"Bis zum Frühjahr 1924 lebte in Berlin ein junger Mensch, dessen Erscheinung die Männer und Frauen seines Bereiches erfreute, ohne dass sie seinem Wesen tiefer nachforschten. Erst als er fortging, erregte er bei einigen ein schwer zu erklärendes Abschiedsweh. Bei denen ändert sich jetzt Miene und Tonfall, wenn sie von ihm sprechen, sie denken oft an ihn und ordnen ihn in Zusammenhänge und Schicksale ein, die er kaum gestreift hat."
Dieser junge Mensch ist das heimliche Zentrum des schmalen Romans "Heimliches Berlin", den Franz Hessel 1927 veröffentlicht hat. Wendelin von Domrau ist aber sicherlich nicht die Hauptfigur. Er steht im Mittelpunkt insofern, als sich die anderen Figuren um ihn ordnen, an ihn anlehnen oder um ihn kreisen, ihn zum Schüler oder zum Verbündeten machen wollen. Er hat etwas Anziehendes, das die anderen Figuren zu sich selbst kommen lässt.
Franz Hessels Geschichte spielt im alten Westen Berlins, in einer mondänen Gesellschaft, die aus lauter eigensinnigen Gestalten besteht: Kauze, Lebemänner und –damen, Tagträumer und Glückssucher. Es sind nur zwei Tage, die in dieser kurzen Geschichte Platz haben, aber in dieser Zeit passiert in und vor allem zwischen den Figuren so viel, dass man es hier nur schwerlich nacherzählen kann. Zuweilen lässt es sich auch gar nicht recht fassen, weil es sich eben in einem Zwischenraum abspielt, der offen ist für Stimmungen und viele feine Nuancen. Das Wichtigste: Karola, die Frau des Gelehrten Clemens Kestner, möchte mit Wendelin aus ihrem Alltag flüchten und auf eine Reise gehen. Durch Geschick und Sanftmut gelingt es ihrem Mann aber, sie von diesem Schritt abzuhalten. Clemens ist das Alter Ego Franz Hessels, der in der Literaturszene der zwanziger Jahre kein Fixstern war, aber dennoch viele andere zum Leuchten brachte: Er arbeitete als Lektor im Rowohlt-Verlag, betreute eine vielbändige Balzac-Ausgabe, übersetzte zusammen mit seinem Freund Walter Benjamin Prousts "Recherche". Er schrieb wunderschöne Feuilletons und Kritiken, importierte aus Paris, wo er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gelebt hatte, den urbanen Flaneur nach Berlin. Er veröffentlichte kleine Prosabände, die so leicht und unbeschwert wirkten, dass man dahinter durchaus ein aufreibendes, vielleicht sogar melancholisches Leben vermuten durfte. Franz Hessel war mit Helen Grund verheiratet, die 1925 nach Paris ging, um mit Henri Pierre Roché zusammenzuleben – aus dieser Dreiecksgeschichte entstand Rochés Roman "Jules und Jim", dessen Verfilmung von Francois Truffaut berühmt geworden ist. Franz Hessel duldete die Liebeswirrungen seiner Frau, so schmerzhaft sie waren. Er duldete sie so ähnlich wie sein Held Clemens in "Heimliches Berlin", dem er aber ein Talent mitgab, das er selber nicht besaß: durch seine Geduld und durch eine sanfte Hinterlist schließlich doch zu obsiegen.
"Ach, vielleicht liebt der Zuschauer noch in weiterem Umfange als der Liebhaber. Er wird eins mit allen Dingen, die die Geliebte berührt, er ist ihr Lager, ist die Luft, die sie atmet, ist alles, was der Liebhaber begehrend verdrängt. Und am Ende liebt er den Liebenden mit und fängt, ein seltsamer Polyphem, beide, Acis und Galathea, in seinem Netz."
Hessel stattet seinen Clemens mit viel Ruhe und Weisheit aus. Er kommt den Besuchern in seiner Wohnung als Untermieter vor, so bescheiden tritt er in Erscheinung. Eine Philosophie des Alltags und des Sehens hat Franz Hessel in sein Büchlein verpackt. Und eine Gesellschaftskomödie. Auch ein Porträt der damaligen Gegenwart, die schon wie etwas Vergangenes und Bewahrenswertes erscheint. Das Heimliche an diesem Berlin im "Alten Westen" ist, dass es schon für die Zeitgenossen nicht mehr recht greifbar ist, dass es sich noch in Nischen versteckt hält, zu dem nur sensible Menschen wie Clemens Zugang haben. Zudem enthält der Kurzroman eine kleine poetologische Selbstauskunft, die Hessel natürlich seinem anderen Ich – Clemens – in den Mund legt:
"Ich brauche nicht in Läden zu treten, mir genügen Schaufenster, Auslagen, die riesigen Stillleben von Würsten und Weintrauben, rosa Lachs, Melonen und Bananen, gespreitete Stoffe, schlängelnde Krawatten, schmiegende Pelze, lastende Lederjacken. Mir genügt das Schauspiel der Aus- und Eingänge. Drehtüren schaufeln mir Diplomaten und Herzoginnen, junge Boxer und Dollartöchter zu. Ich brauche nicht in den großen historischen Film zu gehen, mir genügen die Renaissancebausche, Koller und Trikots der bunten Bilder am Eingang, Reklamen an Hinterhauswänden längs der Stadtbahn, in Wartehallen und auf Glassscheiben der Untergrundwagen, Titel, Aufschriften, Gebrauchsanweisungen, Abkürzungen, da hast du ja das ganze Gegenwartsleben, ablesen kannst du es im Vorübergehn, brauchst nichts anzufassen, es zerfiele dir doch nur in den Händen zu grauer Asche der Vergangenheit."
