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Ausbreitungsstrategien von Tieren
Milben nutzen Schneckendarm als Mitfahrgelegenheit

Offenbar gibt es einen Weg, mit dem sich träge Tiere wie Milben viel schneller ausbreiten können als bisher angenommen. Dazu benutzen sie ausgerechnet die als langsam verschrienen Schnecken als Verkehrsmittel.

Von Volker Mrasek |
    Eine Nacktschnecke kriecht über einen Weg.
    Mit 50.000-facher Geschwindigkeit kommen die Milben durch die Schnecken voran. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    So eine glitschige Nacktschnecke mit ihrer Schleimspur - das allein genügt, um bei vielen Ekel auszulösen. Manfred Türke musste noch viel mehr aushalten. Im Auenwald sammelte der Biologe nicht nur Dutzende der schleimigen Weichtiere ein. Wochenlang stocherte er auch noch in ihren Exkrementen herum, in einem Labor am Deutschen Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig. Das sah so aus:
    "Die Schnecken separiert in einzelne Döschen, abkoten lassen, nach einem Tag den Kot abgesammelt und den dann unter dem Mikroskop teilweise bis zu drei Stunden pro Schnecke ganz fein zerteilt und immer wieder aufgeschwemmt. Es stinkt wirklich eklig."
    Im Schneckenkot suchte Türke nach winzigen Hornmilben, die Boden und Blattstreu in Wäldern bewohnen. Die meisten dieser achtbeinigen Spinnentiere sind nicht einmal einen Millimeter lang.
    "Sie heißen Hornmilben, auf Englisch auch Panzermilben, weil sie extrem stark gepanzert sind. Panzer mit Beinen."
    Klein, schwerfällig und äußerst lahm sind diese Bodenbewohner. Ihr Aktionsradius im Wald? Minimal!
    "Das sind halt am Tag unter einem Zentimeter und bis maximal so zwei Zentimeter je nach Art."
    Doch offenbar gibt es einen Weg, auf dem sich die trägen Tiere viel schneller ausbreiten können. Dazu benutzen sie ausgerechnet die als langsam verschrienen Schnecken als Verkehrsmittel. Und zwar endozoochor, so der Fachjargon:
    "Ich wandere in einem Tier quasi heißt das."
    Wenn die Nacktschnecken Moose, Flechten und Bodenkrume wegputzen, nehmen sie unweigerlich auch Hornmilben mit auf. Und die überleben offenbar mehrheitlich die Passage durch den Verdauungstrakt der Schnecken, wie Manfred Türke bei seinen kniffligen Kot-Analysen herausfand.
    "Also, 70 Prozent von diesen Schnecken hatten Milben in sich. Und von diesen 135 Milben, die insgesamt rauskamen, waren 70 Prozent am Leben."
    Vielleicht lassen sich die hartleibigen Winzlinge ja sogar absichtlich von den schleimigen Schnecken fressen.
    "Nur eine Art, die sich ausbreitet kontinuierlich immer wieder, die wird überleben auf Dauer. Das heißt, viele Arten zeigen eigentlich ein Ausbreitungsverhalten. Und deswegen wäre es nicht einmal abwegig, wenn die Milbe quasi ein Risiko kalkulieren kann: Ich hab' 70 Prozent Wahrscheinlichkeit zu überleben. Wenn ich jetzt selber loslaufe, sind überall Räuber! Es wäre rein theoretisch möglich, dass sie mitbekommt, dass eine Schnecke in der Nähe ist, und vielleicht weiter hoch in die Vegetation geht, um gefressen zu werden. Denn in der Schnecke ist sie quasi in einem feindfreien Raum."
    Manchmal sind die Milben mehr als zwei Tage lang im Bauch des Schnecken-Shuttles unterwegs, bevor es heißt: "Bitte aussteigen!" Dabei sind sie um ein Vielfaches schneller als zu Fuß. Auch hier hat der Leipziger Biologe nachgerechnet.
    "In einer richtig schnellen Schnecke - ja, die können 15 Meter an einem Tag zurücklegen - das wäre für die kleinsten Milben, die langsamsten, eine gut 50.000-fache Geschwindigkeit. Für so eine Milbe ist es quasi, wenn eine Schnecke vorbeikriecht, etwa so, als würde ein ICE vorbeidonnern."
    Von wegen Schneckentempo! Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Ökologie in Marburg riefen diese Beobachtungen kürzlich großes Erstaunen hervor. Auch bei der Zoologin Kerstin Heidemann von der Universität Göttingen, die selbst über Hornmilben forscht.
    "Das ist total neu und spannend. Das ist so etwas, damit rechnet einfach keiner. Vor allem, wie viele da überlebt haben. So eine Darmpassage, da passieren ja Zersetzungsprozesse. Und das die das so überstehen, das ist schon spannend."
    Vielleicht ist das Phänomen sogar noch viel weiter verbreitet. Lebendige Hornmilben konnte Manfred Türkes Arbeitsgruppe auch schon aus dem Kot von Weinbergschnecken isolieren.
    "Genau die gleiche Überlebensrate, 70 Prozent waren am Leben."
    Und auch andere Organismen scheinen von Schnecken schon einmal verspeist und unversehrt wieder ausgeschieden zu werden. Fadenwürmer und Springschwänze zum Beispiel. Womöglich sind die Leipziger Biologen also einer Ausbreitungstaktik unter vielen Tieren auf die Spur gekommen, die bisher - ganz wörtlich - im Dunkeln lag.