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Ausbeutung befürchtet
Fast 6.000 minderjährige Flüchtlinge werden vermisst

5.835 minderjährige Flüchtlinge sollen in Deutschland 2015 verschwunden sein. Zu Jahresbeginn hatte das Bundesfamilienministerium mehrere Hinweise darauf noch verneint. Hilfsorganisationen und Polizeibehörden befürchten Zwangsprostitution und Ausbeutung.

    Flüchtlingskinder am 25. September 2015 - Minderjährige sind auf der Flucht besonders gefährdet.
    Flüchtlingskinder am 25. September 2015 - Minderjährige sind auf der Flucht besonders gefährdet. (dpa / picture-alliance / Bernd von Jutrczenka)
    Die neue Zahl gehe aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Parlamentsanfrage hervor, berichten die Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag). Demnach seien von 8.006 als vermisst gemeldeten minderjährigen Flüchtlingen bisher 2.171 wieder aufgetaucht. "Die vermissten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge kommen überwiegend aus Afghanistan, Syrien, Eritrea, Marokko und Algerien", heißt es in dem Papier des Bundesinnenministeriums.
    45.000 unbegleiteten minderjährige Flüchtlinge in Deutschland
    Unter den Vermissten seien 555 Kinder. Als Kind gilt in Deutschland, wer jünger als 14 Jahre ist. Gründe für das Verschwinden nannte das Bundesinnenministerium nicht. Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) ging Ende 2015 in einer Mitteilung davon aus, dass sich 45.000 Flüchtlinge im Kinder- und Jugendalter unbegleitet in Deutschland befinden.
    Die Grünen-Politikerin Luise Amtsberg sprach angesichts der fast 6.000 Vermissten von einer alarmierend hohen Zahl. Es bereite ihr Sorgen, dass die Bundesregierung "die Gefahren durch Zwangsprostitution und Ausbeutung nicht ernsthaft in Betracht zieht", sagte Amtsberg den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Anfang Februar hatte das Bundesfamilienministerium noch mitgeteilt, dass es keine belastbaren Hinweise gebe, nach denen in Deutschland Tausende alleinreisende Flüchtlingskinder verschwunden sein könnten. In diesem Zusammenhang verwies das Ministerium auf "Vielfachzählungen" oder andere Registrierungsfehler.
    Mehrere Hinweise in den vergangenen Monaten
    Doch mehrere Behörden melden seit Monaten besorgniserregende Zahlen. Die EU-Polizeibehörde Europol sprach Ende Januar von 10.000 minderjährigen Flüchtlingen, die in den beiden vergangenen Jahren innerhalb Europas verschwunden seien und nannte das "eine vorsichtige Schätzung". Besonders in Italien würden bis zu 5.000 Kinder und Jugendliche vermisst. Auch in Schweden fehlte zum damaligen Zeitpunkt bei bis zu 1.000 Minderjährigen die Kenntnis über ihren Verbleibs.
    "Dies bedeutet nicht, dass allen etwas passiert ist. Ein Teil der Kinder könnte sich tatsächlich mittlerweile bei Verwandten aufhalten. Aber es bedeutet, dass diese Kinder zumindest potenziell gefährdet sind", sagte ein Sprecher von Europol damals. Der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, nannte die Europol-Zahlen ein "besorgniserregendes Warnsignal".
    Laut Frankfurter Rundschau stellte das Bundeskriminalamt zudem bereits im Februar fest, dass am 1. Januar 2016 4.749 unbegleitete Flüchtlinge im Kindes- und Jugendalter in Deutschland als vermisst galten. 431 davon seien jünger als 13 Jahre gewesen. Ein halbes Jahr zuvor waren es den Angaben zufolge noch 1.637. Die nun vom Bundesinnenministerium genannte Zahl von 5.835 vermissten Kindern und Jugendlichen bedeutet damit eine deutliche Steigerung. Dem BKA liegen nach eigenen Angaben keine konkreten Erkenntnisse darüber vor, ob und in welchem Umfang Kinder und Jugendliche in die Hände von Kriminellen geraten sind. Dies kann demnach aber auch nicht ausgeschlossen werden.
    Europol beklagt "kriminelle Infrastruktur", die von Flüchtlingen profitiert
    Brian Donald, Stabschef von Europol, sagte im Februar in der britischen Zeitung Guardian, dass es Beweise für sexuellen Missbrauch mancher Kinder und Jugendliche auf der Flucht gebe. "Es hat sich eine gesamte kriminelle Infrastruktur gebildet, die vom Migrantenstrom profitiert", sagte Donald. Manche Schleuserbanden wären dazu übergegangen, Flüchtlinge für Sexarbeit und Sklaverei auszunutzen. Europol schätzt, dass 27 Prozent aller ankommenden Flüchtlinge minderjährig sind. Natürlich sind nicht alle von ihnen unbegleitet. "Doch wir haben Hinweise, dass es ein großer Anteil von ihnen ist", sagte Donald.
    Ende März hatten mehrere Europa-Abgeordnete in einem Brief darauf hingewiesen, dass verschollene minderjährige Flüchtlinge womöglich Opfer von paneuropäischen Banden würden, die sie für Sexarbeit, Sklaverei oder Organhandel missbrauchten.
    Gesetzesänderung im November betrifft Minderjährige
    Viele junge Flüchtlinge haben sich alleine auf den Weg nach Deutschland gemacht. Wer sie als vermisst gemeldet hat, ist unklar. Das internationale Rote Kreuz hat bereits Suchaktionen im Netz organisiert. Die Große Koalition hatte im November mit einer Gesetzesänderung angekündigt, die Unterbringung, Versorgung und Betreuung minderjähriger Flüchtlinge zu verbessern. Diese werden nun wie Erwachsene über eine Quotenregelung (Königssteiner Schlüssel) bundesweit verteilt. Zuvor galt das Prinzip der Unterbringung am Ankunftsort.
    Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beklagte damals allerdings "erhebliche Verschlechterungen für junge Flüchtlinge". Er kritisierte, dass vor der Verteilung keine rechtliche Vertretung bestellt werden könne und Familienzusammenführungen innerhalb Deutschlands so für die Minderjährigen schwer durchsetzbar seien. Das Gesetz trat am 1. November 2015 in Kraft.
    (nch/jcs)