Fachpersonal darstellt. Ein Drittel der Nutzer sind Patienten oder Angehörige."
Das Netzwerk ist konzipiert als Kommunikationstool. Erklärtes Ziel ist aber auch, Forschung anzustoßen. Stuhrmann-Spangenberg:
"Ein Hauptproblem bei klinischer Forschung seltener Erkrankungen besteht darin, dass es immer nur so wenige Patienten gibt. Und über Orpha.net ist es auch möglich, dass Patienten sich melden für Forschungsprojekte. Und andererseits können natürlich auch Ärzte ein Forschungsprojekt planen über eine seltene Erkrankung und schauen, was gibt es denn jetzt auf diesem Gebiet europaweit zum Beispiel. An welche Kollegen kann ich mich jetzt wenden, wenn ich eine gemeinsame Studie zum Beispiel plane. Und wenn jetzt ein Forscher aus Spanien oder aus England über die gleiche seltene Erkrankung forscht, dann kann er versuchen, eine multizentrische Studie zu initiieren."
Menschen mit seltenen Erkrankungen – es sind oft verzweifelte Patienten. Sie warten viele Jahre auf eine Diagnose. Es gibt keine integrierte und fachübergreifende Versorgung, keine Aussicht auf Heilung. Die "Nationale Konferenz für seltene Erkrankungen", an der Regierungsvertreter, Ärzte, Krankenkassen und Selbsthilfeorganisationen teilnehmen, will im Oktober einen Aktionsplan erarbeiten. Viele Forderungen liegen schon auf dem Tisch: Neue Aus- und Fortbildungsangebote für niedergelassene Ärzte, damit sie für seltene Erkrankungen sensibilisiert werden. Desweiteren: "Netzstrukturen", Fall-Manager und Spezialkliniken für eine bessere Behandlung. Woher das Geld dafür kommen soll, steht allerdings noch in den Sternen.
Renate Strauch aus Duisburg leidet unter der "Neurofibromatose, Typ II". Ihr Kopf ist voller kleinerer und größerer Tumoren.
"Ich bin 1998 das erste mal operiert worden. Damals wurde mir ein hühnereigroßer Tumor direkt hinter der Stirn entfernt. Bei der OP wurden leider die Riechnerven zerstört. Ich kann seitdem nicht mehr riechen und auch nicht mehr schmecken. Im Jahre 2004 hatte ich einen Tumor am Hörnerv, der entfernt werden musste. Ich kann seitdem auf dem rechten Ohr nicht mehr hören, und mein Gesicht ist auf der Seite auch gelähmt. Also ich kann das Auge nicht mehr schließen. Wenn ich Pech habe und die Krankheit in dem Tempo fortschreitet, kann es sein, dass ich noch öfter operiert werden muss. Es gibt keine Medikamente. Ich kann eigentlich gar nichts machen, außer jedes Jahr zum Kernspin, um zu sehen, ob da wieder irgendwas ist oder nicht. Und das belastet schon sehr."
"Bei mir waren es anfangs Halbseitenlähmungen teilweise, mal links mal rechts, oder es fällt einem alles aus der Hand. Man kann also eine Flasche nicht öffnen. Dann waren übelste Kopfschmerzen – migräneartig. Ich habe die Symptome so seit meinem 16. Lebensjahr. Die Diagnosestellung war aber erst vor zweieinhalb Jahren. Also ich bin mittlerweile fast 53 Jahre alt, also es hat ein paar Jahre länger gedauert. Die Ärzte haben aber die Hinweise nicht ernst genommen, und dann hat man einfach mal gekämpft über Jahre und eine Odyssee hinter sich."
Das Schicksal von Marion Lesney ist typisch für Patienten mit einer seltenen Erkrankung. Ärzte und auch Kliniken sind hoffnungslos überfordert. Weil sie so einen Fall noch nie gesehen haben, können sie mit den vielen, scheinbar widersprüchlichen Symptomen kaum etwas anfangen. Ist die Diagnose endlich klar, erleben die Patienten den nächsten Schock: Die Mehrzahl der seltenen Erkrankungen ist bis heute unheilbar.
