Aus der Nachrichtenredaktion
Welche Zahlen wir zum Coronavirus nennen und warum

In der Berichterstattung über die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland und der Welt spielen Zahlen eine zentrale Rolle. Als Nachrichtenredaktion gehört es zu unseren Aufgaben, die Daten zu sichten, einzuordnen und zu entscheiden, welches die relevantesten Zahlen sind. Ein Einblick in unsere Überlegungen.

Von Rita Vock |
    Grafik: Wachstum der aktiven Fälle in Deutschland
    Wachstum der aktiven Fälle in Deutschland (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Radionachrichten und Zahlen waren noch nie gute Freunde. Denn zu viele Zahlen können eine gesprochene Meldung schnell unverständlich machen. Um Hörerinnen und Hörer gut zu informieren, sie dabei aber nicht mit Daten zu überrollen, gilt es, nur die wichtigsten Zahlen zu nennen und diese nach Möglichkeit auch einzuordnen. Welche Zahlen aber die wichtigsten sind, war im Verlauf der Pandemie immer wieder Gegenstand von Debatten. Forschung, Behörden und Medien haben bei diesem Thema auch durchaus Lernprozesse durchlaufen.
    "Fixierung auf Zahlen"?
    Hörerinnen und Hörer fragen uns in jüngster Zeit darum auch häufiger, warum wir bestimmte Zahlen nennen und auf andere verzichten. Kritik an unserer Berichterstattung, die wir sehr ernst nehmen, las sich zuletzt unter anderem so: "Absolute Zahlen ohne Kontext sind mehr wertlos als hilfreich". Ein anderer Hörer wirft uns eine "Fixierung auf Zahlen" vor, eine weitere Zuschrift sieht uns, weil wir mit dem Robert Koch-Institut eine Behörde zitieren, gar in der Rolle einer "Pressestelle der Bundesregierung". Vermutet wird auch, die Nachrichten "wollten" durch die immer weiter steigenden Zahlen "einfach nur ein Angstgefühl schüren".
    Journalistische Berichterstattung muss auf Fakten gründen, dies gilt für Covid-19 und Sars-CoV-2 wie für alle anderen Themen. Und wie bei anderen aktuellen Nachrichtenlagen auch sind die bislang bekannten Fakten mit bestimmten Unsicherheiten behaftet und können sich im Verlauf der Zeit ändern, weiterentwickeln oder auch später als unzutreffend herausstellen. Es ist unser Job, dies zu beobachten, einzuschätzen und den jeweiligen Wissensstand so transparent wie möglich zu vermitteln. Deshalb gilt: Wenn wir eine Pandemie beschreiben wollen, brauchen wir dazu Zahlen.
    Lange Zeit stand die Zahl der insgesamt festgestellten Infektionen im Vordergrund der Berichterstattung - bei uns im Deutschlandfunk wie auch in vielen anderen Medien. Bis etwa Mitte Mai wiederholte sich so fast allmorgendlich die Meldung, die Zahl der registrierten Infektionen sei auf den Wert xy gestiegen. Daran war sachlich nichts falsch, aber die Meldung verlor über die Zeit nach und nach an Relevanz. Denn die Gesamtzahl der seit dem Beginn der Pandemie jemals festgestellten Ansteckungen konnte schließlich nur steigen und niemals sinken. Interessanter wurde, wie stark der Anstieg war, ob er zurückging und wie viele Menschen zum aktuellen Zeitpunkt (noch) infiziert waren. Auf diese Erkenntnis haben wir reagiert und unsere Berichterstattung umgestellt.
    Drei wichtige Kennzahlen
    Gegenwärtig konzentrieren wir uns in den Deutschlandfunk-Nachrichten auf drei Werte: Die neu gemeldeten Infektionsfälle, die Zahl der Toten und die Zahl der sogenannten aktiven Fälle.
    Die Zahl der neu gemeldeten Infektionsfälle zeigt, wie viele bestätigte Coronavirus-Fälle dem Robert Koch-Institut in den vergangenen 24 Stunden gemeldet wurden. Im April wurden hier Höchstwerte von über 6.000 Fällen erreicht. Im Juni und Juli waren es täglich in aller Regel nur einige hundert. Im August stieg diese Kenngröße dann wieder an, zuletzt bis auf über 2.000 neu registrierte Infektionen an einem Tag.
    Die Zahl der neuen Todesfälle wird ebenfalls täglich vom RKI bekannt gegeben, und wir berichten auch täglich darüber. Das Robert Koch-Institut erfasst in dieser Statistik nach eigenen Angaben Menschen, die "in Zusammenhang mit Covid-19-Erkrankungen" gestorben sind.