Die Sprache Hessels wirkt für heutige Leser leicht parfümiert: elegant und ein bisschen gespreizt. Sie hatte schon in ihrer Zeit etwas aus der Zeit Gefallenes. Sie hatte nichts zu tun mit dem forciert modernen Duktus mancher Autoren wie Döblin, sie hatte gar nichts von der Neuen Sachlichkeit. In ihr macht sich der Einfluss des Französischen bemerkbar – umherschweifende Sätze, die manieriert und zugleich sehr schön sind und trotz aller Verliebtheit in die Sprache doch auch sehr präzise.
"Zeitgemäß erzählst du gerade nicht, sondern mehr wie zur Zeit der Zeit, die noch Zeit hatte."
Heißt es einmal leicht ironisch in einem der vielen Dialoge – und es ist auch eine selbstironische Bemerkung. Hessel wusste um seine Stellung; er wusste um seine eigentümliche Zeitgenossenschaft, die sich aus älteren Schichten nährte: Er stand mitten in der Gegenwart, aber sein Blick kam aus der Vergangenheit. Er war am Puls der Zeit, aber er ging mit ihr in verlangsamtem Tempo. Eben wie ein Flaneur, der bekanntlich so durch die Straßen geht, als würde er eine Schildkröte spazieren führen.
"Heimliches Berlin" ist eine schöne Wiederentdeckung. Die Ausgabe des Düsseldorfer Lilienfeld Verlags ist zudem noch mit einem erhellenden Nachwort von Manfred Flügge versehen, der Anfang der neunziger Jahre ein Buch über die wahre Geschichte hinter "Jules und Jim" veröffentlicht hat. "Heimliches Berlin" ist ein kleines Werk zwischen all den Hochkarätern, die in den 1920er Jahren entstanden sind. Aber dafür in seiner Bescheidenheit umso liebenswerter.
Franz Hessel: Heimliches Berlin.
Mit einem Nachwort von Manfred Flügge.
Lilienfeld Verlag. Düsseldorf 2011. 153 Seiten. 18,90 Euro
Dieser junge Mensch ist das heimliche Zentrum des schmalen Romans "Heimliches Berlin", den Franz Hessel 1927 veröffentlicht hat. Wendelin von Domrau ist aber sicherlich nicht die Hauptfigur. Er steht im Mittelpunkt insofern, als sich die anderen Figuren um ihn ordnen, an ihn anlehnen oder um ihn kreisen, ihn zum Schüler oder zum Verbündeten machen wollen. Er hat etwas Anziehendes, das die anderen Figuren zu sich selbst kommen lässt.
Franz Hessels Geschichte spielt im alten Westen Berlins, in einer mondänen Gesellschaft, die aus lauter eigensinnigen Gestalten besteht: Kauze, Lebemänner und –damen, Tagträumer und Glückssucher. Es sind nur zwei Tage, die in dieser kurzen Geschichte Platz haben, aber in dieser Zeit passiert in und vor allem zwischen den Figuren so viel, dass man es hier nur schwerlich nacherzählen kann. Zuweilen lässt es sich auch gar nicht recht fassen, weil es sich eben in einem Zwischenraum abspielt, der offen ist für Stimmungen und viele feine Nuancen. Das Wichtigste: Karola, die Frau des Gelehrten Clemens Kestner, möchte mit Wendelin aus ihrem Alltag flüchten und auf eine Reise gehen. Durch Geschick und Sanftmut gelingt es ihrem Mann aber, sie von diesem Schritt abzuhalten. Clemens ist das Alter Ego Franz Hessels, der in der Literaturszene der zwanziger Jahre kein Fixstern war, aber dennoch viele andere zum Leuchten brachte: Er arbeitete als Lektor im Rowohlt-Verlag, betreute eine vielbändige Balzac-Ausgabe, übersetzte zusammen mit seinem Freund Walter Benjamin Prousts "Recherche". Er schrieb wunderschöne Feuilletons und Kritiken, importierte aus Paris, wo er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gelebt hatte, den urbanen Flaneur nach Berlin. Er veröffentlichte kleine Prosabände, die so leicht und unbeschwert wirkten, dass man dahinter durchaus ein aufreibendes, vielleicht sogar melancholisches Leben vermuten durfte. Franz Hessel war mit Helen Grund verheiratet, die 1925 nach Paris ging, um mit Henri Pierre Roché zusammenzuleben – aus dieser Dreiecksgeschichte entstand Rochés Roman "Jules und Jim", dessen Verfilmung von Francois Truffaut berühmt geworden ist. Franz Hessel duldete die Liebeswirrungen seiner Frau, so schmerzhaft sie waren. Er duldete sie so ähnlich wie sein Held Clemens in "Heimliches Berlin", dem er aber ein Talent mitgab, das er selber nicht besaß: durch seine Geduld und durch eine sanfte Hinterlist schließlich doch zu obsiegen.