"Allianz chronischer seltener Erkrankungen. Guten Tag. Ja!"
Berlin, das Büro der "Achse e.V.", der "Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen".
"Ich werde das für Sie raussuchen und werde Ihnen eine E-Mail schicken, ja?"
Elisabeth Watermeier ist die Patientenberaterin der "Achse". Pro Jahr sind es mehr als 2000 Menschen, die anrufen, viele verzweifelt.
"Und zwar rufen uns zunehmend Menschen an, die keine Diagnose haben. Die also häufig seit vielen Jahren mit Beeinträchtigungen, Beschwerden, Symptomen verschiedene Ärzte aufgesucht haben. Wir sprechen da häufig von einer Klinik- und Ärzte-Odyssee, und die keine Diagnose oder eine unklare Diagnose bekommen haben oder denen gesagt wird, und das ist manchmal nur eine Frage der Zeit, dass keine somatischen Befunde vorliegen, und es müsste sich um eine psychosomatische oder psychische Erkrankung, eine Somatisierungsstörung oder dergleichen mehr handeln. Und weil wir wissen, dass die Diagnose-Suche bei seltenen Erkrankungen häufig sehr langwierig ist, sehen wir uns da auch in der Verpflichtung, im Rahmen unserer Möglichkeiten da Unterstützung anzubieten."
Da ist zum Beispiel der "Achse-Lotse für seltene Erkrankungen". Die Idee dazu entstand vor drei Jahren. Zusammen mit der Charité in Berlin wurde sie umgesetzt, als Anlaufstelle für Patienten, vor allem aber für niedergelassene Ärzte und Kliniken, die mit seltenen Krankheiten konfrontiert sind. Der Lotse für seltene Erkrankungen ist Dr. Christine Mundlos. Gerade öffnet Sie den Brief eines Arztes, der seine Praxis auf einer Nordseeinsel hat.
"Also ich hatte jetzt heute die Anfrage zu einer Patientin mit einem Crest-Syndrom. Und der hat auch so nett geschrieben, weil er gesagt hat, ich sitze auf dieser Insel hier, betreue diese Patientin, brauche jetzt aber für die weitere gute Betreuung einen Experten. Wie können Sie mir helfen?"
Schwieriger wird es, wenn die Diagnose unbekannt ist. Christine Mundlos lässt sich dann mit dem Einverständnis der Patienten die Behandlungsakte schicken, recherchiert anhand der aufgelisteten Symptome erste Verdachtsdiagnosen, schaltet Experten ein oder Laboratorien. Für einige ganz seltene Erkrankungen gibt es europaweit nur ein einziges Labor, das entsprechende Analysen anbietet, etwa in Frankreich oder Spanien. Nur leider, so Christine Mundlos, griffen noch immer sehr wenige Ärzte auf ihren Sachverstand zurück. Ganze 60 Anfragen gab es in den vergangenen zweieinhalb Jahren:
"Ich glaube auch, dass aus einer Klinik, gerade aus einer Uniklinik heraus es den Ärzten eher schwerer fallen würde, an jemanden wie mich heranzutreten, weil man sich ja dabei auch eingestehen muss, dass man etwas nicht weiß. Und nicht kann. Und nicht weiter kommt."
Es gibt seltene Erkrankungen, die nur ganz wenige Menschen betreffen. Einzelfälle! Bei anderen Leiden wiederum sind es mehrere Hundert oder gar zigtausend Betroffene. Von einer seltenen Erkrankung wird immer dann gesprochen, wenn weniger als ein Fall auf 2000 Menschen kommt. Bei 80 Millionen Einwohnern in Deutschland können das rein statistisch 40.000 Patienten sein. Da es 8000 Krankheiten mit dem Attribut "selten" gibt, trifft es insgesamt sehr viele Menschen: In Deutschland allein vier Millionen, europaweit 30 Millionen. Doch die "Seltenen" – wie die Geschäftsführerin der "Achse e.V.", Mirjam Mann sagt – haben hierzulande bislang keine große Rolle gespielt.