    Mit Fortschreiten der Coronakrise hat zudem die Zahl der aktiven Fälle an Bedeutung gewonnen. Hierbei handelt es sich um eine Schätzung, wie viele Menschen gegenwärtig mit Sars-CoV-2 infiziert sind beziehungsweise an Covid-19 leiden. Solange die Zahl der aktiven Fälle zurückgeht, verringert sich auch das Ausmaß der Epidemie in Deutschland. Steigt die Zahl, breitet sich das Virus aus. Die Zahl der aktiven Fälle ergibt sich aus einer einfachen Rechnung: Von der Zahl der insgesamt festgestellten Infektionen zieht man die Zahl der Verstorbenen und die Zahl der (mutmaßlich) wieder genesenen Patientinnen und Patienten ab.
    Das Robert Koch-Institut (RKI) gibt diese und weitere Zahlen täglich am frühen Morgen heraus, und wir greifen sie sowohl in unseren Radionachrichten als auch - in ausführlicherer Form - in unseren Online-Nachrichten auf. Zur Erklärung der Zusammenhänge, zur Einordnung der Zahlen und für weitere Hintergründe bieten die Verbreitungswege im Internet natürlich wesentlich mehr Möglichkeiten. Kolleginnen und Kollegen aus der Online- und der Wissenschaftsredaktion des Deutschlandfunks haben ein unmfangreiches Dossier mit aktuellen Grafiken, Erläuterungen und Debattenbeiträgen aus Forschung und Politik erstellt, das ebenfalls laufend aktualisiert wird.
    Wie verlässlich sind die Zahlen?
    Die Zahl der festgestellten Neuinfektionen ist grundsätzlich verlässlich: Das Robert Koch-Institut verzeichnet keine Verdachtsfälle, sondern nur laborbestätigte Infektionen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2. Wie viele dieser Infektionen festgestellt werden, hängt aber ganz maßgeblich davon ab, wie viele Tests gemacht werden: Mehr Tests führen dazu, dass auch mehr Infektionen bekannt werden. Wer symptomfrei bleibt oder nur etwas hustet, geht demnach zumeist nicht in die Statistik ein, jedenfalls so lange es keine Reihentestungen gibt. Es existiert also eine Dunkelziffer. Deshalb gilt: Niemand kann derzeit wissen, wie viele Menschen sich in Deutschland mit dem Virus angesteckt haben. Was man dagegen sehr genau kennt, ist die Zahl der festgestellten und registrierten Infektionen. Auch die Zahl der insgesamt durchgeführten Tests wird von den Laboren wochenweise an das RKI gemeldet und von diesem jeden Mittwoch veröffentlicht. Dann erfährt man auch, welcher Anteil der insgesamt durchgeführten Tests positiv ausgefallen ist.
    Bei der Totenzahl machen wir in unserer Berichterstattung deutlich, dass das Coronavirus nicht in jedem einzelnen Fall als (einzige) Todesursache feststeht. Wir formulieren deshalb häufig, dass es um Menschen geht, die "an oder mit" dem Coronavirus gestorben sind. Falsche Zuordnungen sind hier in beide Richtungen möglich: Jemand kann aufgrund einer festgestellten Infektion als Coronavirus-Opfer gezählt werden, obwohl letztlich eine andere Erkrankung zum Tod geführt hat. Auf der anderen Seite gibt es Fälle, in denen Menschen an einer unentdeckten Coronavirus-Infektion versterben. RKI-Präsident Wieler ging im April davon aus, dass der zweite Fall häufiger sein dürfte, sodass die Gesamtzahl der Toten vermutlich eher unter- als überschätzt werde. Weiteren Aufschluss kann hier im Laufe der Zeit die Beobachtung der Übersterblichkeit geben.
    Grundlage der Angabe zu den aktiven Fällen ist die Zahl der Genesenen. Diese ist eine Schätzung, denn die Coronavirus-Infektion ist zwar meldepflichtig - es gibt aber keine Pflicht, sich bei den Behörden wieder gesund zu melden. Wer nicht ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wird nach zwei Wochen pauschal wieder als gesund eingestuft. Stationär behandelte Covid-19-Patienten gelten sieben Tage nach ihrer Entlassung als genesen. Inwieweit dies der Realität entspricht, ist schwer einzuschätzen. Immer wieder wird auch von deutlich langwierigen Verläufen und möglichen dauerhaften Schäden nach der durchgemachten Infektion berichtet. Dennoch sind die Angaben zu Genesenen und aktiven Fällen nützlich, um die Ansteckungsgefahr im Land abzuschätzen. Um keine falsche Exaktheit vorzuspiegeln, geben wir diese Zahlen in aller Regel nur gerundet an.