"Ach, vielleicht liebt der Zuschauer noch in weiterem Umfange als der Liebhaber. Er wird eins mit allen Dingen, die die Geliebte berührt, er ist ihr Lager, ist die Luft, die sie atmet, ist alles, was der Liebhaber begehrend verdrängt. Und am Ende liebt er den Liebenden mit und fängt, ein seltsamer Polyphem, beide, Acis und Galathea, in seinem Netz."
Hessel stattet seinen Clemens mit viel Ruhe und Weisheit aus. Er kommt den Besuchern in seiner Wohnung als Untermieter vor, so bescheiden tritt er in Erscheinung. Eine Philosophie des Alltags und des Sehens hat Franz Hessel in sein Büchlein verpackt. Und eine Gesellschaftskomödie. Auch ein Porträt der damaligen Gegenwart, die schon wie etwas Vergangenes und Bewahrenswertes erscheint. Das Heimliche an diesem Berlin im "Alten Westen" ist, dass es schon für die Zeitgenossen nicht mehr recht greifbar ist, dass es sich noch in Nischen versteckt hält, zu dem nur sensible Menschen wie Clemens Zugang haben. Zudem enthält der Kurzroman eine kleine poetologische Selbstauskunft, die Hessel natürlich seinem anderen Ich – Clemens – in den Mund legt:
"Ich brauche nicht in Läden zu treten, mir genügen Schaufenster, Auslagen, die riesigen Stillleben von Würsten und Weintrauben, rosa Lachs, Melonen und Bananen, gespreitete Stoffe, schlängelnde Krawatten, schmiegende Pelze, lastende Lederjacken. Mir genügt das Schauspiel der Aus- und Eingänge. Drehtüren schaufeln mir Diplomaten und Herzoginnen, junge Boxer und Dollartöchter zu. Ich brauche nicht in den großen historischen Film zu gehen, mir genügen die Renaissancebausche, Koller und Trikots der bunten Bilder am Eingang, Reklamen an Hinterhauswänden längs der Stadtbahn, in Wartehallen und auf Glassscheiben der Untergrundwagen, Titel, Aufschriften, Gebrauchsanweisungen, Abkürzungen, da hast du ja das ganze Gegenwartsleben, ablesen kannst du es im Vorübergehn, brauchst nichts anzufassen, es zerfiele dir doch nur in den Händen zu grauer Asche der Vergangenheit."
Die Sprache Hessels wirkt für heutige Leser leicht parfümiert: elegant und ein bisschen gespreizt. Sie hatte schon in ihrer Zeit etwas aus der Zeit Gefallenes. Sie hatte nichts zu tun mit dem forciert modernen Duktus mancher Autoren wie Döblin, sie hatte gar nichts von der Neuen Sachlichkeit. In ihr macht sich der Einfluss des Französischen bemerkbar – umherschweifende Sätze, die manieriert und zugleich sehr schön sind und trotz aller Verliebtheit in die Sprache doch auch sehr präzise.
"Zeitgemäß erzählst du gerade nicht, sondern mehr wie zur Zeit der Zeit, die noch Zeit hatte."
Heißt es einmal leicht ironisch in einem der vielen Dialoge – und es ist auch eine selbstironische Bemerkung. Hessel wusste um seine Stellung; er wusste um seine eigentümliche Zeitgenossenschaft, die sich aus älteren Schichten nährte: Er stand mitten in der Gegenwart, aber sein Blick kam aus der Vergangenheit. Er war am Puls der Zeit, aber er ging mit ihr in verlangsamtem Tempo. Eben wie ein Flaneur, der bekanntlich so durch die Straßen geht, als würde er eine Schildkröte spazieren führen.
"Heimliches Berlin" ist eine schöne Wiederentdeckung. Die Ausgabe des Düsseldorfer Lilienfeld Verlags ist zudem noch mit einem erhellenden Nachwort von Manfred Flügge versehen, der Anfang der neunziger Jahre ein Buch über die wahre Geschichte hinter "Jules und Jim" veröffentlicht hat. "Heimliches Berlin" ist ein kleines Werk zwischen all den Hochkarätern, die in den 1920er Jahren entstanden sind. Aber dafür in seiner Bescheidenheit umso liebenswerter.
Franz Hessel: Heimliches Berlin.
Mit einem Nachwort von Manfred Flügge.
Lilienfeld Verlag. Düsseldorf 2011. 153 Seiten. 18,90 Euro