"In anderen Ländern Europas gab es schon länger eine Bewegung der Selbsthilfe der Seltenen. Es gibt Nord in Amerika, es gibt die Alliance Maladies Rares, auch in Dänemark gibt es eine starke Allianz für seltene Erkrankungen, und das ist etwas, was in Deutschland gefehlt hat. Es gibt so eine starke Selbsthilfebewegung in Deutschland. Aber eine klare Stimme für die Gruppe der Seltenen, die sich da klar positioniert, die gab es nicht. Und mittlerweile sind wir echt bei vielen Gruppen angekommen. Auch bei Forschern, bei Ärzten, in der Politik. Und das ist sehr schön."
Es ist viel passiert, besonders in diesem Jahr. Am 8. März wurde in Berlin das "Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen" – kurz Namse – gegründet: Bundesgesundheitsministerium, Bundesministerium für Bildung und Forschung und die "Achse" bilden den Kern dieses Bündnisses, das aus insgesamt 18 Partnern besteht. Im Oktober werden die Mitglieder der Namse einen "Nationalplan" für seltene Erkrankungen schmieden.
Ute Kühn lebt in Hamburg. Sie leidet an einer Dystonie, äußerlich erkennbar an unkontrollierbaren Muskelverkrampfungen. Bei ihr sind besonders die Augen betroffen. Manchmal steht sie mitten auf dem Zebrastreifen und kommt keinen Schritt weiter, weil die Augen zu sind. Doch wie viele Patienten mit seltenen Erkrankungen musste sie lange gegen das Vorurteil der Ärzte kämpfen:
"Die Augenringmuskulatur krampft, die Augen krampfen zu. Man kann sie willentlich nicht öffnen. Und es ist ganz schwierig, sich zu orientieren, auch das Sehen, obwohl das Sehorgan intakt ist. Dann heißt es: Ach, das ist psychosomatisch, schauen Sie, dass Sie Ihre Probleme beseitigt kriegen, dann sind Ihre Muskelzuckungen auch weg. Dann können Sie auch wieder Ihre Augen öffnen. Und ich hab es selbst auch erfahren in dieser Form. Die Patienten laufen von einem Arzt zum anderen, bis sie endlich eine Diagnose haben."
Am Klinikum der Universität Tübingen nimmt Professor Olaf Rieß gerne die Treppen – aus Zeitgründen. Der Fahrstuhl ist ihm viel zu langsam. Immerhin verteilt sich sein "Institut für medizinische Genetik" in dem Hochhaus auf drei Etagen. Olaf Rieß ist der Sprecher des "Forschungs- und Behandlungszentrums für seltene Erkrankungen" der Uni Tübingen. Es wurde gerade erst gegründet.
"Vordergründig ist eher noch vor der Forschung die Betreuung der Patienten."
Gerade kommt der Genetiker von einer kurzfristig einberufenen Besprechung. Es ging um ein Neugeborenes mit einer seltenen Krankheit:
"Das Kind ist hier geboren worden mit einer sogenannten Osteogenesis imperfecta – das ist die Glasknochenkrankheit, bei der die Stabilität der Knochen sehr brüchig ist. Das heißt, die Knochen brechen. Und bei diesem Kind leider eben schon vor der Geburt sind zwei Knochen gebrochen. Und wir haben halt jetzt im Team diskutiert zwischen den Kinderärzten, den Neonatologen, den Genetikern und den Hämatologen, ein Team von 15 Leuten, eine Dreiviertel Stunde diskutiert – was tun wir oder was bieten wir den Eltern an für eine Therapie."
Ohne Therapie könnte das Kind niemals laufen, weil die Knochen sofort zerbrechen würden. Das Team entscheidet sich für eine Stammzelltherapie, die weltweit bislang nur viermal durchgeführt wurde: Zehn Jahre lang soll das Kind in regelmäßigen Abständen mit Blutstammzellen versorgt werden. Die frischen Zellen sollen die Knochen festigen. Rieß:
"Professor Hand Krietinger, der das hier vor Ort macht, hat selbst eine Patientin damit in Amerika behandelt. Da ist das Kind überhaupt erst in die Lage versetzt worden, laufen zu können, weil sonst wäre das Körpergewicht zu schwer gewesen, dass die Knochen gebrochen wären bei dem Kind."
