Der Anteil der zuerst in Indien entdeckten sogenannten Delta-Variante des Coronavirus macht in Deutschland bislang nur einen Anteil von wenigen Prozent der untersuchten Proben aus. In Großbritannien hat sich die Variante dagegen zuletzt stark ausgebreitet und deckt inzwischen mehr als 90 Prozent der Neuinfektionen ab. Die derzeitige Lage sei "sehr besorgniserregend", so der britische Regierungschef Boris Johnson.
Eine neue Studie aus Schottland, die in der Fachzeitschrift "Lancet" veröffentlicht wurde, zeigt jetzt: Eine Infektion mit der Delta-Variante verdoppelt das Risiko, im Krankenhaus behandelt werden zu müssen. Zudem scheinen Impfungen etwas weniger wirksam zu sein.
Der Immunologe Carsten Watzl betonte aber im Dlf, Geimpfte seien der Mutation nicht hilflos ausgeliefert. Die Delta-Variante entgehe dem Immunschutz etwas, sodass sich die unterschiedlich hohe Wirksamkeit der Impfstoffe bezogen auf Ansteckung und Erkrankung jeweils um einige Prozentpunkte verringere. Gegen einen schweren Verlauf böten aber alle Impfstoffe einen sehr guten Schutz - auch bei der Delta-Variante. Wichtig sei allerdings ein vollständiger Impfschutz, so Watzl: "Die erste Impfung schützt gerade bei dieser Mutante nicht sehr effizient vor einer Infektion und Erkrankung, und von daher kann man nur appellieren, dass sich die Leute auch ihre zweite Impfdosis abholen."
Watzl leitet den Forschungsbereich Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund und verfolgt das Infektionsgeschehen in Großbritannien aufmerksam. Er rechnet nicht mit einer starken neuen Welle dort über den Sommer. Auch für Deutschland bestehe die Hoffnung, dass die Ausbreitung der Delta-Variante hier über den Sommer niedrig gehalten werden könne, sagte Watzl. Dafür sollten auch in Innenräumen weiterhin Masken getragen werden. Im Herbst werde die Delta-Mutante nach Einschätzung des Immunologen dann auch in Deutschland zur vorherrschenden Variante werden. Um dafür eine gute Ausgangslage zu haben, sollten sich die Menschen unbedingt zweimal impfen lassen.
Das Interview im Wortlaut:
Lennart Pyritz Welche Eigenschaften machen die Delta-Variante ansteckender?
Carsten Watzl: Generell gibt es da zwei oder drei verschiedene Sachen. Das eine ist – das wissen wir von der Alpha-Mutante, also der britischen Mutante –, da war die Viruslast in den infizierten Leuten höher, und wenn ich mehr Virus in mir trage, kann ich das Virus auch mehr verbreiten. Und das andere ist direkt, wie gut das Virus an unsere eigenen Körperzellen andocken kann, und auch das scheint bei dieser Delta-Variante etwas erhöht zu sein. Und letztendlich, wie ich das bestimme, mache ich durch diese Haushaltskontakte, also dass ich gucke, wie viel Haushaltskontakte ein Infizierter anstecken kann, wenn er halt mit der Delta-Variante infiziert ist, im Vergleich zu den anderen Varianten.
"Den Mutanten nicht hilflos ausgeliefert"
Pyritz: Da geht es dann um Durchschnittswerte sozusagen, weil das sind ja dann keine extra aufgesetzten Studien für immer das gleiche Umfeld, sondern da geht es um Durchschnittswerte, wie viele Kontaktpersonen in ihrem engsten Umfeld eine infizierte Person ansteckt.
Watzl: Genau, das ist so das Beste, was wir haben, wissenschaftlich, um so eine höhere Infektiosität zu bestimmen. Das Allerbeste wäre natürlich, wenn man das Virus nehmen würde und absichtlich damit Leute infizieren würde und dann gucken würde, wie viel Virus brauche ich dafür. Das sind aber Studien, die ethisch sehr problematisch sind. Die werden mit dem Ursprungsvirus in Großbritannien durchgeführt, bei den Mutanten wird das aktuell noch nicht gemacht.
