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Aus der Geschichte lernen

Der Programmdirektor des Deutschlandfunk, Günter Müchler, ist der Auffassung, dass das Kriegsende die Deutschen auch weiterhin beschäftigen wird. Anlässlich der neuen Serie im Deutschlandfunk zum 60. Jahrestages des Kriegsende, betonte er, es gehe in allen Beiträgen darum, dass aus der Geschichte gelernt werde. Ob das möglich sei, darüber ließe sich zwar streiten. Wenn es aber möglich sei, dann am Besten dadurch, dass Geschichte erzählt werde von denen, die sie erlebt haben.

Moderation: Jürgen Liminski |
    Jürgen Liminski: Am 8. Mai 1945 unterschrieb Admiral Dönitz als Stellvertreter Hitlers die Kapitulation Deutschlands. Der 2. Weltkrieg war zu Ende. In 13 Tagen wird man dieses Ereignis, dass sich in diesem Jahr zum 60. Male jährt, mit Reden und Feiern gedenken. Aber was dachten, fühlten und erlebten die Menschen, die Kinder, Frauen und Bürger in dem daniederliegenden, zerstörten Land. Der Deutschlandfunk hat prominente Zeitzeugen befragt. Herausgekommen ist eine Serie mit dem Titel "Als stünde die Zeit still, Mai 1945". Was waren die Grundideen, warum diese Zeugen? Welche Intentionen verfolgt unser Programm damit? Zu diesen Fragen begrüße ich im Studio den Programmdirektor des Deutschlandfunks, Günter Müchler. Herr Müchler, es ist klar, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender mit diesem Namen, dieser Geschichte, ein solches Ereignis nicht achtlos vorbei gehen lassen kann. Die Frage ist: Wie gedenken wir? Was war die Grundidee für diese Serie?

    Günther Müchler: Vor 60 Jahren, Sie haben es gesagt, kapitulierte die Wehrmacht Hitler-Deutschlands. Was da geschah, war Niederlage und Befreiung zugleich. Der Deutschlandfunk sendet aus diesem Anlass, eine ganze Fülle von Beiträgen, Features, Analysen, Essays. In all diesen Beiträgen geht es uns darum, dass aus der Geschichte gelernt wird. Ob das möglich ist, ob es überhaupt möglich ist, aus der Geschichte zu lernen, darüber lässt sich streiten. Wenn es aber möglich ist, dann am Besten dadurch, dass Geschichte erzählt wird, und zwar von denen, die sie erlebt haben.

    Liminski: Geht es dabei um politische Wirkungen, oder um menschliche Wirkungen?

    Müchler: In dieser Serie geht es darum, sich anzuhören, wie Personen, die allesamt in der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle gespielt haben, die NS-Zeit erlebt haben, den Krieg erlebt haben und auch das Kriegsende erlebt haben. Sie erzählen das in einer Weise, die unter die Haut geht und insofern sind es sehr menschliche, sehr anrührende Geschichten.

    Liminski: Gibt es denn ein Muster, eine bestimmte Machart für die einzelnen Stücke?

    Müchler: Die 14 Erzählungen haben zwei ganz vorzügliche Autorinnen gesammelt, nämlich Käthe Jovanovitch und Fanny Rap. Sie haben mit 14 Menschen gesprochen, denen nur eines gemeinsam ist, sie entstammen alle den Jahrgängen 1925 bis 1935, das heißt, sie sind heute zwischen 70 und 80 Jahre alt. Ansonsten handelt es sich um Menschen mit sehr unterschiedlichen Biographien. Sie haben die NS-Zeit und den Krieg entweder als sehr junge Opfer erlebt, wie zum Beispiel Ruth Klüger oder Günter Kunert, als Kinder jüdischer Eltern, oder als Kinder von Nazis, wie Carola Stern oder Wolfram Siebeck oder als Kinder aus bürgerlichem, bildungsbürgerlichem Haus, wie Joachim Fest oder Otto Schily, mit dem übrigens unsere Serie heute beginnt, oder auch als Kinder von Widerstandskämpfern, wie Ralf Dahrendorf oder die Brüder Dohnanyi.

    Liminski: 14 Beispiele, 14 Lebensehrfahrungen oder Zeugen, 60 Jahre - nun ist das noch nicht so lange her, dass man aus biologischen Gründen nur schwer jemanden finden könnte. Nach welchen weiteren Kriterien hat der Sender die Zeugen gesucht? Gab es auch politische Kriterien?

    Müchler: Nein, politische Kriterien gab es nicht. Es ging den Autorinnen und uns darum, sehr unterschiedliche Lebenswege aufzeigen zu können. Und daraus sind, davon bin ich ganz überzeugt, sehr wichtige, sehr eindringliche Erzählungen entstanden. Sie sind auch eindrucksvoll deshalb, weil wir wissen, es sind die letzten Zeitzeugen, die wir befragen können.

    Liminski: Gab es denn bei der Suche auch Schwierigkeiten, also prominente Leute, die sagten, "ich will von all dem nichts mehr wissen"?

    Müchler: Ich glaube, dass die Autorinnen auf Personen gestoßen sind, die ihr Schicksal, ihren Lebensweg reflektiert haben, die auch darum wissen, wie wichtig es ist, Geschichte weiter zu geben. Insofern war es vielleicht in dem einen oder anderen Fall nicht so ganz einfach, die Menschen zum Sprechen zu bringen, aber insgesamt gesehen ist es in überzeugender Weise gelungen.

    Liminski: Sind denn die lebendigen Berichte von Einzelschicksalen, um die handelt es ja auch, eine weise Geschichte nicht nur präsent zu machen, sondern auch zu verarbeiten?

    Müchler: Ich glaube, dass man tatsächlich nur dann aus der Geschichte lernen kann, wenn Geschichte sich gewissermaßen verkörpert in konkreten Menschen, in konkreten Schicksalen.

    Liminski: Ist denn Ihrer Meinung nach die Verarbeitung, Bewältigung der Vergangenheit mit diesem 60. Gedenktag des Kriegsendes in dieser Form, wenn nicht für jeden einzelnen abgeschlossen, so doch für die Politik?

    Müchler: Jeder Gedenktag birgt die Gefahr, dass man sich gewissermaßen auf diese Weise, von der Pflicht, sich zu erinnern, entsorgt. Ich glaube nicht, dass das durch das jetzt vor uns stehende Jubiläum geschehen wird. Ich glaube, dass die NS-Zeit und der Krieg, das Kriegsende uns auch weiterhin beschäftigen wird, uns als Menschen, denn verdrängen macht letztlich krank, es ist auch einfältig, wenn Sie so wollen. Schon gar nicht darf die Politik sich mit diesen Gedenkfeiern von der Pflicht zur Erinnerung entlasten. Eine geschichtsvergessene Politik ist immer eine schlechte Politik.

    Liminski: "Als stünde die Zeit still, Mai 1945". Das war Günter Müchler, Programm-Direktor dieses Senders.