Das "Forschungs- und Behandlungszentrum für seltene Erkrankungen" der Universität Tübingen ist die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Andere Universitätskliniken, darunter die Medizinische Hochschule Hannover und die Charité in Berlin, stehen in den Startlöchern. Bei so vielen verschiedenen seltenen Erkrankungen – so Professor Olaf Rieß – könne sich jede Klinik nur auf wenige Erkrankungen beschränken. In Tübingen sind es Haut- und Augenkrankheiten, bestimmte Nervenleiden und Mukoviszidose:
"Generell gilt für die allermeisten dieser Erkrankungen, dass es komplexe Erkrankungen sind. Das heißt, dass unterschiedliche Organsysteme betroffen sind, was schon wieder bedingt, dass man unterschiedliche Spezialisten braucht. Und dort setzen wir an. Wir möchten, dass eben nicht ein Patient überall in Deutschland rumreist, um den Herzspezialisten in Berlin, den Augenarzt für diese Erkrankung in Hannover oder jemand in München, sondern wir möchten, dass diese Patienten hierher kommen. Hier von den Spezialisten, die genau von dieser Erkrankung etwas verstehen, betreut werden, und dass diese Spezialisten dann in idealer Weise auch noch an diesem Tag Zeit haben für diesen Patienten."
Gerda Hoppe leidet an einer Hypoglykämie – einer Erkrankung durch permanente Unterzuckerung. Betroffene sind fortwährend müde, leiden unter Kopfschmerzen. Für Ärzte ein schwieriger Fall, denn solche Symptome sind sehr verbreitet, und sie können vieles bedeuten. Die heute 80-Jährige leitet eine Selbsthilfeorganisation mit Sitz in Hamburg.
"Wir werden ja meistens in die Psyche abgeschoben. Sie können das gerne wissen: Man hat mich süchtig gemacht. Ich bin zu meinem 36. Lebensjahr mit Psychopharmaka behandelt worden. Und dann kamen die ganzen Therapien. Und mit 47 Jahren bin ich dahinter gekommen, dass ich Unterzuckerung habe. Und seit dieser Zeit kämpfe ich eigentlich darum, habe mich auch in Amerika um Literatur bemüht. Habe vieles von dort gekriegt. Unsere Ärztekammer hat die erste Literatur von uns gekriegt, trotzdem es in Deutschland schon Veröffentlichungen gegeben hat. Die Ärzte sind vollkommen uninformiert. Die haben keine Ahnung davon."
Glasflaschen, Pipetten und Messzylinder stehen auf den gekachelten Tischen - Beiwerk im Genlabor des Instituts für medizinische Genetik. Die Stars hier sind vier weiße Kästen von der Größe eines Kühlschranks, nur mit deutlich mehr Sound. Es sind "Gensequenzierer", mit denen das Erbgut des Menschen analysiert werden kann. Olaf Rieß:
"Also diese großen Maschinen, die Sie hier sehen, mit denen entziffert man den Code der DNA – sprich unseren genetischen Code. Und da kann man winzige Veränderungen, bis auf den einzelnen Basenbaustein erkennen. Wir vervielfältigen dann gezielt einen Bereich, wo wir wissen, dass Veränderungen vorkommen sollen. Also wir können durchaus am nächsten Tag eine Diagnose haben. Aber wohlgemerkt wenn man vorher schon weiß, an welchem Punkt man schauen muss. Sonst können Analysen viele Wochen, unter Umständen viele Monate in Anspruch nehmen, bis wir einen Fall gelöst haben."
Wenn die Gene bekannt sind, ist schon viel gewonnen. Mehr als 80 Prozent aller seltenen Erkrankungen haben genetische Ursachen. Sogenannte Ataxien, Muskellähmungen, gehören dazu. Mit ihnen beschäftigt sich Ludger Schöls, Professor für klinische Neurogenetik der Universität Tübingen:
"Die Therapie ist unser Ziel. Bei diesen genetischen Erkrankungen haben wir eine sehr große Chance, nämlich dass wir die Ursache das Übels kennen. Wir können das Übel von der Wurzel her anpacken. Wir wissen, wo die Erkrankung beginnt. Eben in diesen genetischen Veränderungen."
