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Aus der Nachrichtenredaktion
Viele Flüchtlinge, kein Selfie-Stab

Das Wort des Jahres 2015, Flüchtlinge, ist das Stichwort für das größte politische und gesellschaftliche Thema seit langem. Ein Blick in unsere Nachrichtensendungen der vergangenen zwölf Monate bestätigt das. Und welche Worte waren noch ausschlaggebend für uns? Über Nachrichten als Indikator für das, was wichtig ist.

Von Thorsten Funke |
    Das Wort des Jahres 2015: Flüchtlinge, auf Papier geschrieben.
    Das Wort "Flüchtlinge" landete vor "Je suis Charlie" und "Grexit". (Patrick Pleul/dpa)
    Flüchtlinge also. Aus Sicht der Nachrichtenredaktion geht die Wahl des Wortes des Jahres in Ordnung, das kann jede Kollegin und jeder Kollege hier bestätigen. Kein Thema hat uns in den vergangenen zwölf Monaten mehr beschäftigt, kein Substantiv haben wir häufiger in die Tastaturen getippt. Eine Suche in unserer Datenbank wirft für das zu Ende gehende Jahr mehr als 6.000 Meldungen aus unseren Nachrichtensendungen aus, in denen das Wort "Flüchtlinge" vorkommt. In der ersten davon ging es um die Neujahrsbotschaft des Papstes. Und die Datenbank erfasst nur die Nachrichten, die zur vollen Stunde gesendet werden. Rechnet man die Sendungen zur halben Stunde dazu, haben Sie das Wort des Jahres 2015 bei uns noch viel häufiger gehört (und auch im Internet gelesen).
    Nachrichten sind ein guter Indikator dafür, welche Themen eine Gesellschaft beschäftigen. Für das Jahr 2014 ergibt die Datenbankrecherche 1.474 Flüchtlings-Meldungen (wir sehen uns also einer Steigerung um das Vierfache gegenüber). Im Jahr 2010 waren es nur 202! Wir nehmen nicht an, dass die Jury der Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS) in unser Archiv schaut, um sich inspirieren zu lassen (dagegen spricht die Tatsache, dass das Wort des Jahres 2014, "Lichtgrenze", in unseren Nachrichten an genau zwei Tagen vorkam, einer davon war der Tag, an dem es gekürt wurde), aber wir freuen uns darüber, als Wortmenschen, wenn die GfdS nicht nur im Feuilleton oder auf der Straße fündig wird, sondern auch bei uns.
    Manche Wörter passen einfach nicht zu uns
    Zugegeben: Einfach machen wir es ihnen nicht. Auf Platz zwei dieses Jahr landete "Je suis Charlie". Weltweit inzwischen ein geflügeltes Wort, bei uns aber nur 19 Treffer. Das ist wohl mit unserer Zurückhaltung gegenüber Fremdwörtern zu erklären. "Grexit", Platz drei, ging in unseren Nachrichtensendungen 185 Mal über den Äther, und das sind 185 Mal zu viel, denn eigentlich gehören solche flapsigen Abkürzungen nicht zu unserem Stil. Bei uns heißt es schön in aller Ausführlich- beziehungsweise Umständlichkeit "Austritt Griechenlands aus der Gemeinschaftswährung". Es gibt Hörer, die lieben uns dafür.
    "Selfie-Stab", ebenfalls unter den ersten zehn der Auswahl des Wortes des Jahres 2015, kommt gottseidank gar nicht vor, nur einmal "Selfie", und das auch nur in der Überschrift, die lediglich im Internet zu sehen, aber nicht im Radio zu hören war. Und im Internet ist, wie jedermann weiß, dieses Wort zuhause.
    Manche Wörter passen also einfach nicht zu uns. Es kommt aber auch vor, dass wir etwas übersehen. Ein weiteres Beispiel aus der engeren Auswahl der Wort-des-Jahres-Jury: "Wir schaffen das", das Zitat von Bundeskanzlerin Merkel im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. Es fiel auf der Sommer-Pressekonferenz am 31. August, ist an diesem Tag aber nicht in den Deutschlandfunk-Nachrichten zu hören. Die Bedeutung der schlichten Formulierung entging uns, die spätere Karriere des Satzes haben wir nicht antizipiert. Und das, obwohl Merkel damals die rhetorische Figur der Wiederholung nutzte, eine so genannte Anadiplose: "Wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden".
    Es waren nur drei Wörter von 2.264. Vielleicht hätten wir genauer zuhören sollen.