Pyritz: Es gibt ja auch Hinweise darauf, dass Impfstoffe schlechter gegen die Delta- als gegen andere Corona-Varianten wirken, wirken könnten. Zeichnet sich dieser Effekt bei allen Impfstoffen gleichermaßen ab, also bei Vektorimpfstoffen wie zum Beispiel Astrazeneca und bei mRNA-Impfstoffen wie dem von Biontech/Pfizer?
Watzl: Im Prinzip schon, also sprich, diese Delta-Mutante entgeht dem Immunschutz, den die Impfstoffe erzeugen, etwas. Nicht ganz so stark wie die Südafrika-Mutante. Man muss aber sagen, man ist trotz Impfung dann diesen Mutanten nicht hilflos ausgeliefert. Um das mal konkret in Zahlen zu fassen: Bei dem Impfstoff von Biontech hab ich ja eine Effektivität von gut 90 Prozent, und die fällt dann halt bei dieser Delta-Mutante auf knapp unter 90 Prozent, da waren wir so bei 88 Prozent in einer Studie. Bei Astrazeneca hab ich halt einen Impfschutz, da fange ich schon etwas geringer an, der liegt halt so bei guten 60 Prozent, 66 Prozent, und das fällt dann halt runter auf 60 Prozent. Das heißt, wenn ich schon mit viel anfange, dann hab ich auch natürlich noch viel Schutz übrig, wenn ich mit etwas weniger anfange, da bin ich auch etwas weniger geschützt. Aber das ist halt der Schutz vor der Infektion beziehungsweise vor der Erkrankung.
"Die erste Impfung schützt nicht sehr effizient"
Pyritz: Das bezieht sich auf die Situation nach der zweiten Impfung.
Watzl: Das bezieht sich alles auf die Situation nach der zweiten Impfung, weil man muss hier ganz klar sagen: Man sieht hier, dass diese Mutante besonders gut ist, Leute zu infizieren, die einen nicht vollständigen Impfschutz haben – entweder weil sie noch gar nicht geimpft sind oder weil sie nur einmal geimpft sind. Also die erste Impfung schützt gerade bei dieser Mutante nicht sehr effizient vor einer Infektion und Erkrankung, und von daher kann man nur appellieren, dass sich die Leute auch ihre zweite Impfdosis abholen.
Pyritz: Dass die Impfstoffe schlechter wirken, bezieht sich das auf das Risiko zu erkranken oder auf das Risiko lebensbedrohlicher Verläufe? Das ist ja noch mal ein entscheidender Unterschied.
Watzl: Das ist ein ganz entscheidender Unterschied. Und und was bei den meisten Studien gemessen wird, ist wirklich die Erkrankung, aber nicht die schwere Erkrankung, weil man davon meistens sehr wenige Fälle hat in solchen Studien. Und da zeichnet sich aber auch ab, dass der Schutz vor der schweren Erkrankung noch mal deutlich besser ist, das heißt, da liegen wir bei nahezu allen Impfstoffen bei 80, über 90 Prozent, in diesem Rahmen. Das heißt, der Schutz vor der schweren Erkrankung bei vollständiger Impfung ist auch gegen die Delta-Mutante gegeben.
"Auch bei uns wird sich diese Variante durchsetzen"
Pyritz: Aus dem aktuellen Corona-Variantenbericht von "Public Health England", da geht hervor, dass in Großbritannien zwölf Menschen trotz vollständiger Impfung an einer Infektion mit der Delta-Variante gestorben sind, außerdem sieben weitere Menschen, die einmal geimpft waren. Sind das mehr Fälle unter Geimpften als bei anderen Varianten, können Sie das einordnen?
Watzl: Es sind im Moment natürlich noch sehr wenige Fälle. Man muss sagen, wir haben ja jetzt schon Millionen von Menschen, die schon zweimal geimpft sind, und je mehr wir haben, desto mehr werden wir auch solche Fälle sehen, weil wir wissen, dass die Impfung halt nicht bei jedem funktioniert. Es gibt bestimmte Vorerkrankungen, wo der Impferfolg sehr schwach ist, und dementsprechend sind auch nicht alle Leute geschützt. Und wir wissen ja auch aus den Studien, dass der Schutz halt nicht 100 Prozent ist, und dementsprechend sieht man halt leider auch Todesfälle unter Leuten, die sich trotz zweimaliger Impfung infizieren. Da sich jetzt die Delta-Mutante natürlich in Großbritannien durchgesetzt hat und die vorherrschende Variante ist, werden natürlich jetzt auch die meisten Todesfälle bei den zweifach Geimpften mit dieser Mutante verursacht werden. Da sehe ich im Moment aber noch kein Alarmsignal, ehrlich gesagt.