    Und was ist aus dem R-Wert geworden?
    Die Reproduktionszahl R war eine Zeit lang in aller Munde, nun wird sie kaum noch zitiert. Wie kommt das? Der Wert R wird nach wie vor täglich vom Robert Koch-Institut berechnet und in seinem Lagebericht kommuniziert, seit Mitte Mai sogar in mehreren Varianten. Die Kennziffer wird aus den Infektionszahlen im Zeitverlauf berechnet und gibt an, wie viele andere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt: Ist R größer als 1, breitet sich das Virus weiter aus. Ist R kleiner als 1, geht die Ausbreitung zurück. Bundeskanzlerin Merkel hatte dies der Öffentlichkeit Mitte April in einem seitdem viel zitierten Auftritt erklärt und betont, wie wichtig diese Kenngröße sei.
    In jüngster Zeit hat die Reproduktionszahl jedoch nach unserer Einschätzung an Nachrichtenwert verloren. Ein Grund dafür ist, dass sie sich nicht mehr deutlich verändert hat. Stiege sie deutlich über 1 oder fiele sie deutlich darunter, wäre dies nach wie vor bedeutsam. Allerdings ist auch die Genauigkeit der R-Werte dem RKI zufolge nicht besonders hoch. Die Statistiker geben dazu immer eine Bandbreite an: Zu einem R-Wert von 1,1 heißt es dann beispielsweise, er liege mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zwischen 0,9 und 1,3. Auf die Frage, ob die Epidemie sich gerade weiter ausbreitet oder nicht, gibt es in diesem Fall also letztlich keine eindeutige Antwort. Für Fachleute bleibt es wichtig, die verschiedenen R-Werte zu beobachten - im Rahmen von Nachrichten halten wir es aber zur Zeit nicht für sinnvoll, hier tägliche Wasserstände zu vermelden.
    Internationale Vergleiche und Höchstwerte
    Viele andere Länder sind weit stärker von der Coronavirus-Pandemie betroffen als Deutschland. Die Lage dort geht uns ebenfalls an, einerseits weil wir über die Situation der Menschen in diesen Ländern informieren wollen, andererseits weil auch Deutschland indirekt und mittelfristig von diesen Entwicklungen mit betroffen bleibt. Die Berichterstattung aus dem Ausland besteht ebenfalls zu einem großen Teil aus Zahlen, und auch hier gilt es, die Daten einzuordnen.
    In absoluten Zahlen führen die USA die Statistiken an: Sie sind das Land mit der höchsten Zahl an Infizierten und auch mit den meisten Todesfällen im Zusammenhang mit Covid-19. Um die Lage in Ländern vergleichen zu können, ist es allerdings sinnvoll, die Daten ins Verhältnis zur Einwohnerzahl zu setzen.
    Das Bild stellt sich dann etwas anders dar: Bei der Zahl der Infektionen je 100.000 Einwohnern liegen lateinamerikanische Staaten wie Peru und Brasilien vor den USA. In Europa gibt es im Verhältnis zur Einwohnerzahl besonders viele festgestellte Infektionen in Schweden, Spanien und Großbritannien. Die meisten Toten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl wurden weltweit bislang in Peru und in Spanien registriert.
    Registrierte Corona-Fälle im Verhältnis zur Einwohnerzahl: USA vor Schweden und Spanien
    Registrierte Corona-Fälle im Verhältnis zur Einwohnerzahl in ausgewählten Staaten (dpa Grafik)
    Eine weitere Schwierigkeit bei solchen Vergleichen ist die sehr unterschiedliche Verbreitung und Nutzung von Tests - was sich natürlich auf den Umfang der Dunkelziffer auswirkt. Auch sind das Meldewesen und nicht zuletzt die Bereitschaft von Behörden, Zahlen ungeschönt zu veröffentlichen, sicherlich verschieden ausgeprägt. Dennoch bleibt der internationale Vergleich in einer Pandemie interessant und wichtig - man sollte sich nur der Einschränkungen und Unwägbarkeiten bewusst sein.
    Abschließende, genaue Zahlen wird es in vielen Bereichen wenn überhaupt erst dann geben, wenn diese Pandemie ausgestanden ist. Aber das hilft einer halbstündlich sendenden Nachrichtenredaktion natürlich nur bedingt.
    (Beitrag aktualisiert am 22.8.2020, zuerst veröffentlicht am 9.6.2020)