Bei den Ataxien sind mehr als 100 Genveränderungen bekannt. Entsprechend vielschichtig sind die Symptome: Ataxien zeigen sich beim Gehen, Betroffene brauchen einen Rollator. Andere können kaum sprechen, weil die Zunge gelähmt ist. Schöls:
"Im Vergleich zu vor zehn Jahren haben sich vor allen Dingen die Diagnostikmöglichkeiten verbessert. Wir können viel mehr Ataxie-Patienten sagen, was die Ursache ihrer Erkrankung ist. Und wir haben die Voraussetzungen geschaffen, dass wir Therapiestudien machen können. Dort sind wir für nur ganz wenige Ataxie-Formen bisher angelangt, die aus ihren Stoffwechselveränderungen heraus gleich die Idee mitgegeben haben, wie man dort eingreifen könnte."
Zum Beispiel mit Vitamin E. Immerhin bei jener Ataxie-Form, die sich durch chronischen Vitamin E-Mangel auszeichnet, kann eine Hochdosis-Therapie mit Vitamin E zumindest eine Linderung der Symptome bewirken. Ein seltener Glücksfall.
An der Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover spielen Krankenhausmusiker auf Station. Viele Kinder bleiben hier über Wochen, man bemüht sich um ein wenig Ablenkung.
"Die Patienten kommen aus der ganzen Welt. Wir haben natürlich auch Patienten aus Deutschland behandelt. Aber eben auch Patienten aus anderen Ländern: Wir haben zwei deutsche Patienten dabei. Wir haben zwei Patienten aus Russland. Einen Patienten aus Ungarn. Einen aus den USA. Einen aus Australien, der demnächst zu uns kommt."
Die Patienten von Professor Christoph Klein leiden unter dem Wiskott-Aldrich-Syndrom. Der Fall könnte zu einer weiteren Erfolgsgeschichte werden, denn als eines der wenigen Zentren weltweit erprobt die Klinik für pädiatrische Hämatologie und Onkologie eine Gentherapie gegen das Wiskott-Aldrich-Syndrom. In Deutschland sind pro Jahr nur drei Neugeborene betroffen. Nur Jungen, weil das defekte Gen auf einem Geschlechtschromosom liegt. Klein:
"Die betroffenen Kinder leiden an immer wiederkehrenden Infektionen. An einer Neigung, Ekzeme auszubilden. Darüber hinaus haben sie eine Blutungsneigung aufgrund einer verringerten Zahl von Blutplättchen. Und schließlich prädisponiert diese Erkrankung auch für eine bestimmte Art von Lymphknoten-Krebserkrankungen. Das heißt, es ist eine sehr komplexe Erkrankung, die aus diesem Immundefekt resultiert, der dadurch entsteht, dass ein einziges Gen – das nennen wir WASP – nicht richtig funktioniert."
Nach vorklinischen Studien in Boston, USA, entschloss sich Christoph Klein, ein gesundes WASP-Gen mit Hilfe von Viren in die Blutstammzellen von Patienten einzuschleusen. Die eigentliche Gentherapie findet außerhalb des Körpers statt. Dazu werden die Stammzellen über fünf Tage im Labor manipuliert und immer wieder überprüft, ob sich zum Beispiel Krankheitserreger eingenistet haben. Am Ende sind es rund 200 Milliliter Blut, die in den Körper zurückgeführt werden. 2006 startete Christoph Klein die Behandlung bei zwei Kindern – damals eine Weltpremiere:
"Beide Kinder betrachten wir nun drei Jahre nach diesem Eingriff als geheilt. Müssen aber dennoch vorsichtig sein, denn hier und heute kann niemand sagen, ob diese Heilung zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch für die nächsten Jahre und Jahrzehnte stabil bleibt."
Barbara Kleffmann aus Bielefeld leidet unter dem Ehlers-Danlos-Syndrom. Das ist eine erblich bedingte Bindegewebsschwäche, die auch die Gefäßwände betrifft. Das kann zu lebensgefährlichen Einblutungen führen.
