Die ganze Welt nimmt Anteil am Schicksal der Kinder, die in Thailand in einer Höhle eingeschlossen sind. Dennoch wird nicht nur im Netz eine Frage laut: Warum gilt den jungen Fußballern und ihrem Trainer offenbar mehr Empathie als den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer? Diese Menschen befinden sich doch genauso in Todesgefahr. Wir diskutieren darüber viel in unserer Redaktion. Einige Grundregeln des Nachrichtengeschäfts lassen verstehen, warum hier gerade mit zweierlei Maß gemessen wird.
Die Nähe zum Geschehen
Ein wichtiger Nachrichtenfaktor ist die Nähe. Was in unserem Umfeld geschieht, das interessiert uns oft mehr als Vorgänge in weiter Ferne. Das fängt schon beim Wetterbericht an. Denn wenn es morgen bei uns schwer regnen soll, dann ist das einfach wichtiger als das Wetter in Australien.
Das Nahe ist auch das Vertraute. Wenn sich etwas um die Ecke ereignet, so kennen wir möglicherweise Betroffene oder zumindest den Ort des Geschehens. Vielleicht waren wir gestern noch dort. Wir freuen uns mit oder wir leiden mit.
Thailand ist aber nicht näher als das Mittelmeer. Viele Touristen reisen dorthin, doch das Mittelmeer kennen vermutlich immer noch deutlich mehr Menschen.
Kulturelle Nähe
Neben der räumlichen Nähe und der persönlichen Vertrautheit zählt auch die kulturelle Nähe. Sie wird oft als Grund dafür angeführt, weshalb Ereignisse in den USA mehr interessieren als solche in Afrika. Auch hier lässt sich für unsere Frage nichts ableiten. Denn aus Sicht von Bottrop oder Rosenheim ist der Norden Thailands kulturell nicht verwandter als die Länder, aus denen die Bootsflüchtlinge kommen, die ihr Leben auf dem Mittelmeer riskieren.
Können wir uns in die Lage der Betroffenen versetzen?
Ein anderer Nachrichtenfaktor ist die Frage, ob man sich in die Lage der Betroffenen versetzen kann. Es ist simpel: Wer immer wieder einmal Aufzug fährt, den interessiert es, wenn Menschen im Aufzug stecken bleiben, und sei es in Nairobi. Für die Auswirkungen von Dürre in Afrika fehlt vielen von uns in Mitteleuropa dagegen die Vorstellungskraft, weshalb dieses Thema in den Medien kein Selbstläufer ist.
Auch hier sehe ich keinen klaren Unterschied zwischen Thailand und dem Mittelmeer. Es gibt sicher bei uns einige, die sich schon einmal in eine Höhle gewagt haben, doch wird auch mancher schon einmal auf dem Meer Angst gehabt haben, egal wie groß das Schiff oder Boot gewesen ist.
Das Außergewöhnliche zieht Aufmerksamkeit auf sich
Aufmerksamkeit bemisst sich nicht zuletzt daran, ob etwas eher normal oder außergewöhnlich ist. In Deutschland unvergessen ist das "Wunder von Lengede", bei dem 1963 elf Bergleute zwei Wochen nach einem Grubenunglück gerettet wurden. Kaum jemand weiß noch, dass damals 29 Bergleute ums Leben kamen. Ähnlich wie Lengede war die Rettung von über 30 Bergleuten im chilenischen San José im Jahr 2010. Damals mussten die Männer 69 Tage ausharren, bis sie wieder Tageslicht sehen konnten. Auch hier schaute die ganze Welt hin.
Ein guter Ausgang ist möglich
Ereignisse dieser Art faszinieren nicht nur durch das Außergewöhnliche, sondern im besten Fall anschließend auch durch das Gefühl, dass es "gut ausgegangen" sei. Außerdem lassen sich solche Ereignisse sehr einfach mitverfolgen, wie ein Fußballspiel. Es gibt einen Ort des Geschehens, einen Anfang und ein Ende. Und dazwischen hoffen wir alle auf einen guten Ausgang.
Gegen solche besonderen Einzelereignisse wirkt die Flucht über das Mittelmeer inzwischen alltäglich, und vielen ist das Geschehen zu kompliziert. Genauso wie viele Menschen nach Jahren des Vietnamkriegs, des Irakkriegs, der Anschläge in Afghanistan nicht mehr hinschauen wollten, so haben sich auch viele an den Tod auf dem Mittelmeer gewöhnt, auch weil sie das Gefühl haben, dass sie eh nichts ändern können.
Bestimmte Themen haben wie der israelisch-palästinensische Konflikt das Schicksal, dass sie über die Jahrzehnte mehrfach akutes Interesse genießen, dann aber immer wieder dem Vergessen anheim fallen. Mit der Flucht über das Mittelmeer könnte ähnliches geschehen.
Die Aufmerksamkeit der Medien
Besonders bestimmend für die Wahrnehmung ist die Frage, wie sehr sich Journalisten um ein Thema kümmern. In Thailand, so sagen es die Behörden, sind an die eintausend Journalisten aus aller Welt im Einsatz. Ihre Berichte lösen in den sozialen Medien ein Vielfaches an Texten, Posts und Tweets aus. Mit solch einem Interesse können die Flüchtlinge im Mittelmeer derzeit nicht rechnen.
