Manfred Götzke: Im Bundestagswahlkampf hat sie im keinen der Wahlprogramme gefehlt: die Ganztagsschule. Fast jede Partei will die Betreuung ausbauen, die SPD forderte sogar einen Rechtsanspruch. Was ein solcher quasi flächendeckender Rechtsanspruch kosten würde, dass hat jetzt die Bertelsmann-Stiftung durchgerechnet und auch mal geguckt, wie es heute aussieht mit der Ganztagsversorgung in Deutschland.
Autor der Studie ist Dirk Zorn. Herr Zorn, Sie haben festgestellt, dass sich der Ganztagsschulausbau in den letzten 15 Jahren vervierfacht hat, die Plätze sind vervierfacht, schon mal eine gute Leistung der Schulsysteme?
Dirk Zorn: In der Tat ist das sehr beachtlich und wahrscheinlich eines der größten Reformprojekte im schulischen Bildungsbereich des letzten Jahrzehnts. Wenn wir sehen, dass Anfang der 2000er-Jahre nur jedes zehnte Kind ganztägig lernen konnte und wir inzwischen 40 Prozent Kinder im Ganztag haben, ist das eine beachtliche Kraftanstrengung, die gelungen ist.
Götzke: Die Eltern wünschen sich aber noch mehr Ganztag als das, was momentan möglich ist.
Zorn: Das ist richtig. Die von uns zitierte repräsentative Umfrage der Jako-O-Bildungsstudie vom Anfang dieses Jahres hat ermittelt, dass sich mehr als 70 Prozent aller Eltern, genau 72 Prozent einen solchen Ganztagsschulplatz für ihr Kind wünschen.
"Das erfordert natürlich erhebliche auch finanzielle Investitionen"
Götzke: Was müssten die Schulsysteme, was müsste der Staat leisten, um da hinzukommen?
Zorn: Wir haben ja es mit dem Problem oder mit der Herausforderung zu tun, dass die Schülerzahlen wieder steigen. Das bedeutet natürlich, wenn man die Zahl der Schüler im Ganztag steigern will, muss man jetzt noch eine Schippe oben drauflegen.
Wir ermitteln einen Bedarf an zusätzlichen Ganztagsschulplätzen von 3,3 Millionen, um 80 Prozent aller Schüler ein ganztägiges Lernen zu ermöglichen bis zum Jahr 2025.
Das erfordert natürlich erhebliche auch finanzielle Investitionen, allein für bauliche Maßnahmen, um Ganztagsräumlichkeiten zu schaffen an den Schulen, wären dafür mindestens 15 Milliarden Euro fällig bis 2025. Und dazu kommen natürlich erhebliche Zusatzkosten für das erforderliche pädagogische Fachpersonal, also Lehrkräfte und Erzieherinnen beispielsweise. Das summiert sich auf 2,8 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr.
"Wenn man Ganztag machen will, dann sollte man ihn gut machen"
Götzke: Das sind enorme Summen und auch sehr ambitionierte Pläne wären das. Halten Sie das für realistisch, dass das in noch nicht mal acht Jahren zu schaffen ist?
Zorn: Nun, wir haben ja in unseren Berechnungen zunächst mal die Politik beim Wort genommen. Praktisch alle großen Parteien haben ja im Bundestagswahlkampf sich dafür ausgesprochen, im Bereich der Grundschule einen Rechtsanspruch einzuführen auf einen Ganztagsschulplatz.
Unsere Berechnungen, die wir heute vorgelegt haben, bieten der Politik nun eine Grundlage, abzuschätzen, welche Implikationen ein solcher Rechtsanspruch hätte. Wir sagen ganz klar: Wenn man Ganztag machen will, dann sollte man ihn gut machen. Guter Ganztag heißt für uns auf jeden Fall auch eine Beteiligung von Lehrkräften in außerunterrichtlichen Angeboten, denn nur dann ist eine adäquate individuelle Förderung von Schülern möglich und nur so kann das Lernen profitieren und die Kompetenzen von Schülern gesteigert werden.
"Politik kommt ohnehin nicht darum herum, sich der Qualitätsfrage zu stellen"
Götzke: Beim Kita-Ausbau gab es ja auch einen solchen Rechtsanspruch, oder den gibt es immer noch. Damit wurde der Ausbau forciert. Aber, das sagen viele Leute gesagt und viele Experten sagen das immer noch, auf Kosten der Qualität. Ist das nicht auch zu befürchten, wenn man jetzt so rapide den Ganztag an den Schulen ausbaut?
Zorn: Der Ganztag wurde ja auch schon in der Vergangenheit rapide ausgebaut, da in der Tat an vielen Orten eher mit Blick auf Kapazitäten als mit Qualität. Mein Eindruck ist, dass, wenn Ganztag normaler wird, das Qualitätsthema ohnehin dann stärker im Raum steht.
Das heißt, Politik kommt ohnehin nicht darum herum, sich der Qualitätsfrage zu stellen, auch mit Blick auf die Ergebnisse des IQB-Ländervergleichs vom vergangenen Freitag. Da glauben wir, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt wäre, gerade an Grundschulen endlich in gute Ganztagsschulen zu investieren, also in multiprofessionelle Teams, in mehr Lern- und Förderzeiten.
Denn nur so können Lehrkräfte der steigenden Vielfalt im Klassenzimmer gerecht werden, wenn sie auch auf Unterstützung von anderen Professionen zurückgreifen können und Entlastung finden bei erzieherischen Aufgaben, sodass sie sich auf ihr Kerngeschäft, nämlich guten Unterricht wieder konzentrieren können.
Götzke: Nicht ganz einfach, wenn wir einen bundesweiten Grundschullehrermangel haben, wie momentan.
Zorn: Da haben Sie vollkommen recht. Die Herausforderung ist mit Sicherheit nicht kleiner geworden angesichts eines schon bestehenden Lehrermangels im Bereich Grundschule und angesichts des erwarteten Anstiegs der Schülerzahlen. Gleichzeitig gilt: Wenn ich ohnehin Maßnahmen kurzfristiger Natur treffen muss, um dem Lehrermangel zu begegnen, wäre mein Votum hier, das Rad gleich eine Nummer größer zu drehen.
"Nicht überall, wo Ganztag draufsteht, ist im gleichen Umfang Ganztag drin"
Götzke: Sie haben in Ihrer Studie auch ausgewertet, in welchen Ländern der Ganztag wie weit ausgebaut ist. Und da kommt man zu sehr interessanten Erkenntnissen: In Hamburg sind es fast 90 Prozent Ganztagsschulabdeckung, in Bayern 16 Prozent. Ist der Ganztag in Bayern politisch nicht gewollt oder von den Eltern einfach nicht erwünscht?
Zorn: Wir zitieren in den von Ihnen erwähnten Zahlen ja die amtliche Statistik der Kultusministerkonferenz. Was sich dahinter verbirgt im Einzelnen, ist sehr, sehr unterschiedlich.
Nicht überall, wo Ganztag draufsteht, ist im gleichen Umfang Ganztag drin. Das ist manchmal eher additive Betreuung am Nachmittag in Hort-Form. In Bayern zum Beispiel sind Ganztagsschulen mit zusätzlichen Lehrkraftstellen versehen, zumindest an den gebundenen Ganztagsschulformen.
Insofern muss man diese Statistik wirklich mit einem Körnchen Zweifel betrachten. Gleichwohl gilt natürlich, dass die Akzeptanz ganztägigen Lernens sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.