"Wenn ich mich oben im Brustbereich stoße, kann es passieren, dass sich das Blut einen Weg sucht und ich das Hämatom irgendwo im Oberschenkel habe, weil sich das Blut da ganz durchwuselt, um irgendwo Platz zu kriegen, wo es sich festsetzt. Dadurch, dass die Gefäßwände zu labil sind, können diese Wände reißen. Das kann schon passieren, sagen wir mal, Sie helfen Ihrer Nachbarin, tragen den Kinderwagen ein, zwei Treppen hoch. Der Griff vom Kinderwagen berührt Sie im Grunde nur sehr leicht in der Bauchgegend. Sie merken im ersten Moment nichts, und es kann passieren, dass Sie dann nach einer Stunde umkippen, sind tot und keiner weiß, warum."
So wie das Ehlers-Danlos-Syndrom ist die Mehrzahl der seltenen Erkrankungen immer noch unheilbar. Bei vielen kennt man noch nicht einmal die genauen Ursachen, geschweige denn Möglichkeiten zur Linderung der Leiden. Entsprechend groß ist der Forschungsbedarf. In Deutschland beschäftigen sich Universitäten und andere Forschungseinrichtungen intensiv mit verschiedensten Erkrankungen. In einem Fall half ihnen ein Privatmann auf die Sprünge: Dr. Tom Wahlig aus Münster. Sein Sohn Henry war gerade sechs Jahre alt, als er an der HSP – der Hereditären Spastischen Spinalparalyse erkrankte. Wahlig:
"Die HSP ist eine fortschreitende Neurodegeneration des so genannten ersten Neurons. Das ist also das Nervensystem, das herunter geht in die Beine und die Befehle dort ankommen lässt. Und die Leute können mehr und mehr die Beine nicht mehr bewegen – bis hin zum Rollstuhl. Wenn sie lange genug leben, landen sie im Rollstuhl. Sie sterben nicht an der Krankheit, aber sie landen im Rollstuhl."
Als Dr. Tom Wahlig erstmals mit dem Leiden seines Sohnes konfrontiert war, gab es nicht einmal eine klare Vorstellung vom Auslöser der Erkrankung,
"und deshalb habe ich irgendwann die Idee gehabt, die Stiftung zu gründen, und mit dieser Geldstiftung, die ja immer ein Grundkapital hat, das drin bleiben muss, und den Erträgen Forschungsprojekte ins Leben zu rufen, die sich jetzt ganz speziell mit der HSP befassen. Und es ist mir wirklich gelungen, langsam aber sicher, die Leute dahin zu kriegen, in den Universitäten Forschung in Gang zu bringen. Und mein erstes Projekt war, das Gen zu finden, und das wurde auch gefunden mit unserer Hilfe – was die Krankheit verursacht."
Das war vor elf Jahren. Gegenwärtig stecken 500.000 Euro in der Stiftung. Das Fördervolumen beträgt 50.000 Euro im Jahr. Eine vergleichsweise kleine Summe, gewiss, doch Tom Wahlig konnte viel damit bewirken – bis heute:
"Das ist der entscheidende Punkt, dass wir sagen, wir geben Anschubfinanzierung. Dann kommt die DFG, dann kommt die Europäische Lalala und wie die alle heißen. Aber es muss erst einmal die Initialzündung kommen. Und da sagen wir, das ist unsere Aufgabe. Wir gehen da hin und sagen, hier sind 50.000, bezahle ein Jahr einen Doktoranden oder was weiß ich, und dann stelle ich die großen Anträge. Natürlich kann ich mit meinen 50.000, auch selbst mit den 100.000 mich nur lächerlich machen, aber dann kommt, und das hat die Erfahrung für elf Jahre jetzt bewiesen, dann kommen wirklich Projekte zustande, die einen großen Rahmen haben und wo auch wirklich was rauskommt."