Wenn auch nur fünfzig Kolleginnen und Kollegen wichtiger internationaler Medien ein Boot begleiten würden, wenn sie die Schicksale der Insassen anschaulich machen würden, dann sähe die Anteilnahme vermutlich anders aus. Das ist keine bloße Vermutung. Immer wieder gibt es Phasen, in denen über die Migration derart berichtet wird.
Es ist noch keine drei Jahre her, als das Bild eines toten Flüchtlingskindes an einem Strand in der Türkei die Top-Nachricht war. Wir alle haben es noch im Kopf und wir alle wissen, dass die Migrationskrise damals ganz anders diskutiert wurde, nämlich intensiver, empathischer und komplexer, also mit den ganzen Hintergründen wie Globalisierung, zerfallenden Staaten, wirtschaftlicher und politischer Mitverantwortung des Westens.
Am Ende geht es um Emotionen
Nun sind wir am entscheidenden Punkt angekommen, dem der Sympathie. Auch in den Flüchtlingsbooten sind Kinder in Gefahr. Aber bei vielen Menschen dominieren andere Emotionen. Einige denken, die Flüchtlinge seien selbst schuld. Sie hätten ja zuhause bleiben können. Andere sehen sich, ihre Familien, ihr Land durch die Migration bedroht. Bei den Kindern in Thailand kann sich das absolut menschliche und völlig berechtigte Mitleid Bahn brechen, sicher verbunden mit einer Prise Neugier und Sensationsempfinden.
Die Wahrnehmung von Bedrohung hat sich in ganz Europa ausgebreitet und dominiert in vielen Ländern inzwischen die Diskussion über Migration. Das Thema ist überall zum innenpolitischen Thema geworden und wird vielfältig benutzt. Das ist der entscheidende Unterschied zum Herbst 2015, als in manchen Ländern noch die Not der Flüchtlinge im Vordergrund stand und spontan reagiert wurde.
Das ist übrigens historisch nichts Neues. Heute sind alle stolz, wenn ihr Land in der NS-Zeit Menschen aufgenommen hat, die in Deutschland oder im besetzten Europa in Gefahr waren. Das war damals durchaus anders, selbst in den USA oder Großbritannien.
Warum die Migration inzwischen eine andere gesellschaftliche Bewertung erfährt, das sprengt den Rahmen dieser Betrachtung von Nachrichtenfaktoren. Es hat viel mit Medien zu tun, aber noch viel mehr mit Politik.
Der einzelne Mensch und die Menge
Zu der Frage der Bedrohung passt eine andere Überlegung: Wenn die Flüchtlingskrise ein Gesicht und einen Namen hat, dann lassen sich Menschen empathisch berühren. So war es bei dem schon erwähnten tragischen Tod eines Flüchtlingsjungen an der türkischen Küste. Wenn die Flucht aber nur noch als Massenphänomen wahrgenommen wird, wenn die Sprache von Bildern wie "Flüchtlingswelle" oder "Asylflut" durchzogen wird, dann macht die Empathie bei vielen dem Gefühl der Angst Platz.
Spielt auch Rassismus eine Rolle, haben wir uns in der Redaktion gefragt? Das ist eine schwierige Frage, die ich nicht abschließend beantworten kann. Als nach dem Zweiten Weltkrieg Deutsche aus dem Osten Aufnahme bei Deutschen im Westen, Süden und Norden finden mussten, da hielt sich die Begeisterung dort ebenfalls in Grenzen, auch wenn dies heute fast vergessen ist. Die Aufnehmenden sahen ihre oft knappen Ressourcen bedroht und die kulturellen Unterschiede führten zu Reibung. Aber vermutlich wäre die Wahrnehmung eines Flüchtlingsbootes heute anders, wären seine Passagiere blonde Mädchen und Jungen und nicht Menschen, die erkennbar aus Afrika oder aus dem arabischen Raum kommen.
Die Flüchtlingsfrage darf nicht in den medialen Schatten geraten
Mit Blick auf die Nachrichtenfaktoren lässt sich festhalten, dass die enorme Aufmerksamkeit für die Kinder in Thailand ein ganz normaler Vorgang ist. Was wir erleben entspricht guten menschlichen Regungen, es passt aber auch zu medialen Gesetzmäßigkeiten.
Es gibt keinen Grund, das Schicksal der jungen Fußballer gegen das von Flüchtlingskindern aufzurechnen. Es gibt aber allen Grund, intensiv weiter über die Flüchtlingskrise zu berichten, über einzelne Momente, aber auch über die komplexen Hintergründe. Wie bei allen Themen ist es Aufgabe von Medien, komplizierte Fragen verständlich zu machen und alle nötigen Informationen zusammenzutragen. Wir müssen auch auf die Sprache achten, damit sich nicht falsche Bilder in den Köpfen festsetzen. Der Informationsjournalismus kann nicht mehr tun, aber auch nicht weniger.