Pyritz: Führt eine Infektion mit der Delta-Variante insgesamt eher ins Krankenhaus, sei es jetzt bei Geimpften oder auch Ungeimpften, also zu schwereren Verläufen? Gibt’s da erste Hinweise?
Watzl: Das ist im Moment noch nicht geklärt, weil da muss man wirklich noch die Daten abwarten. Das hat ja auch eine Weile bei der Alpha-Mutante gedauert, bis man das wusste. Im Moment gibt’s da noch keine belastbaren Daten, von daher kann man das im Moment leider noch nicht sagen.
Pyritz: Wenn Sie bei dieser Datenlage trotzdem so eine Art Fazit wagen würden, hat die Delta-Variante das Potenzial dafür, sagen wir mal zunächst in Großbritannien eine neue Infektionswelle auszulösen?
Watzl: Wir sehen aktuell, dass die Fallzahlen in Großbritannien etwas ansteigen, und wir sehen auch, dass sich die Delta-Variante dort mittlerweile durchgesetzt und die bisher vorherrschende Variante, diese Alpha-Variante verdrängt hat. Es wird wahrscheinlich nicht zu einer sehr starken neuen Welle in England jetzt über den Sommer kommen, aber so als Vorhersage für uns muss man sagen, auch bei uns wird sich diese Variante durchsetzen. Wir sind im Moment noch in der glücklichen Lage, dass das Virus zwar hier ist, diese Variante, aber noch nicht sehr stark verbreitet ist, und die Hoffnung besteht, dass wir das auch über den Sommer relativ niedrig halten können. Im Herbst glaube ich aber schon, dass das die vorherrschende Variante auch bei uns sein wird.
"Masken im Innenbereich nicht schon wegfallen lassen"
Pyritz: Wie schätzen Sie denn vor dieser Prognose oder diesem Hintergrund die aktuelle Diskussion um ein Ende oder zumindest eine Lockerung der Maskenpflicht hier in Deutschland ein?
Watzl: Also die Masken im Außenbereich kann man sicherlich wegfallen lassen bei diesen niedrigen Inzidenzen. Im Innenbereich, wo wir wissen, dass dort natürlich auch viele Infektionen stattfinden, gerade wenn Leute den Sicherheitsabstand nicht einhalten können, wäre ich immer noch relativ vorsichtig. Das heißt, da sollte man nicht generell die Masken schon wegfallen lassen – einfach vor dem Hintergrund, dass wir es schaffen müssen, dass sich hier über den Sommer diese Variante bei uns jetzt noch nicht so stark ausbreitet.
Pyritz: Und wenn wir da nach auf andere Maßnahmen neben dem Masketragen schauen, welche Maßnahmen sollten wir auf jeden Fall beibehalten, um die Ausbreitung der Delta-Variante auch in Deutschland eben einzudämmen oder im Griff zu behalten?
Watzl: Man muss natürlich gucken, dass man jetzt verantwortungsvoll lockert, sprich, wenn wir ganz große Veranstaltungen durchführen, wo sich Leute sehr nahe kommen, ist natürlich auch bei geringer Inzidenz die Wahrscheinlichkeit, dass einer von den Personen infiziert ist, doch gegeben. Dementsprechend, gerade bei Großveranstaltungen, muss man halt gewisse Hygienekonzepte durchaus noch haben, sprich, dass man die Leute vielleicht vorher testet. Das wäre so eine Maßnahme, die ich noch als sinnvoll erachten würde. Und mein Appell wäre natürlich, weil wir wissen, dass die zweifache, also vollständige Impfung auch vor dieser Variante schützt, dass die Leute jetzt nicht dem Irrtum erliegen, zu denken, die Pandemie wäre hier in Deutschland vorbei, weil im Sommer jetzt die Inzidenzen so niedrig sind, und sie müssen sich nicht mehr impfen lassen. Also mein Appell ist schon, dass sich möglichst viele auch zweimal impfen lassen, damit wir dann für den Herbst eine gute Ausgangslage haben.
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