Rund 2000 Menschen in Deutschland sind gegenwärtig von der HSP betroffen. Der auslösende Gendefekt ist zwar gefunden, von Heilung kann bis heute aber immer noch keine Rede sein, und so sieht es bei den meisten der insgesamt 8000 seltenen Krankheiten aus. Immerhin: Forschungsprojekte existieren, mit Erfolgen ist irgendwann zu rechnen. Was bislang vor allem gefehlt hat, sind fachübergreifende Netzwerke aus Kliniken, Spezialambulanzen und Praxen, um die Patienten schnellstmöglich zu erreichen und mit ihren sehr unterschiedlichen Erkrankungen quasi aus einer Hand zu betreuen. Netzwerke sind wichtig für den Fortschritt. Orpha.net zum Beispiel. Die Zentrale sitzt in Paris mit Niederlassungen in praktisch allen europäischen Ländern und darüber hinaus in der Türkei, Marokko und Tunesien. In Deutschland leitet Professor Manfred Stuhrmann-Spangenberg die Datenbank.
"Orpha.net wendet sich prinzipiell an jeden Menschen, der sich über seltene Erkrankungen informieren möchte. Aus unseren Nutzerbefragungen wissen wir, dass etwa die Hälfte der Nutzer Ärzte oder genetische Berater oder Fachpersonal – medizinisches Fachpersonal darstellt. Ein Drittel der Nutzer sind Patienten oder Angehörige."
Das Netzwerk ist konzipiert als Kommunikationstool. Erklärtes Ziel ist aber auch, Forschung anzustoßen. Stuhrmann-Spangenberg:
"Ein Hauptproblem bei klinischer Forschung seltener Erkrankungen besteht darin, dass es immer nur so wenige Patienten gibt. Und über Orpha.net ist es auch möglich, dass Patienten sich melden für Forschungsprojekte. Und andererseits können natürlich auch Ärzte ein Forschungsprojekt planen über eine seltene Erkrankung und schauen, was gibt es denn jetzt auf diesem Gebiet europaweit zum Beispiel. An welche Kollegen kann ich mich jetzt wenden, wenn ich eine gemeinsame Studie zum Beispiel plane. Und wenn jetzt ein Forscher aus Spanien oder aus England über die gleiche seltene Erkrankung forscht, dann kann er versuchen, eine multizentrische Studie zu initiieren."
Menschen mit seltenen Erkrankungen – es sind oft verzweifelte Patienten. Sie warten viele Jahre auf eine Diagnose. Es gibt keine integrierte und fachübergreifende Versorgung, keine Aussicht auf Heilung. Die "Nationale Konferenz für seltene Erkrankungen", an der Regierungsvertreter, Ärzte, Krankenkassen und Selbsthilfeorganisationen teilnehmen, will im Oktober einen Aktionsplan erarbeiten. Viele Forderungen liegen schon auf dem Tisch: Neue Aus- und Fortbildungsangebote für niedergelassene Ärzte, damit sie für seltene Erkrankungen sensibilisiert werden. Desweiteren: "Netzstrukturen", Fall-Manager und Spezialkliniken für eine bessere Behandlung. Woher das Geld dafür kommen soll, steht allerdings noch in den Sternen.
Renate Strauch aus Duisburg leidet unter der "Neurofibromatose, Typ II". Ihr Kopf ist voller kleinerer und größerer Tumoren.
"Ich bin 1998 das erste mal operiert worden. Damals wurde mir ein hühnereigroßer Tumor direkt hinter der Stirn entfernt. Bei der OP wurden leider die Riechnerven zerstört. Ich kann seitdem nicht mehr riechen und auch nicht mehr schmecken. Im Jahre 2004 hatte ich einen Tumor am Hörnerv, der entfernt werden musste. Ich kann seitdem auf dem rechten Ohr nicht mehr hören, und mein Gesicht ist auf der Seite auch gelähmt. Also ich kann das Auge nicht mehr schließen. Wenn ich Pech habe und die Krankheit in dem Tempo fortschreitet, kann es sein, dass ich noch öfter operiert werden muss. Es gibt keine Medikamente. Ich kann eigentlich gar nichts machen, außer jedes Jahr zum Kernspin, um zu sehen, ob da wieder irgendwas ist oder nicht. Und das belastet schon sehr."